07.04.2022

Neutralität, eine Waffe für den Frieden

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Neutralität, eine Waffe für den Frieden

Im Zentrum der ukrainisch-russischen Verhandlungen steht die Neutralität der Ukraine. Das mag wie eine schmerzliche Konzession an Putin aussehen, aber es könnte auch ein Weg zu mehr Entscheidungsfreiheit und ein erster Schritt in Richtung friedlicher Koexistenz sein. Vorausgesetzt, es gibt verlässliche Sicherheitsgarantien.

von Philippe Descamps

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Wenn es zu verhindern gilt, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert, kann nur eine politische Lösung den Frieden wiederherstellen.“ Das Zitat stammt aus einer Rede, die der französische Staatspräsident Charles de Gaulle am 1. September 1966 in Phnom Penh gegen die US-Militärintervention in Vietnam hielt. De Gaulle warb damals für ein Abkommen, das „die Neutralität der Völker Indochinas wie auch deren Selbstbestimmungsrecht gewährleisten sollte“. De Gaulle skizzierte damals eine Lösung, die der Region neun weitere Kriegsjahre erspart hätte.  

Für diese Lösung entschied sich zum Beispiel die Republik Moldau nach dem Transnistrienkrieg, in dem das Land 1992 den von russischen Truppen unterstützten Streitkräfte Transnistriens gegenübergestanden hatte. 1994 verankerte die ehemalige Sowjetrepublik den Status der „dauerhaften Neutralität“ in seiner Verfassung. Und daran hält Moldau trotz wechselnder politischer Verhältnisse bis heute fest. Dagegen hat die postsowjetische Ukraine mehrmals – je nach wechselnden Mehrheitsverhältnissen – ihre Bündnisorientierung geändert.

Am 5. Mai 1992 weigerte sich die Ukraine, dem Vertrag über kollektive Sicherheit beizutreten, der zehn Tage später in Taschkent von Russland, Kasachstan, Armenien, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan unterzeichnet wurde. Damit reagierte Kiew auf die erstmals drohende Unabhängigkeit der Krim, die jedoch durch die Absage eines geplanten Referendums abgewendet wurde. 1996 gründeten Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan und die Republik Moldau die Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung (GUAM), die eine Annäherung an die Europäische Union vorbereiten sollte.

Nach der Rosenrevolution vom November 2003 in Georgien und der Orangen Revolution vom November 2004 in der Ukraine stellten beide Länder einen Antrag auf Aufnahme in die Nato. Frankreich und Deutschland legten jedoch ihr Veto gegen einen festen Zeitrahmen für die Aufnahme ein. Als im Februar 2010 der frühere Regierungschef Wiktor Janukowitsch zum Staatspräsidenten gewählt wurde, erließ er ein Gesetz über die Neutralität der Ukraine, das jede Beteiligung an einem militärischen Bündnis untersagte.

Nachdem das Parlament Janu­ko­witsch im Februar 2014 abgesetzt hatte, annullierte es das Gesetz über die Neu­tra­lität. Ein Gesetz vom Juni 2017 erklärte dann den Beitritt zu EU und Nato zur „strategischen Linie“ der Außen- und Sicherheitspolitik, die im Februar 2019 auch in der Verfassung festgeschrieben wurde. Die Rückkehr zur Neutralität würde deshalb im Parlament eine verfassungsändernde Mehrheit erfordern. Das dürfte nicht leicht sein, was auch für die Einführung dezentraler Strukturen und eines Sonderstatus für die Donbass-Region gilt.

Historisch gesehen waren neutrale Staaten häufig „Pufferstaaten“ – die allerdings auch zum Schlachtfeld der europäischen Mächten werden konnten. Der Vertrag von Paris vom 20. November 1815, der die „förmliche und offizielle Anerkennung der dauerhaften Neutralität der Schweiz“ brachte, sicherte den Eidgenossen zwei Jahrhunderte ohne Krieg. Und als Belgien unabhängig wurde, sahen die Londoner Verträge von 1831 und 1839 „einen unabhängigen und dauerhaft neu­tra­len Staat“ vor. Das bescherte dem neuen Königreich 80 Jahre Frieden – und ersparte ihm zum Beispiel die Verwicklung in den deutsch-französischen Krieg von 1870.

