09.06.2022

Geopolitik der Brennstäbe

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Geopolitik der Brennstäbe

Auch Atomenergie schafft Abhängigkeiten

von Teva Meyer

Driss Ouadahi, Circus Night, 2014, Öl auf Leinwand, 200 × 250 cm
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Es ist der 24. März 2022, 22.44 Uhr. Auf einem Rollfeld im Frachtbereich des Flughafens Brno-Tuřany in der Tschechischen Republik kommt eine Iljuschin II-76 der Fluggesellschaft Volga-Dnepr zum Stehen. Die Maschine kommt aus Moskau und gehört zu den wenigen russischen Flugzeugen, die seit der Invasion in der Ukraine mit einer Ausnahmegenehmigung noch in den Luftraum der Europäischen Union einfliegen dürfen. Allen anderen ist das seit dem 27. Februar untersagt.

An Bord befinden sich Kernbrennstoffe, die TWEL, eine Tochtergesellschaft des russischen Atomriesen Ros­atom, in ihrer Fabrik in Elek­trostal östlich von Moskau herstellt. Laster warten bereits, um die Fracht zum 50 Kilometer entfernten AKW Dukovany zu bringen. Ähnliche Flüge landeten am 31. März in Brno und am 7. April in Budapest – in einer Zeit, in der die EU-Mitgliedstaaten über ein Embargo für russische Kohle, für Öl, Gas und nicht zuletzt auch Uran debattieren.

Lange Zeit schien es, als sei die zivile Nutzung der Atomenergie gegen geopolitische Spannungen immun. Zumindest behaupteten dies ihre Befürworter seit den 1950er Jahren. Bereits zwei Jahrzehnte vor dem Ölpreisschock von 1973 wurde in den Verhandlungen zum Vertrag zur Gründung der Euro­päi­schen Atomgemeinschaft (Euratom) als ein Ziel genannt, „die übermäßige Abhängigkeit der mächtigen Industrieländer von instabilen Regionen zu verringern“.1

Diese Sichtweise beruht zunächst auf der Annahme, der Uranmarkt unterscheide sich von anderen Rohstoffen und berge nur „geringe geopolitische Risiken“, wie Valérie Faudon erklärt, Generalsekretärin der Société française d’énergie nucléaire (SFEN), der Dachorganisation der französischen Atom­industrie.2 So sei beim Uran, das in 52 Ländern vorkommt, die geografische Konzentration geringer als bei den fossilen Brennstoffen.3

Zudem werde Uran auch in stabilen Staaten wie Kanada, Australien und Südafrika gefördert, was die Risiken ausgleiche, wie sie etwa in Niger bestehen, dem viertgrößten Produzenten der Welt, der in einer instabilen Region liegt. Da das Uran nur etwa 5 Prozent des Endpreises von Atomstrom ausmacht, seien die Folgen eines möglichen Rohstoffpreisanstiegs ohnehin begrenzt.4

Inzwischen scheinen diese Überlegungen allerdings überholt. Seit Mitte der nuller Jahre häufen sich die Anzeichen, die auf eine „Geopolitisierung“ des zivilen Nuklearsektors hindeuten. Der wichtigste Einschnitt war dabei zweifellos das Jahr 2007, als der russische Präsident Wladimir Putin die Atomindustrie seines Landes in einem einzigen Unternehmen, Rosatom, bündelte, um den Weltmarkt zurückzuerobern.

Tatsächlich wird die zivile Atomenergie weltweit inzwischen von einem chinesisch-russischen Duopol beherrscht. Die Strategie des Kremls ist aufgegangen: Durch die Kontrolle von 10 Prozent des Uranbergbaus, 36 Prozent der Urananreicherung, 22 Prozent der Brennstoffherstellung und 36 Reaktorbauprojekten im Ausland beherrscht Rosatom de facto den Weltmarkt. Dank seiner vertikalen Integration und seiner engen Kontakte zu den russischen Botschaften und Handelskammern gehört der Konzern zu den ersten Anlaufstellen für Länder, die einen eigenen Nu­klear­sektor aufbauen wollen.

Die chinesische Regierung wiederum gliederte die Branche in drei Unternehmen: die China National Nuclear Corporation (CNNC), die China General Nuclear Power (CGN) und die State Power Investment Corporation (SPIC). Jedes dieser Unternehmen dient als Plattform für unterschiedliche Technologien. Obwohl die Regierung eine Kooperation wünscht, stehen die drei in der Praxis in Konkurrenz zueinander. CNNC scheint dabei die Oberhand gewonnen zu haben, seit der Konzern ein Komplettangebot nach dem Vorbild von Rosatom zusammengestellt hat.

Doch Aufträge sind rar. Bisher hat nur Pakistan, ein historischer Verbündeter Chinas, CNNC sechs Reaktoren abgekauft, wobei der erste im Juni 2000 und der letzte im März 2022 in Betrieb ging. Versuche, in Großbritannien und Rumänien Fuß zu fassen, blieben erfolglos, nachdem sich die amerikanisch-chinesischen Beziehungen unter Präsident Donald Trump abgekühlt hatten. Dasselbe gilt für Südostasien und Subsahara-Afrika, wo im russisch-chinesischen Wettstreit Moskau die Nase vorn hat. So gewann Ros­atom etwa 2008 den Auftrag für den Bau des AKWs Ruppur in Bangladesch.

