10.02.2022

Was Lee verspricht

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Was Lee verspricht

von Nicolas Rocca

Was Lee verspricht
Das Jeonse-System

Ohne Grundeinkommen kann das kapitalistische System nicht weiter normal funktionieren“, verkündete Lee Jae Myung als Gouverneur der Provinz Gyeonggi-do im Dezember 2020 kategorisch. Der aktuelle Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei (DP) will 52 Millionen Süd­ko­rea­ne­r:in­nen monatlich 500 000 Won (367 Euro) auszahlen, was 14 Prozent des Durchschnittseinkommens entspricht.

Der Plan hat sich mittlerweile in ein ambitioniertes Wahlkampfversprechen verwandelt. „Vor Ende meiner Amtszeit werde ich allen zwischen 19 und 29 Jahren 2 Millionen Won (1470 Euro) Grundeinkommen pro Jahr zur Verfügung stellen, und 1 Million (735 Euro) der restlichen Bevölkerung“, versicherte Lee im Juli 2021 in der Nationalversammlung.1

Lee Jae Myungs Engagement für das Grundeinkommen hat mit der spektakulären Automatisierung in der südkoreanischen Industrie zu tun. Bereits vor zwei Jahren kamen 932 Roboter auf 10 000 Beschäftigte – das ist mit Abstand die höchste Rate weltweit.2 Gemäß der herrschenden neoliberalen Lehre soll dieser Prozess durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze in anderen Wirtschaftssektoren kompensiert werden.

Doch daran glaubt Lee nicht. Seiner Meinung nach muss der Übergang ins Digitalzeitalter mit einem Grundeinkommen einhergehen. Die koreanische Gesellschaft – nach 70 Jahren Systemkonflikt mit dem nordkoreanischen Nachbarn eher antisozialistisch eingestellt – ist in dieser Frage gespalten. Immerhin 48,6 Prozent Zustimmung konnte Lees Vorhaben nach einer Umfrage der linksliberalen Tageszeitung Hankyoreh im Juni 2020 verbuchen.3

Lee Jae Myung hat das Grundeinkommen populär gemacht, aber das Konzept stand bereits 2007 im Wahlprogramm der Sozialistischen Partei. Seitdem ist die Idee immer anschlussfähiger geworden, sogar in liberalen Wirtschaftskreisen. „Als 2016 die künstliche Intelligenz AlphaGo den besten Go-Spieler des Landes besiegte, gab es einen kollektiven Aha-Moment, was die Zukunft der Arbeitswelt angeht“, erzählt Lee Won Jae. Der ehemalige Journalist gründete das Lab 2050, eine Denkfabrik für Sozialpolitik, die inzwischen Lobbyarbeit für das allgemeine Grundeinkommen macht: „Ich habe versucht, konservative Politiker und einfluss­reiche Firmenchefs von den Vorzügen dieses Konzepts zu überzeugen.“

Bedingungsloses Grundeinkommen für alle

Die Idee führte sogar zur Gründung einer eigenen Partei. Bei den Parlamentswahlen im März 2020 gewann die erst zwei Monate zuvor gebildete Partei des Grundeinkommens auf Anhieb einen Sitz in der Nationalversammlung. Die sechs Rettungspläne, die die Regierung während der Coronapandemie verabschiedet hat, machten das Konzept endgültig bekannt: Es gab Beihilfen für Familien (bis zu 739 Euro) oder für diejenigen, die von den Maßnahmen besonders betroffen waren (Einzelhändler, Arbeitslose).

„In den 1970er und 1980er Jahren genoss die Arbeit höchste Priorität“, berichtet Choi Hang Sub, Soziologieprofessor an der Kookmin-Universität in Seoul. „Sie garantierte einen besseren Lebensstandard. Seit über 20 Jahren fragen sich die jungen Menschen aber, wofür sie eigentlich arbeiten sollen, wenn sie sich am Ende doch nichts leisten können.“

Präsidentschaftskandidat Lee Jae Myung hat das erkannt. Er stammt aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, fühlte sich in seiner Jugend dem Arbeitermilieu verbunden und baute seine politische Karriere auf der Idee des Grundeinkommens auf. 2018 wurde er Gouverneur der Provinz Gyeonggi-do, die mit 13,5 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Region Südkoreas ist. Dort wollte er seine Idee ausprobieren.

„Es gibt zwei Wege, ein Grundeinkommen einzuführen“, erklärt der Gründer des Lab 2050, Lee Won Jae. „Entweder zahlt man der gesamten Bevölkerung einen geringen Betrag aus, der nach und nach angehoben wird. Oder man gibt zunächst den Ältesten oder den Jüngsten eine höhere Summe und weitet dieses Prinzip dann auf die gesamte Bevölkerung aus.“

In Gyeonggi-do führte der Gouverneur für alle 24-Jährigen, also insgesamt 175 000 Personen, eine finanzielle Unterstützung von 250 000 Won (184 Euro) pro Quartal ein. Um die lokale Nachfrage anzukurbeln, wurde das Geld auf einer Kreditkarte deponiert, die drei Monate lang in ausgewählten Geschäften der Region gültig war.