Bis ins 20. Jahrhundert war die Neutralität eine Art Gewohnheitsrecht. Einen rechtlichen Schutzrahmen für kleine Länder schuf das Abkommen von Den Haag vom 18. Oktober 1907. Ein neutraler Staat ist verpflichtet, sich an keinem militärischen Konflikt zwischen anderen Staaten zu beteiligen; als Gegenleistung wird seine territoriale Integrität respektiert. Er darf kriegführenden Staaten auch keine humanitäre oder materielle Unterstützung gewähren oder ihnen die Nutzung seines Hoheitsgebiets gestatten.

Von der Neutralität zu unterscheiden ist die Blockfreiheit, mit der sich während des Kalten Kriegs viele Staaten im Globalen Süden versuchten, dem Einfluss und der Logik einer der beiden Machtblöcke zu entziehen. Die Bewegung der Blockfreien Staaten, die 1956 auf Initiative von Gamal Abdel Nasser, Josip Broz Tito und Jawaharlal Nehru entstand, existiert zwar bis heute, ist aber kaum noch aktiv und umfasst nur noch wenige Länder.

Das einzige europäische Land, das derzeit der Blockfreien-Bewegung angehört, ist Belarus – das paradoxerweise zugleich Mitglied in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist. Dieses Verteidigungsbündnis steht weiterhin unter russischer Federführung, dessen Truppen auch von belarussischem Boden aus in der Ukraine einmarschiert sind. Malta und Zypern haben die Bewegung der Blockfreien Staaten mit ihrem EU-Beitritt verlassen. Die Ukraine, Bosnien-Herzegowina und Serbien haben Beobachterstatus.

Das größte Problem für neutrale Staaten besteht darin, dass ihr Status respektiert wird. 1798 fielen französische Truppen des Direktoriums in die Schweiz ein, ohne sich um deren lange Tradition der Neutralität zu scheren. Am 2. August 1914 forderte Deutschland von Belgien ultimativ ein Durchmarschrecht. Zwei Tage später fielen die Truppen des Kaiserreichs ein, die danach auch die Neutralität Luxemburgs missachteten. Als Garantiemacht des Vertrags von 1831 trat daraufhin Großbritannien in den Krieg ein, um Brüssel zu unterstützen.

Auch Österreich ist nicht in der Nato

Während des Zweiten Weltkriegs hatte Nazideutschland keinerlei Skrupel, gleich eine ganze Reihe neutraler Staaten anzugreifen: Norwegen, die Niederlande, Belgien, Dänemark; das verbündete faschistische Italien war an der Besetzung von Jugoslawien und Griechenland beteiligt. Im Einvernehmen mit den Nazis marschierte die UdSSR 1940 in die baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) sowie ins rumänische Bessarabien ein und versuchte auch Finnland zu erobern. Großbritannien griff Island an, das wie sein dänischer Mutterstaat neutral war. Bulgarien und die Türkei verzichteten vorübergehend auf ihren neutralen Status. In Südostasien wurden 1969 die beiden neutralen Staaten Laos und Kambodscha von der US-Luftwaffe bombardiert und damit in den Vietnamkrieg hineingezogen.

Dennoch konnten mehrere Länder sich ihre Neutralität auch in extrem schwierigen Zeiten bewahren. Das gilt insbesondere für Schweden und die Schweiz während der beiden Weltkriege. Allerdings mussten sich beide Länder die nötigen militärischen Kapazitäten schaffen, um ihr Staatsgebiet im Ernstfall verteidigen zu können. Die abschreckende Wirkung der Milizarmee (Volksheer) der Schweiz ist nicht zu unterschätzen. Im selben Geiste führte Schweden 2017 erneut die 2010 aufgegebene Wehrpflicht wieder ein. Finnland und Österreich waren im Kalten Krieg Pufferstaaten und erlangten Anfang der 1950er Jahre von den beiden Supermächten die Zusicherung, ihre Neutralität zu respektieren. Auch diese beiden Länder waren und sind militärisch gut ausgerüstet.

Für ein kleines Land ist die Neu­tra­lität ein durchaus realistischer Weg, denn sie verleiht diesen Staaten ein außenpolitisches Gewicht, das in keinem Verhältnis zu ihrer demografischen oder wirtschaftlichen Bedeutung steht. Im Bemühen um ein Kräftegleichgewicht und friedliche Koexistenz vermochten sie häufig, einen Dialog zwischen verfeindeten Lagern in Gang zu bringen. Das gilt zum Beispiel für die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die von Juli 1973 bis August 1975 in Helsinki tagte. Deren Schlussakte war die Krönung der europäischen Entspannungspolitik und die Grundlage für einen dauerhaften Frieden in Europa.

