07.04.2022

Die Genchirurgen

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Die Genchirurgen

Neue Paradigmen in der Molekularbiologie

von Bruno Canard, Étienne Decroly und Jacques van Helden

Entlaufene Versuchsobjekte, Guangzhou ZHANG ZIWANG/picture alliance/dpa/HPIC
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Die Biotechnologie schreitet schneller voran, als wir deren Nutzen und Risiken gegeneinander abwägen können. Die Gefahren beim Einsatz neuer molekularer Werkzeuge oder die möglichen Folgen einer Freisetzung genetisch veränderter Organismen (GVO) in natürlichen Ökosystemen lassen sich nur sehr schlecht abschätzen.

Damit sind große wissenschaftliche und ethische Herausforderungen verbunden, und die Voraussetzungen, sie zu beurteilen und zu meistern, sind äußerst komplex. Nur sehr wenige Wis­sen­schaft­le­r:in­nen sind in allen betroffenen Gebieten der Biotechnologie ausreichend bewandert, um die Gesamtheit der möglichen Konsequenzen analysieren zu können. Die Forschenden verfügen zudem nur selten über die nötige Distanz, um sämtliche Auswirkungen der von ihnen vorgeschlagenen Experimente überblicken zu können. Zugleich stehen sie unter wachsendem Druck: Sie sollen neue, wirtschaftlich verwertbare Technologien entwickeln und auch noch Forschungsmanagement mit der Akquise zusätzlicher Mittel betreiben.

Seit dem Beginn der Forschung an der DNA verzeichnet die Geschichte der Molekularbiologie eine Reihe von Entdeckungen, die immer gezieltere Eingriffe in das Erbgut ermöglichen. Inzwischen verfügen wir über die Fähigkeit, Lebewesen und den Verlauf ihrer Evolution zu verändern. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna haben 2012 auf der Grundlage von Studien über die Abwehrmechanismen von Bakterien gegen äußere Feinde ein außerordentlich wirksames Werkzeug entwickelt: Crispr/Cas9, die „Genschere“.

Damit lassen sich Gensequenzen präzise verändern, beispielsweise kann man ein Nukleotid gegen ein anderes austauschen (Substitution), ein Stück der Gensequenz herausschneiden (Deletion) oder ein neues Stück am gewünschten Ort einfügen (Insertion). Solche molekularen Eingriffe, Genom-Editierung genannt, gehören mittlerweile zum Standardrepertoire der Forschungslabore.

2020 erhielten Charpentier und Doudna für ihre Entwicklung den Nobelpreis für Chemie. Bei ihrer Dankesrede pries Emmanuelle Charpentier die ungeheuren Möglichkeiten der Methode – und schloss dennoch mit einer Warnung: „Wir könnten auch unglückliche und keineswegs wünschenswerte Experimente erleben.“

Die Crispr/Cas9-Methode wurde zunächst benutzt, um Gene in somatischen Zellen (die Zellen, aus denen unser Körper besteht) zu verändern, doch man kann sie auch für die Zellen der Keimbahn anwenden, aus denen später Eizellen oder Spermien entstehen, und damit die Übertragung der erwünschten genetischen Merkmale auf die Nachkommen sichern.1

Gewöhnlich werden nur im Tiermodell Keimbahnzellen verändert, beim Menschen ist dieser Eingriff nicht zugelassen. Doch die Verfügbarkeit der neuen Technik könnte für Forschende, die auf sensationelle Ergebnisse, Ruhm und Ehre sowie den anschließenden Geldsegen aus sind, gefährliche Ideen liefern. Im November 2018 wurde bekannt, dass der Biophysiker He Jiankui von der Süd-Universität für Wissenschaft und Technik in Shenzhen

erstmals mit Crispr ein menschliches Kerngenom verändert hat. Als Versuchskaninchen dienten durch künstliche Befruchtung entstandene Embryos, deren Väter mit HIV infiziert waren. Mit der Genschere modifizierte Hes Team in einem sehr frühen Stadium das CCR5-Gen, um die Kinder gegen das HI-Virus zu immunisieren, damit sie und ihre Nachkommen nie an Aids erkranken können. Der Eingriff stieß damals auf heftigen Protest in der internationalen Forschung.