Und die USA? Zwischen 1964 und 1974 stammten noch acht von zehn weltweit exportierten Reaktoren entweder direkt von einem US-Unternehmen – wie in Belgien, Brasilien, China, Indien, Mexiko, Schweden, der Schweiz, Spanien, Südkorea oder Taiwan – oder von lokalen Unternehmen, die eine Lizenz von einem US-Hersteller erworben hatten – wie in Frankreich, Deutschland, Japan oder Italien.

Uran aus Kasachstan

Nach der Reaktorhavarie in Three Mile Island 1979 ging es mit der US-Branche jedoch bergab. Drei Jahrzehnte später hat die Verwendung von Schiefergas für die Stromerzeugung die Preise pro Kilo­wattstunde auf ein Niveau gedrückt, mit dem die AKW-Betreiber nicht konkurrieren können. Die Trump-Regierung versuchte zwar 2020 dem Niedergang mit einer neuen Strategie zur „Wiederherstellung von Amerikas Wettbewerbsvorteil bei der Kernenergie“5 entgegenzuwirken. Doch ohne Erfolg.

Die Branche ist durch widersprüchliche Interessen gekennzeichnet. Exelon und Duke Energy, die beiden größten US-AKW-Betreiber, wehren sich gegen jede Beschränkung des Handels mit Russland, denn ihre Profite hängen davon ab, dass sie Brennstoffe von Rosatom beziehen können. Allerdings ignorieren sie damit auch die Warnungen von Forschungsinstituten vor den geopolitischen Risiken.

Auch andere Staaten haben ihre Mühe: Der Bau des AKWs Barakah in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) durch die südkoreanische Kepco blieb ein Einzelfall. Auch die Auftragsbücher der französischen Konzerne sind mit Ausnahme von zwei Druckwasserreaktoren für das britische AKW Hinkley Point kaum gefüllt.

Die beiden Aufsteiger China und Russland konkurrieren derweil um den Zugang zu Uran. Russland verfügt zwar über große Vorkommen, aber ihre Ausbeutung ist wegen der Bodenbeschaffenheit sehr teuer und daher nur eingeschränkt möglich. Das Land produziert nur ein Zehntel dessen, was es für seinen eigenen Verbrauch und zur Erfüllung seiner Verträge im Ausland benötigt.

Dasselbe gilt für China. Dort verfolgt die Regierung die sogenannte Drei-Drittel-Strategie: die inländische Produktion steigern, Abbaugebiete im Ausland kontrollieren und die Versorgung über den Weltmarkt gewährleisten. China und Russland erwerben daher immer mehr Minen in anderen Ländern. Außerdem profitieren sie von niedrigen Uranpreisen, die nach der Katastrophe von Fukushima stark gesunken sind.

Russland verlässt sich dabei vor allem auf Kasachstan, seine bislang einzige ausländische Quelle. In geringem Umfang investiert Moskau aber auch in Tansania und Mosambik. Afrika weckt auch in Peking Begehrlichkeiten. Nachdem ein chinesisches Investitionsprojekt in Niger an zu hohen Betriebskosten scheiterte, wendet sich das Land nun Namibia zu. Dort kon­trol­liert China seit 2019 den gesamten Uransektor und damit immerhin 9 Prozent der weltweiten Reserven. Bisher sind die beiden Konkurrenten nur in der Mongolei aufeinandergeprallt. Dort durchkreuzte Russland Anfang 2010 den chinesischen Plan, eine Mine in der Provinz Dornod im Osten des Landes zu übernehmen.

Neben Konflikten um Uran kommt es auch zu Spannungen bei der Herstellung des Brennstoffs. Es gibt verschiedene Reaktortechnologien, die jeweils eine bestimmte Art von Brennelementen benötigen. Der häufigste Typ ist der Druckwasserreaktor, der 83 Prozent des weltweiten Reaktorparks ausmacht. Ungeachtet der Entwicklung neuer Modelle wird diese Vormachtstellung mittelfristig bestehen bleiben.

Die Funktion dieser Reaktoren setzt drei Stufen der Uranverarbeitung voraus: die Konversion, also eine Art Reinigung des Rohstoffs, die Anreicherung und die Fertigung der Brennelemente. Obwohl die Anreicherung wegen ihrer Rolle bei der Herstellung von Atomwaffen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, stellt sie geopolitisch nur ein minimales Risiko dar. Zwar enthält jedes dritte weltweit verwendete Brennelement Uran, das von Rosatom angereichert wurde, doch die weltweiten Überkapazitäten in diesem Sektor sorgen dafür, dass sich diese Position nicht für machtpolitische Zwecke instrumentalisieren lässt.

