09.06.2022

Das Ende des nordischen Modells

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Das Ende des nordischen Modells

Das politische Selbstverständnis Schwedens und Finnlands schloss jahrzehntelang Neutralität und Sozialstaatlichkeit ein. Die Werte des Ausgleichs, die im Inneren galten, übertrugen sich in eine internationalistische Außenpolitik. Dieses Prinzip wurde mit dem Nato-Beitrittsgesuch aufgegeben.

von Heikki Patomäki

Driss Ouadahi, Red on White, 2010, Öl auf Leinwand, 190 × 240 cm
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Zu Zeiten des Kalten Kriegs sahen viele die nordischen Länder als vorbildlich aufgeklärte, antimilitaristische Gesellschaften, die dank der Orientierung auf soziale Gerechtigkeit den beiden konkurrierenden modernen Systemen – der USA und der Sowjetunion – moralisch überlegen waren. Als gelungenste Version des skandinavischen Modells und seiner politischen Neutralität galten Schweden und Finnland.

Beide Länder verbindet eine lange Geschichte. Über viele Jahrhunderte hinweg gehörte Finnland zum schwedischen Königreich. Im Zuge der Napoleonischen Kriege musste Schweden jedoch seine finnische Provinz an Russland abtreten. Seit der Abdankung Napoleons im Jahr 1814 hat sich Schweden konsequent aus allen Kriegen herausgehalten und selbst im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 seine Neutralität gewahrt.

Die Abspaltung Finnlands hatte wichtige Veränderungen im Königreich zur Folge, die letztlich zum späteren Aufstieg der Sozialdemokratie führten, wiewohl Schweden bis ins 20. Jahrhundert hinein eine konservative, inegalitäre Gesellschaft blieb.

Finnland führte als autonomes Gebiet des Zarenreichs als erstes Land Europas 1906 das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen ein, doch seine Geschichte verlief nicht friedlich. Die Russische Revolution brachte Ende 1917 die Unabhängigkeit, gefolgt von einem Bürgerkrieg, in dem sich Rote (Sozialdemokraten) und Weiße (Konservative) als erbitterte Feinde gegenüberstanden.

Nach der militärischen Intervention Deutschlands trugen die Weißen schließlich den Sieg davon. Danach griff das unabhängige Finnland mehrfach militärisch in den russischen Bürgerkrieg ein, bevor es 1920 mit Sowjet­russland den „Frieden von Dorpat“ (dem estnischen Tartu) abschloss.

Zwei neue Nato-Mitglieder

Entgegen allen Erwartungen blieb Finnland jedoch demokratisch. Bereits in den 1920er Jahren konnten sich die Sozialdemokraten dank ihrer Wahlerfolge an Regierungskoalitionen beteiligen. Doch dann folgte eine Periode der Unruhen, die 1930 in einem faschistischen Aufstandsversuch gipfelte.

In Schweden gewann hingegen die Sozialdemokratie in den 1920er und 1930er Jahren immer mehr an Boden und übernahm 1932 die Macht. Von da an war die Sozialdemokratische Partei bis 1976 allein oder zusammen mit anderen Parteien ohne Unterbrechung an der Regierung. Dieses sozialdemokratische Schweden wurde zum Leuchtturm des nordischen Modells, indem es beispielhafte soziale Reformen umsetzte. Seine ethisch-politische Führungsrolle artikulierte sich zudem in einer internationalistischen Außenpolitik.

Finnland erlebte den Zweiten Weltkrieg gleich doppelt: Zunächst im sogenannten Winterkrieg 1939/40, als das Land im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion überfallen wurde. Und dann nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion, wobei Finnland ab Juni 1941 aufseiten der Wehrmacht kämpfte. Um 1944 aus dem Konflikt herauszukommen, musste es die Deutschen aus dem Land vertreiben und den Sowjets territoriale Zugeständnisse machen.