Abgesehen davon, dass man nicht weiß, welche negativen Nebenwirkungen dieser Eingriff noch nach sich zieht, etwa eine erhöhte Anfälligkeit für andere Viren, gab es dafür noch nicht einmal eine medizinische Notwendigkeit. Die HIV-Infektion der Babys hätte man auch mit konventionellen Methoden und Medikamenten verhindert können. He wurde dann auch wegen illegaler medizinischer Forschung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.2

Besonders beunruhigend wäre ein möglicher Einsatz der Crispr/Cas9-Methode für den sogenannten Gene Drive.3 Damit kann man die Ausbreitung einer bestimmten genetischen Eigenschaft so beschleunigen, dass sie sich innerhalb weniger Generationen in der gesamten Population verbreitet. Angesichts des hohen Risikos passieren solche Dinge bis heute glücklicherweise nur im Labor.

Die derzeit geltenden Maßnahmen zur Biosicherheit und Abschirmung sollten unbedingt überprüft und nötigenfalls angepasst werden – denn es gibt bereits Planungen, den Gene Drive in freier Wildbahn einzusetzen, etwa bei Insekten. So soll die Anopheles-Mücke durch Genmanipulation an der Übertragung von Malaria gehindert werden, und es sollen Mückenpopulationen verschwinden, die das Dengue-Fieber und andere endemische Erreger in subtropischen Regionen übertragen.

Auch wenn man sich davon erhebliche Vorteile für die menschliche Gesundheit verspricht, stellt doch jede Freisetzung von Lebewesen mit Gene Drive eine neuartige Gefahr für die Artenvielfalt dar. Innerhalb von etwa 20 Generationen würde dies zur vollständigen genetischen Veränderung einer wild lebenden Art führen. Und es besteht das nicht zu vernachlässigende Risiko, dass sich das veränderte Erbgut auch auf Arten überträgt, die nicht im Blickfeld der Forschung standen.

Wie lassen sich die Folgen der Ausrottung einer Art, auch wenn diese als Virusüberträgerin verzichtbar erscheinen mag, überhaupt abschätzen? Und wer sollte bei der Evaluierung mitreden, wenn die Naturwissenschaft selbst zugleich Partei und Richter ist? In der Synthetischen Biologie werden beispielsweise auch Methoden angewandt, mit denen sich ausgehend von einer Gensequenz ein DNA-Molekül herstellen lässt. Daraus geht ein funktionsfähiger Mikroorganismus hervor, der sich fortpflanzen kann.

Erste Experimente begannen 2005. Damals gelang es Terrence Tumpey und seinen Kolleg:innen, das berüchtigte Virus der Spanischen Grippe (A/H1N1) von 1918, die weltweit mindestens 20 bis 50 Millionen Todesopfer forderte, aus konservierten Proben zu rekonstruieren.4

Mittels DNA-Synthese kann man auch ein bestehendes Virus verändern oder Virusfragmente verschiedener Herkunft zu einer sogenannten Chimäre zusammensetzen, wie die Gain-of-function-Forschung demonstriert hat. Bei diesen Experimenten ging es darum, die Übertragbarkeit oder Virulenz von Krankheitserregern zu steigern, um besser zu verstehen, wie sie die Grenzen zwischen den Arten überwinden, um auf dieser Grundlage entsprechende Vorsorgepläne oder Impfstrategien zu entwickeln.

So fanden die Teams von Ron Fouchier und Yoshihiro Kawaoka 2011 heraus, dass das Vogelgrippevirus (H5N1) nach lediglich fünf Mutationen über Aerosole Frettchen infizieren konnte, die im Labor meist als Versuchstiere für die Erforschung der menschlichen Grippe dienen. Der Wildtyp des Vogelgrippevirus überträgt sich dagegen nur durch direkten Kontakt zwischen Vögeln oder vom Vogel auf den Menschen, aber nicht von Mensch zu Mensch.5 Solche Experimente gehen mit einem unglaublich hohen Risiko einher, wenn es sich um potenziell pandemische Viren handelt, deren Ausbreitung bei einem Ausbruch aus dem Labor unkontrollierbar werden könnte – ganz zu schweigen von Bioterrorismus und der Gefahr einer militärischen Nutzung.

