10.02.2022

Chinas Arbeiterpunks

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Chinas Arbeiterpunks

Sie sind Kinder des Internets. Mit wilden Frisuren rebellierten die Shamate gegen ein Leben in Armut und ohne Perspektive. Die Bewegung von Bauernkindern, die zum Arbeiten in die Städte zogen, erlebte zur Jahrtausendwende einen enormen Zulauf, bevor ihnen der Hass einer konformistischen Gesellschaft entgegenschlug.

von Frédéric Dalléas

Smart und anders LI YIFAN
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Ausgeflippte, steil hochgegelte Frisuren in Neonfarben, schrille Outfits: So erschienen Mitte der nuller Jahre die Shamate auf der Bildfläche, Jugendliche mit dem Aussehen japanischer Mangahelden, die in der chinesischen Gesellschaft extrem aus dem Rahmen fielen.

Die Bewegung begann mit Luo Fuxing, der 2006 als Elfjähriger japanische und koreanische Musik und Mode für sich entdeckte. Er gehört zur Generation liushou ertong, der „Zurückgelassenen“. Seine Eltern arbeiteten als Wanderarbeiter in den Ballungs­zen­tren an der Küste. Luo wuchs im Bezirk Meizhou, etwa 400 Kilometer von Guang­zhou (Kanton), in der Obhut seiner Großmütter auf. Er verbrachte viel Zeit bei QQ, dem damals bei chinesischen Jugendlichen beliebtesten Instant Messenger, und tummelte sich in mehreren Online-Communitys, von ihren Mitgliedern gern „Clans“ genannt.

Es war auch die Zeit, in der chinesische Jugendliche die „Marsmenschensprache“ erfanden. Sie besteht zum Teil aus Emoticons, wie sie auch im Westen gebräuchlich sind, zum Teil aus verdrehten chinesischen Schriftzeichen, was eine Umgehung der Zensur ermöglichte. Eine junge Gene­ra­tion stellte sich mit großer Leidenschaft der vorherrschenden Kultur entgegen. Anderssein war angesagt. Ein neuer Stil entstand.

Luo Fuxing fühlte sich von verschiedenen Subkulturen angezogen, aber ihren Style fand er zu zahm. Er ließ sich von den Visual Kei inspirieren, japanischen Indie-Musiker:innen mit auftoupierten langen Haaren, schrillen Kostümen und viel Schminke. Er färbte seine Haare leuchtend rot, frisierte sie nach Weltraumkriegerart, zog eine ärmellose Nietenweste an und machte ein Selfie. Ihm fehlte nur noch ein Name für seinen Style, der auch der Style seines Clans werden sollte.

Er transkribierte das englische Wort „smart“ phonetisch ins Chinesische. Heraus kam: shā-mǎ-tè 杀 马 特. Mit diesen drei Zeichen stellte er sein Selfie ins Netz. Innerhalb weniger Tage ging der Neologismus viral. In dieser Kombination tragen die Zeichen keine Bedeutung, doch jedes der Schriftzeichen hat für sich genommen einen Sinn: shā bedeutet „töten“, mǎ ist das Pferd und tè heißt „besonders“. Zusammengenommen ergab sich ein Gefühl wilder Freiheit mit kriegerischem Touch und bezeichnete eine Identität, der sich zahllose junge Chi­ne­s:in­nen anschlossen, die sich selbst halb als Punks, halb als digitale Dandys sahen.

Die Bezeichnung Shamate, ursprünglich den Mitgliedern des von Luo Fuxing gegründeten Clans vorbehalten, wurde zum Namen einer eigenen Subkultur. Ihr Markenzeichen: aufgetürmte Frisuren, am liebsten in knalligen Farben, Igelstacheln auf dem Kopf, extralange Strähnen, die über die Augen hängen, luxuriöse Topfschnitte in Neonpink oder Polarblond. Die Jungs schminkten sich die Augen, trugen Lederkleidung mit Nieten, durchlöcherte Jeans und hautenge T-Shirts; die Mädchen Netzstrumpfhosen oder Kniestrümpfe, Minishorts, breite Gürtel und knappe Oberteile.