Nach Angaben des Forschungsinstituts der Provinz, dessen Neutralität allerdings nicht gesichert ist, waren über 80 Prozent der befragten Personen überwiegend zufrieden mit der Maßnahme. Doch „angesichts der geringen Gruppengröße und der kurzen Zeit können wir daraus keine aussagekräftigen empirischen Daten ableiten“, meint Lee Won Jae.

Vergleiche mit ähnlichen Experimenten in Europa sind schwierig. Vor allem was die Finanzierung betrifft, gebe es „eine strukturelle Differenz“, erklärt Lee Jae Myung: „In Südkorea sind die Ausgaben für Sozialleistungen sehr gering, nicht einmal halb so hoch wie in den europäischen Ländern.“ Laut OECD liegt die Sozialleistungsquote in Südkorea bei 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Frankreich sind es 31, in Deutschland 26 Prozent.4

Diesen großen Abstand will der Demokratische Kandidat Lee, sollte er gewinnen, verringern. Selbst wenn alle Süd­ko­rea­ne­r:in­nen pro Jahr 1 Mil­lion Won (735 Euro) bekämen, würden laut seiner Rechnung die Staatsausgaben lediglich um 4 Prozent steigen, und dieser Zuwachs ließe sich durch Steuern kompensieren: „Wir müssen Steuerschlupflöcher begrenzen, eine CO2-Steuer oder Umweltsteuer einführen und eine Steuer auf Eigentum oder auf künstliche Intelligenz erheben.“ Allerdings hat er ein Jahr nach dieser Erklärung manche Finanzierungsinstrumente schon wieder aus seinem Programm gestrichen.

Auch die Idee einer Unterstützungszahlung an alle Südkoreaner:innen, für die er sich wegen der Pandemie ausgesprochen hatte, gab er im November wieder auf. Da er weiter links eingeordnet wird als sein DP-Parteikollege und derzeitige Präsident Moon Jae In, der nicht zur Wiederwahl antreten darf, passte Lee seine Strategie an, um die breite Masse zu gewinnen und auch einen Teil der Opposition zu überzeugen. Seine kontroversen Äußerungen und Medienauftritte und einige öffentlich diskutierte Affären haben seiner Popularität geschadet, ohne jedoch seine Chancen auf den Wahlerfolg schmälern zu können. ⇥Nicolas Rocca

1 „Gyeonggi governor pledges to distribute universal basic income if elected president“, Yonhap News, Seoul, 22. Juli 2021.

2 Milton Guerry, „President’s report“, International Federation of Robotics, 16. Dezember 2021.

3 „Poll reveals South Korean public is split on universal basic income“, Hankyoreh, Seoul, 9. Juni 2020.

4 „Le point sur les dépenses sociales 2020“, OECD, Paris, 20. November 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Das Jeonse-System

von Nicolas Rocca

Während 56 Prozent der südkoreanischen Haushalte auch Eigentümer ihrer Wohnungen sind, zahlen Mieterinnen und Mieter extrem hohe Kautionen. Das System wird „Jeonse“ genannt: Die Mietenden müssen dem Vermieter eine Summe zahlen, die zwischen 50 und 80 Prozent des Werts der Wohnung entspricht.

Meist müssen sie dafür einen Kredit aufnehmen, was den Zugang zu Wohnraum stark vom Zinssatz abhängig macht. Im Gegenzug zahlen sie während der Vertragslaufzeit (im Durchschnitt zwei Jahre) keine Miete. Die Vermietenden legen das Geld an und zahlen bei Vertragsablauf die komplette Summe zurück; sie behalten nur den Gewinn aus der Geldanlage.

Diese Methode galt lange als probates Mittel, im Laufe der Zeit zu Immobilienbesitz zu gelangen, da Mietende sich auf diese Weise Kapital aufbauen können. Das System nahm seinen Aufschwung in den 1960er Jahren, als die Regierung Bankkredite unters Volk bringen und zugleich gegen die Preissteigerungen im Immobiliensektor vorgehen wollte. Inzwischen ist es die Regel. Dazu muss man wissen, dass auf dem Mietmarkt sogar winzige Kammern zwischen 3 und 8 Quadratmeter angeboten werden.

Daneben existiert jedoch auch noch ein klassisches Mietsystem, „Wolse“ genannt, bei dem die Mietenden etwa 10 Prozent des Wohnungswerts als Kaution hinterlegen und jeden Monat Miete zahlen. Die Höhe der Miete schwankt je nach Höhe der Kaution. Dieses System wird immer beliebter, weil die Wohnungsbesitzenden aus den Mieteinnahmen ihre Grundsteuer begleichen können, während die Anlagemöglichkeiten für Jeonse-Kautionen immer weniger rentabel sind.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Nicolas Rocca