In den Jahren danach errangen die Sozialdemokratische Partei und eine neue, weiter links angesiedelte Partei namens Demokratische Volksliga Finnlands große Wahlerfolge. Als einziger nichtkommunistischer Staat schloss Finnland 1948 ein „Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ mit Moskau, lehnte US-amerikanische Hilfe aus dem Marshallplan ab und verpflichtete sich zur faktischen Neutralität.1

1952 hielt der Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Urho Kekkonen von der Zentrumspartei eine berühmt gewordene Rede, in der er die Neutralität Finnlands als Element seiner nordischen Identität definierte.2 Die Rede war ein verzweifelter Ruf nach Frieden und hatte mit ihrer Idee eines „Neutralitätsbündnisses“ vielfältige politische Konsequenzen: ein Schlüsselmoment in der Geschichte des Landes zu einer Zeit, als sozialdemokratische Politik in diesem Teil Europas dominierte, was vor allem für Schweden galt.

In den folgenden Jahrzehnten war es dank Kekkonens Neutralitätspolitik und der sozialen Errungenschaften der finnischen Arbeiterbewegung möglich, nach schwedischem Modell einen umfassenden demokratischen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Dieser war von Wirtschaftswachstum, technologischer Dynamik, Urbanisierung und Abbau sozialer Ungleichheiten gekennzeichnet.

Schwedens aktiv gestalteter Internationalismus war die konsequente Umsetzung progressiver Werte auch in der Außenpolitik. Allerdings rührte der Eindruck einer vorbildlich ra­tio­nalen, aufgeklärten und weitgehend antimilitaristischen Gesellschaftsordnung zum Teil auch darauf, dass die militärische Konfrontation des Kalten Kriegs in Skandinavien viel weniger akut war als etwa in Mitteleuropa.

Obwohl Norwegen und Dänemark der Nato angehörten, während Finnland ein Freundschaftsabkommens mit der Sowjetunion hatte, trat Finnland 1955 dem Nordischen Rat bei, den Norwegen, Schweden, Island und Dänemark 1952 gegründet hatten. Der aus Parlamentsmitgliedern der beteiligten Staaten gebildete Rat schuf eine hoch integrierte Zone mit freiem Personenverkehr und einen gemeinsamen Arbeitsmarkt mit einem einheitlichen Sozialversicherungsystem.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam die Tragfähigkeit des nordischen Modells erneut auf den Prüfstand. Doch die Fragestellung lautete jetzt anders: Gibt es eine soziale und demokratische Alternative zum Konsens der neoliberalen Globalisierung unter der Führung Washingtons?3

Grundlegende Veränderungen hatten sich schon lange vorher vollzogen: In Schweden hatte die Sozialdemokratie 1976 ihre erste Wahlniederlage seit 44 Jahren erlitten, wozu unter anderem die globale Ausrichtung der heimischen Großkonzerne, die Konflikte um die Arbeitnehmerfonds und die Ölkrise beitrugen.

Als die Sozialdemokraten 1982 an die Macht zurückkehrten, bekam der Begriff „dritter Weg“ eine ganz neue Bedeutung: Er stand nicht mehr für einen Kompromiss zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern für einen Kompromiss zwischen „reiner“ Sozialdemokratie und Neoliberalismus. So setzte die Regierung die Liberalisierung als Instrument makroökonomischer Disziplinierung ein, indem sie ihre Währungs- und Zinspolitik immer stärker von den Kapitalmärkten diktieren ließ – was dann mit der vollen Deregulierung der Finanzmärkte endete.4

Dem schwedischen Beispiel folgten alsbald Finnland und Norwegen. Die Deregulierung auf breiter Front löste einen Konjunkturzyklus von Überhitzung und Rezession aus, der zu Beginn der 1990er Jahre in eine schwere Banken- und Währungskrise mündete.

In Finnland fiel die Krise besonders krass aus, weil sie mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Zusammenbruch des Handels zwischen beiden Ländern zusammenfiel. Nach Ende des Kalten Kriegs nahmen die Protagonisten des neoliberalen Wandels nachträglich die „Finnlandisierung“ aufs Korn und kritisierten, das Land hätte sich auf die Seite des Westens und der Sieger im Kalten Krieg schlagen sollen. Wirtschaftsexperten in allen nordischen Ländern verwiesen auf die „Anforderungen der neuen Zeiten“ und erfanden für jedwedes neue Problem eine neoliberale Lösung: Sparprogramme, Steuersenkungen, Privatisierungen, Outsourcing oder privatwirtschaftliche Regeln für den öffentlichen Sektor.