Es heißt, Luo Fuxing, der sich im Laufe der Jahre zu einer Ikone der Bewegung entwickelte, habe mehrere QQ-Gruppen mit zehntausenden Shamate-Fans organisiert. Hinter dem ausgeflippten Erscheinungsbild verbargen sich meist Wan­der­ar­bei­te­r:in­nen (nongmingong) der zweiten Generation, die wie vor ihnen ihre Eltern ihre Dörfer verlassen hatten, um in den Küstenprovinzen des Landes nach Arbeit zu suchen. Häufig hieß das Ziel Guangdong, wo die Industriestädte des Perlflussdeltas eine ungebrochene Anziehungskraft auf die armen Bauern aus dem Westen ausüben.

Die „Zurückgelassenen“ litten darunter, dass sie als Kinder im Stich gelassen wurden. Viele von ihnen brachen die Schule schon im Alter von 12 bis 15 Jahren ab. In dem Dokumentarfilm „Shamate – We Were Smart“ von Li Yifan1 sagt einer von ihnen: „Wir glaubten, dass es uns auch nicht weiterbringen würde, weiter in die Schule zu gehen, weil wir ja sowieso in den Fabriken landen würden. Als wir das kapiert hatten, verloren wir jede Motivation zu lernen. Wir wollten nur noch eins: weg aus dem Dorf und sehen, was anderswo passiert.“ Der Film von 2019 besaß keine offizielle Genehmigung und durfte deshalb nicht in den Kinos gezeigt werden. Er lief in Museen, Galerien, Universitäten und Privaträumen, zahllose Raubkopien zirkulierten.

Leicht war es für Li übrigens nicht, Shamate vor die Kamera zu bekommen. Die Idee für den Film hatte er bereits 2012, doch mit den Dreharbeiten konnte er erst 2017 beginnen: „Ich habe komplett unabhängig gearbeitet, mit einem sehr kleinen Budget von etwa 75 000 Dollar.“ Als er in die Welt der Shamate eintauchte, stellte er fest, dass die meisten von ihnen eine ähnliche Lebensgeschichte verband.

Nachdem sie ihr Dorf verlassen hatten, arbeiteten sie – wegen ihres Alters meist illegal – in Fabriken. Häufig war der Kontakt zu den Eltern komplett abgebrochen, selten fanden sich Familien wieder zusammen. Wenn ein Bekannter im selben Betrieb arbeitete, sorgten die Arbeitgeber dafür, dass sie getrennt blieben. Der Arbeitstakt, dem sie unterworfen wurden, war brutal: zwölf Stunden täglich, sechs Tage die Woche, manchmal auch sieben, bei einem Hungerlohn. Es war praktisch unmöglich, sie am Tage zu treffen. Und in den Industrievierteln, wo sie lebten, sind die Straßen nachts kaum beleuchtet, was das Drehen zu einem schwierigen Unterfangen machte.

Li Yifan ließ deshalb die Shamate selbst in ihren Fabriken drehen. Viele solcher Handyvideos sind im Film zu sehen: Aufgenommen an den Fließbändern, geben sie einen ungeschönten Einblick in eine Welt, die lange Zeit verborgen geblieben ist. Es sind Szenen, die an Chaplins „Moderne Zeiten“ erinnern. Nur dass diese zeitgenössische Version noch sehr viel härter und schonungsloser daherkommt. Die Erschöpfung, die Einsamkeit, die Verrohung wird spürbar. Hände, die niemals aufhören dürfen mit dem Greifen, Einpacken, Nähen, Durchbohren, Verleimen … Immer die gleiche Bewegung, tausendfach wiederholt, in rasendem Tempo.