Als im Dezember 1991 die Sowjetunion auseinanderbrach, war es dank der KSZE möglich, Belarus, Kasachstan und die Ukraine zur Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag zu bewegen. Das bedeutete die Übergabe der auf ihrem Territorium lagernden Nuklearwaffen, die nach Russland verlegt wurden. Die Gegenleistung war das Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994, in dem Russland, Großbritannien und die USA die Unabhängigkeit, die Souveränität und die Grenzen der Ukraine anerkannten. Es ist daher nur allzu verständlich, wenn Kiew heute deutlich belastbarere Sicherheitsgarantien fordert. Jedenfalls ist eine dauerhafte Neutralität der Ukraine mit der von Russland geforderten Entmilitarisierung des Landes kaum vereinbar.

Seit Ende des Kalten Kriegs haben sich Turkmenistan, die Mongolei, die Republik Moldau und Serbien für die Neutralität entschieden. Dennoch wird die Bedeutung dieses Status häufig verkannt oder sogar unterschätzt. Er ist zwar rein militärisch relevant, lässt aber zugleich einen großen politischen Spielraum. So hat er Schweden, Österreich und Finnland keineswegs gehindert, der EU beizutreten. Die Neutralität verbietet auch keine gemeinsamen Militärmanöver, wie sie Schweden und Finnland mit der Nato und Serbien mit der Nato sowie der OVKS abgehalten haben. Selbst eine Beteiligung an Friedensmissionen und sogar militärischen Einsätzen ist nicht ausgeschlossen, wenn auch nur unter der Voraussetzung, dass sie von der einzigen völkerrechtlich legitimierten Instanz beschlossen wurden: dem UN-Sicherheitsrat.

Seit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 war die Angst der Europäer vor einem expansionistischen Russland noch nie so groß wie heute. Der Einmarsch in die Ukraine hat selbst in den traditionell „neutralen“ Ländern Schweden und Finnen dafür gesorgt, dass die Zustimmung zum westlichen Bündnis sprunghaft zugenommen hat. Der konservative Präsident Finnlands, Sauli Niinistö, rief seine Mitbürger jedoch dazu auf, kühlen Kopf zu bewahren, und auch Schwedens sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson wendet sich gegen die Kriegsstimmung der Opposition: „Würde Schweden in der derzeitigen Lage den Beitritt zur Nato beantragen, so würde man damit diese Region Europas noch weiter destabilisieren und die Spannungen verschärfen.“1

Beide Länder arbeiten jedoch militärisch immer enger mit den USA zusammen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Kooperation auch eine geheime Beistandsvereinbarung umfasst, wie sie Frankreich und die Schweiz 1940 abgeschlossen hatten.

Kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine traf Micheline Calmy-Rey, ehemalige Bundespräsidentin der Schweiz und frühere Vorsitzende des Europarats, eine angesichts des drohenden Krieges ziemlich kühne Feststellung: Um den Werten, die sie verkündet, gerecht zu werden und strategisch Autonomie zu erlangen, müsse die EU eine „neutrale und blockfreie“ Macht werden, „unabhängig und gewaltfrei zwischen den Blöcken“.2

Eine aktive Neutralität wäre in den Augen von Calmy-Rey der ideale Weg, um die Interessen aller Mitgliedstaaten in Einklang zu bringen – ein schwieriges Unterfangen, das in der Födera­tion der schweizerischen Kantone aber gelungen sei: „Eine politische und militärische Macht zu werden, würde es der Europäischen Union erlauben, sich nicht dem einen oder anderen Block zu unterwerfen, dem Druck besser standzuhalten, nicht alles hinnehmen zu müssen, nicht in rhetorischen Beschwichtigungsformeln zu versinken, sich nicht auf eine passive und unbewegliche Haltung zu beschränken.“

Unter diesem Vorzeichen könnte man dem ukrainischen Willen, der EU beizutreten, leichter entsprechen. Und selbst eine Kandidatur der Schweiz wäre nicht mehr undenkbar.

1 Reuters, 9. März 2022.

2 Micheline Calmy-Rey, „Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild“, Zürich (NZZ Libro) 2020.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Philippe Descamps