Die Arbeiten von Fouchier und Kawaoka sorgten für große Aufregung in der internationalen Virusforschung. Die Fachzeitschriften verhinderten zunächst die Veröffentlichung des Artikels und der Virengenomsequenz. Schließlich wurden die Ergebnisse aber doch noch publiziert. Damals hatte man insbesondere terroristische Bedrohungen im Blick und die Debatten drehten sich vor allem um einen möglichen gezielten Einsatz genveränderter Viren gegen Menschen. Und darum, dass auch ohne zerstörerische Absichten eine zufällige Freisetzung solcher Laborviren eine kaum beherrschbare, weltweite Pandemie hervorrufen kann.

US-Labore wichen nach Wuhan aus

Enthüllungen über Unfälle durch unsachgemäßen Umgang mit potenziell tödlichen Krankheitserregern in US-amerikanischen Forschungslaboren lieferten weiteren Anlass zu Sorge und Kritik. Die USA verhängten 2014 ein Moratorium gegen die Gain-of-function-Forschung, das 2017 auf Druck der Wis­sen­schaft­le­r:in­nen wieder aufgehoben wurde, denn es hatte andere Länder nicht daran gehindert, ihre einschlägigen Experimente fortzusetzen. Das Verbot hatte im Gegenteil manche US-Forschungsinstitute dazu getrieben, ihre Aktivitäten nach China zu verlegen, vor allem nach Wuhan, wo man Coronaviren der Sars-Familie untersuchte. Dazu muss man wissen, dass mit diesen potenziell pandemischen Viren nicht immer in Laboren mit dem höchsten Sicherheitsstandard (P4), sondern auch in deutlich weniger sicheren P3-Laboren experimentiert wird. Und da diese Labore häufig in Großstädten beheimatet sind, hätte eine unbeabsichtigte Freisetzung beträchtliche Auswirkungen.

Eine weitere, besorgniserregende Praxis im Bereich der Virologie ist die Entwicklung sich selbst verbreitender Impfstoffe. Diese könnten in den Lebensräumen wilder Tiere (wie etwa von Fledermäusen), die als natürliche Virusreservoire gelten, freigesetzt werden, um Zoonosen zu verhindern. Wenn solche Vakzine in Form abgeschwächter Viren einmal in die Natur gelangt sind, können sie sich unkon­trol­liert weiterentwickeln und neue Mutationen bilden oder Erbgut mit wilden Viren austauschen und wieder infektiös werden.6

Die neuen Techniken der Molekularbiologie leisten selbstverständlich bedeutende Beiträge zum Verständnis biologischer Abläufe und zur Entwicklung von Impfstoffen und Therapiemolekülen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass man Labore niemals zu 100 Prozent absichern kann.7 Daher scheint es dringend geboten, bestimmte Praktiken besser zu regulieren oder zu verbieten, wie es bereits bei den Experimenten an menschlichen Embryonen geschehen ist.

Auf internationaler Ebene gilt das Cartagena-Protokoll zur biologischen Sicherheit seit 2003 für jeden genetisch veränderten, lebenden Organismus.8 Dieses Zusatzabkommen zur Konvention über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) von 1993 wurde inzwischen von insgesamt 173 Staaten weltweit ratifiziert – allerdings nicht von großen Agrarexporteuren wie Australien, Argentinien, Kanada und den USA.

Es gestattet die Verwendung biotechnologischer Methoden, sofern geeignete Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden. Zudem müssen Risiken ausreichend berücksichtigt werden, die mit der Nutzung und Verbreitung lebender GVO einhergehen, die schädliche Auswirkungen auf die Umwelt haben könnten. Das Protokoll sieht jedoch keine internationalen Kontroll- und Sanktionsmechanismen vor.