Das sieht bei der Brenn­ele­mente­herstellung schon anders aus. Ihre Lieferung per Flugzeug nach Brno im März ist ein Beleg dafür, dass Kraftwerksbetreiber nicht einfach schnell den Lieferanten wechseln können. Jeder Reaktortyp benötigt spezifische Brennelemente unterschiedlicher Größe und Bauart. Die Einführung eines neuen Modells erfordert eine Reihe von Tests und ein längeres Verwaltungsverfahren, um die Betriebslizenz dafür zu erhalten.

Die Reaktoren sowjetischer und russischer Bauart, die sogenannten WWER, sind ein gutes Beispiel für dieses Problem. Außerhalb Russlands gibt es 41 davon, darunter 2 in Finnland, jeweils 4 in der Slowakei und in Ungarn sowie 6 in Bulgarien und in der Tschechischen Republik. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR entwickelte der US-Hersteller Westinghouse Angebote, um solche Reaktoren selbst mit Brennstoff beliefern zu können. Doch technische Hürden sowie das mangelnde Interesse der Betreiber bremsten diesen Elan.

Moskaus Modell: build, own, operate

2015, kurz nach dem Maidan-Aufstand in der Ukraine, finanzierte die Europäische Kommission ein mit 2 Millionen Euro dotiertes Programm in Partnerschaft mit Westinghouse zur „Europäischen Versorgung mit sicherem Kernbrennstoff“. Dabei stand vor allem die ukrainische Atomindustrie im Fokus. Mit einem gewissen Erfolg: Zu Beginn der russischen Invasion im Februar bezogen bereits 6 der 15 ukrai­nischen WWER ihren Kernbrennstoff außerhalb Russlands.

Damit sind die Risiken einer Geopolitisierung der Brennstoffbeschaffung aber nicht aus dem Weg geräumt. Zum einen verringert das bloße Auftreten neuer Anbieter noch nicht die mit dem Wechsel des Lieferanten einhergehenden Probleme. So vergingen von den ersten Tests mit Westinghouse-Brennelementen im tschechischen Temelín bis zur Unterzeichnung eines Liefervertrags im April dieses Jahres fast vier Jahre.

Hinzu kommt, dass Ros­atom den Export von Reaktoren neuerdings mit der Lieferung von Brennstoffen während der gesamten Lebensdauer des Kraftwerks kombiniert. Diese Abo-Lösung überzeugt immer mehr Länder.

Aktuell baut der russische Konzern 20 Reaktoren in zwölf Ländern. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt auch auf die Finanzierungslösung zurückzuführen, die das Unternehmen anbietet, wie zum Beispiel in Akkuyu in der Süd­türkei. Gemäß dem sogenannten BOO-Modell (build, own, operate) baut Ros­atom dort ein Atomkraftwerk, wird Eigentümer, betreibt die Anlage und finanziert das Ganze durch den Verkauf von Strom.

Doch dieses Modell erzeugt neben den Brennstofflieferungen weitere Abhängigkeitsrisiken, etwa finanzieller Art: So macht der für den Bau des AKWs Ruppur aufgenommene Kredit ein Drittel der Auslandsschulden Bangladeschs aus. Zudem gibt es technische Risiken: Aus Mangel an lokalem Fachpersonal ist allein Rosatom für die Einhaltung von Normen und Wartungsarbeiten zuständig.

Und schließlich bestehen auch militärische Risiken: Der Bau des AKWs Astrawez in Belarus durch Rosatom diente etwa als Rechtfertigung für den Aufbau eines Flugabwehrstützpunkts nur 20 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt.

Der Krieg in der Ukraine dürfte für einige Länder, die auf Atomkraft setzen, eine schmerzhafte Erinnerung an geopolitische Realitäten bedeuten. Doch es wäre falsch, dieses Ereignis als schicksalhaften Schlag zu betrachten, der ohne Gegenreaktion bleibt. In Finnland kündigte das Konsortium Fennovoima, das ein von Rosatom gebautes Atomkraftwerk betreiben sollte, Anfang Mai seinen Vertrag mit dem russischen Konzern.

Auch Frankreich überdenkt seine Zusammenarbeit mit Russland, insbesondere in Bezug auf die Verträge über Uran aus der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague, das im sibirischen Tomsk erneut angereichert werden soll. Im Gegensatz dazu hat die Regierung von Viktor Orbán allen Überlegungen eine Absage erteilt, den 12,5 Milliarden Euro teuren Vertrag mit Moskau über den Ausbau des AKWs Paks zu kündigen. Die Iljuschins werden also auch künftig noch in Budapest landen.

1 Louis Armand, Franz Etzel und Francesco Giordani, „Un objectif pour Euratom“, Mai 1957.

2 Valérie Faudon, „Relocaliser en décarbonnant grâce à l'énergie nucléaire“, Fondapol, Paris, Januar 2021.

3 „Uranium 2020: Resources, Production and Demand“, Nuclear Energy Agency, Washington, D. C., 23. Dezember 2020.

4 „Le coût de production de l’électricité nucléaire“, Französischer Rechnungshof, Paris, 2014.

5 „Restoring America’s competitive nuclear energy advantage“, US Department of Energy, Washington,  D. C., 2020.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Teva Meyer ist Dozent für Geopolitik und Geografie an der Université de Haute-Alsace.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Teva Meyer