In den 1990er Jahren kam auch ans Licht, dass Schweden während des Kalten Kriegs engste Geheimbeziehungen zur Nato gepflegt hatte. Damals nahm das Land innerhalb Skandinaviens zwar noch eine Führungsrolle wahr, verabschiedete sich jedoch bereits endgültig vom nordischen Modell. Nachdem Schweden im Juli 1991 den Beitritt zur EU beantragt hatte, vollzog Finnland neun Monate später denselben Schritt. In beiden Ländern wurde die Entscheidung im Herbst 1994 in einem Referendum abgesegnet. Die Os­loer Regierung wollte zum gleichen Zeitpunkt in die EU, aber die norwegische Bevölkerung lehnte das in einem Referendum ab.

Finnland und Schweden wurden am 1. Januar 1995 Mitglieder der Europäischen Union. Damit wurde die Identität beider Länder neu definiert. Schweden und Finnland verstanden sich fortan eher als europäisch und westlich statt wie vordem als nordisch und neutral, obgleich beide Zuschreibungen nebeneinander existierten und vielleicht immer noch existieren. Schon damals gab es die ersten Debatten über einen möglichen Nato-Beitritt. Im Übrigen sind beide Länder bereits seit 1994 durch eine „Partnerschaft für den Frieden“ ins atlantische Bündnis eingebunden.

Besonders die finnischen Streitkräfte haben sich inzwischen an die Nato-Standards angepasst. Zuletzt wurden 64 US-amerikanische Kampfjets vom Typ F-35 angeschafft, die atomwaffenfähig sind. In den 2000er und 2010er Jahren beteiligten sich Finnland und Schweden an mehreren Friedensmissionen der Nato; Stockholm unterzeichnete mit der Nato schon 2016 ein „Host Na­tion Support“-Abkommen, das die Unterstützung ausländischer Streitkräfte auf schwedischem Territorium regelt. Finnland vollzog diesen Schritt erst am 24. Mai 2022.

Die Reaktionen auf die russische Invasion der Ukraine spiegeln weitgehend die schrittweise Veränderung wider, die sich in der kollektiven Wahrnehmung, in der Orientierung der Medien und in der Rhetorik der politischen Klasse vollzogen haben – mit dem Resultat eines Rechtsrucks quer durch alle Parteien. Der Krieg in der Ukraine und seine drastische Wirkung auf die öffentliche Meinung in ganz Europa haben die letzten Schritte auf einem Weg, der schon vor langer Zeit eingeschlagen wurde, nur noch beschleunigt.

Der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden wird schwerwiegende Konsequenzen haben, nicht nur für beide Länder, sondern auch für die internationalen Beziehungen in Europa und weltweit. Er bedeutet, zumindest fürs Erste, das Ende des nordischen Internationalismus.

Oft wurde behauptet, für Schweden sei die Neutralität eine Säule der nationalen Identität, während die Position Finnlands eher in pragmatischen Überlegungen und politischem Realismus gründe. In Wahrheit setzte die finnische Außenpolitik auf die Hoffnung, der Kalte Krieg könne überwunden werden, und war tatsächlich auch aktiver und einfallsreicher – wie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zeigte, die erstmals 1975 in Helsinki stattfand. Präsident Kekkonen sah Finnland als „Brückenbauer“ zwischen Ost und West, der sich für Vertrauensbildung und Abrüstung einsetzt, um eine Annäherung der Blöcke zu ermöglichen.

Während sich die nordischen Länder in der Zeit des Kalten Kriegs zu einer pluralistische Sicherheitsgemeinschaft zusammenschlossen und in ihren internationalen Beziehungen die gemeinsame Interessen betonten, wird der bevorstehende Nato-Beitritt die Militarisierung der Gesellschaft vorantreiben – indem er die Überzeugung fördert, militärische Macht könne einen Krieg dank eines überlegenen Abschreckungspotenzials verhindern. Diese Logik beruht auf der Theorie der Abschreckung, einschließlich der atomaren, die wiederum auf der abstrakten Annahme beruht, dass die beteiligten Staaten und Akteure rational handeln.