Sich selbst verbreitende Impfstoffe

Was auch immer Forschende zu ihren Experimenten antreiben mag: Längst nicht alle technisch möglichen Experimente sollten auch wirklich in die Tat umgesetzt werden. Die wissenschaftliche Community und die Zivilgesellschaft sollten einschlägige Forschungen stets aus allen Blickwinkeln betrachten, um nach strengen Kriterien festzulegen, was die Biotechnologie darf oder und was nicht.

Die jüngste Geschichte lehrt uns, dass die Selbstregulation dieser Disziplin nur sehr unzureichend funktioniert. Die Forschenden haben so ziemlich alles unternommen, um frühere Moratorien und Grenzen aufzuweichen, zu umgehen oder zu überschreiten.

Ihr erklärtes Ziel war es dabei, die Natur besser zu verstehen, um die Entstehung von Krankheitserregern verhindern zu können. Doch ihre Experimente finden in einem System statt, in dem Wis­sen­schaft­le­r:in­nen ihre Ergebnisse publizieren müssen, um in einem extrem harten Wettbewerb zu bestehen und Finanzmittel für ihre Forschung einzuwerben. Dadurch können starke Interessenkonflikte entstehen, für die es eine unabhängige Schiedsstelle braucht. Wir meinen, man sollte dringend ein Moratorium für Gain-of-function-Versuche an potenziell pandemischen Viren, für Gene-Drive-Projekte und sich selbst verbreitende Impfstoffe verhängen.

Eine internationale Konferenz nach dem Vorbild der Klimakonferenzen mit Ver­tre­te­r:in­nen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft könnte ein angemessenes internationales Regelwerk verhandeln. Die Ausarbeitung wissenschaftlicher Projekte muss dabei in einem demokratischen Rahmen erfolgen, in dem alle Bür­ge­r:in­nen Zugang zu wissenschaftlichen Diskussionen haben. Nur durch eine breite demokratische Beratung über die ethischen Fragen, die Wissenschaft und Technik aufwerfen, können wirksame und langfristige Regelungen gefunden werden.

1 Virginie Courtier-Orgogozo u. a., „Evaluating the probability of CRISPR-based gene drive contaminating another species“, Evolutionary Application, 1. März 2020.

2 Owen Dyer, „Chinese researcher who made CRISPR babies is sentenced to three years in prison“, The British Medical Journal, London, Nr. 368, 3. Januar 2020.

3 Andrew Hammond u. a., „A CRISPR-Cas9 gene drive system targeting female reproduction in the malaria mosquito vector Anopheles gambiae“, Nature Biotechnology, London, Januar 2016.

4 T. M. Tumpey u. a., „Characterization of the Reconstructed 1918 Spanish Influenza Pandemic Virus“, ­Science, Washington, D. C., 7. Oktober 2005.

5 M. Imai, T. Watanabe, M. Hatta u. a., „Experimental adaptation of an influenza H5 HA confers respiratory droplet transmission to a reassortant H5 HA/H1N1 virus in ferrets“, Nature, London, 2. Mai 2012.

6 Filippa Lentzos, E. P. Rybicki, M. Engelhard u. a., „Eroding norms over release of self-spreading viruses“, Science, Washington, D. C., 6. Januar 2022.

7 Martin Furmanski, „Threatened pandemics and laboratory escapes: Self-fulfilling prophecies“, Bulletin of the Atomic Scientists, Chicago, 31. März 2014.

8 Das Cartagena-Protokoll über die biologische Sicherheit, ein Folgeabkommen der Konvention über biologische Vielfalt, wurde in Montréal am 29. Januar 2000 unterzeichnet und trat am 11. September 2003 in Kraft.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Bruno Canard und Étienne Decroly sind Forschungsleiter am Forschungsinstitut CNRS und arbeiten im Labor für Architektur und Funktion biologischer Makromoleküle an der Universität Aix-Marseille. Jacques van Helden ist dort Professor für Bioinformatik.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Bruno Canard, Étienne Decroly und Jacques van Helden