Die Überlegung, was das Allgemeinwohl erfordert, kommt in solchen Diskursen nicht mehr vor – oder lediglich als die Hoffnung, Stabilität durch Abschreckung herzustellen. Abschreckung bedeutet, denen Angst einzuflößen, die man selbst fürchtet. Die ultimative Form der Abschreckung ist das Gleichgewicht des Schreckens. Neu­tralität wurde im Kalten Krieg zumindest zeitweise als Möglichkeit verstanden, den globalen Konflikt zu verhindern, der die gesamte Menschheit bedrohte.

Dagegen ist die heutige Strategie auf die Perspektive wechselseitig angekündigter Vernichtung verengt. Die Ängste vor Russland gehen außerdem mit der simplen manichäischen Vorstellung vom tapferen Helden einher, der für Freiheit und Demokratie gegen das Reich des Bösen kämpft.

Mit dem Feldzug gegen die Ukraine hat Russland es geschafft, Finnland und Schweden in die Arme der atlantischen Allianz zu treiben. Doch deren Beitrittsanträge bewirken eine weitere Eskalation der Feindseligkeiten zwischen Russland und der Nato wie auch – in geringem Ausmaß – zwischen Russland und der EU. Die Expansion des westlichen Bündnisses nach Osten war ein maßgeblicher Faktor in einem Konflikt, der sich seit den 1990er Jahren sukzessive zugespitzt hat. Seit der Kubakrise 1962 war die Welt einem Atomkrieg nicht mehr so nahe, und jede weitere Eskalation verschärft die Gefahr. In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass eine Nato-Mitgliedschaft die Verpflichtung beinhaltet, an der nuklearen Abschreckung mitzuwirken. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass sich Finnland und Schweden in naher Zukunft für vertrauensbildende Maßnahmen und für Abrüstungsschritte engagieren werden. Die nordische Idee ist Geschichte.

Die Nato-Entscheidung der beiden Länder ist von weltgeschichtlicher Bedeutung. Und das nicht nur, weil damit der Konflikt zwischen dem Westen und Russland zu eskalieren droht. Diese Entscheidung wird auch die Abhängigkeit der Europäischen Union von Washington verstärken. Noch gravierender ist, dass sie den globalen Prozess beschleunigt, der immer mehr auf eine zweigeteilte Weltwirtschaft zuläuft, in der Handelskriege zur Regel und gegenseitige Abhängigkeiten zur Waffe werden.

Die Sorge über eine Ausdehnung der westlichen Militärallianzen ist nicht auf Russland beschränkt. Sie herrscht auch in weiten Teilen der südlichen Hemisphäre und Asiens, wo man sich durch diese Expansion ebenso bedroht fühlt wie Australien und die USA durch die Sicherheitsabkommen, die China mit den Salomonen und anderen ozea­ni­schen Staaten anstrebt.

All diese Entwicklungen erinnern an die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Auch sie können am Ende in eine globale militärische Katastrophe münden.5 Das muss nicht demnächst eintreten, aber solche Ereignisse können einen Sog erzeugen, der womöglich erst in 10 oder 20 Jahren seine volle Wirkung entfalten wird. Es sei denn, der Lauf der Welt nimmt doch noch eine andere Richtung, zum Beispiel durch eine neue Bewegung der Blockfreien. Was Finnland und Schweden betrifft, so stehen sie mit ihrem Streben nach Mitgliedschaft in der Nato nicht auf der richtigen Seite der Geschichte.

1 Diese Annäherungspolitik wurde während des Kalten Kriegs im Westen als „Finnlandisierung“ bezeichnet und gefürchtet.

2 Urho Kekkonen, „Finnlands Weg zur Neutralität“, Düsseldorf (Econ) 1975.

3 Heikki Patomäki, „Beyond Nordic Nostalgia: Envisaging a Social/Democratic System of Global Governance“, Cooperation and Conflict 35 (2), 2000.

4 Magnus Ryner, „Capitalist Restructuring, Globalisa­tion and the Third Way. Lessons from the Swedish Model“, London/New York (Routledge) 2002.

5 Dieses Szenario wird ausgeführt in Heikki Patomäki, „The Political Economy of Global Security. War, Future Crises and Changes in Global Governance“, London/New York (Routledge) 2008.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Heikki Patomäki ist Professor für Internationale Beziehungen und Weltpolitik an der Universität Helsinki.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Heikki Patomäki