Die Bilder von Fabriken, von armseligen Schlafsälen und im Stehen verschlungenen Mahlzeiten erinnern an die Dokumentation „Bitter verdient“ von Wang Bing,2 die ebenfalls zeigt, welch hohen Preis China für seine wirtschaftliche Transformation zahlt.

Die Jugendlichen sind in den Fabriken eingepfercht, stehen unter ständiger Kontrolle. Selbst um auf die Toilette zu gehen, braucht es die Unterschrift des – meist unauffindbaren – Vorgesetzten. Pausenlos sind sie dem Dreck und dem ohrenbetäubenden Lärm der Maschinen ausgesetzt. Die Shamate-Kultur bietet eine Möglichkeit, auszubrechen, dem Alltag zu entfliehen.

„Wir wussten genau, wie viel wir in einem Jahr verdienen konnten: bestenfalls 40 000 Yuan, also 80 000 Yuan in zwei Jahren (5200 beziehungsweise 10 400 Euro). Das bedeutet, du müsstest zehn, zwanzig Jahre so arbeiten, um dir ein Auto oder eine eigene Unterkunft leisten zu können“, sagt Luo Fuxing. „Irgendwann kommst du zu dem Schluss, dass das alles sowieso unerreichbar ist. Um auf andere Gedanken zu kommen, machst du dir eine Shamate-Frisur. Das ist alles, was du tun kannst.“

Nichts taten die Shamate lieber, als „die Straße zu bombardieren“, wie sie es nannten: Wenn sie als Gruppe durch die Straßen zogen, dann begannen sie in den Augen anderer endlich zu existieren – sie, die Unsichtbaren des „chinesischen Wunders“. In Shipai, einer Stadt in der Region Guangdong, die zur Hochburg der Bewegung wurde, trafen sie sich sonntags auf der Rollschuhbahn, wo sie zu Electro- und Mandopop tanzten, nachdem sie sich in ihrem Lieblingssalon die Haare hatten frisch machen lassen.

Schritt für Schritt gewannen sie ihre Autonomie zurück. Nicht mehr die Fabrik sollte ihr Leben bestimmen. Den Job behielten sie als Einkommensquelle. Wenn sie genug Geld gespart hatten, kündigten sie und verbrachten den Tag mit ihrem Clan, der neuen Familie. Sie zahlten Bier, Reis und gegrillten Fisch für diejenigen, die gerade kein Geld hatten.

Ihre Sichtbarkeit nahm weiter zu. Doch ab Ende der nuller Jahre schlug ihnen immer mehr Ablehnung entgegen. Sie wurden verunglimpft, ihr ­Style wurde parodiert, als vulgär kritisiert und im Internet lächerlich gemacht. Auf der Straße wurden sie Opfer körperlicher Angriffe und ständiger Polizeikontrollen.

Im Internet begannen Trolle ihre Gruppen zu unterwandern. Im Film von Li Yifan erzählt ein ehemaliger Shamate: „Wir hatten im Netz einen Ort gefunden, wo wir uns wohlfühlten. Dort mussten wir niemanden um Erlaubnis bitten, wir hatten unsere Ruhe, waren unter uns. Aber selbst dieses letzte Restchen Freiheit wurde besudelt und mit Füßen getreten.“

Die Gründe für so viel Feindseligkeit gegen die Shamate in den sozialen Netzwerken sind vielschichtig. Manchen waren die Jugendlichen schlicht zu ungeniert, was als Arroganz ausgelegt wurde – etwa als sie forderten, den Shamate den (wenig ruhmreichen) Status der 57. nationalen Minderheit zu verleihen. Für andere waren sie schlicht kiffende Kriminelle, die es zu bekämpfen galt. Li Yifan jedoch benennt den Grund dieser Verfolgung mit einem einzigen Wort: Elitismus. Man nannte die Shamate nicht umsonst „Bauernpunks“.

Li befasst sich seit vielen Jahren mit der Kluft zwischen dem städtischen und dem ländlichen China, und er sieht den Grund für die Verachtung der Shamate in ihrer Herkunft. Fast alle sind in den armen Dörfern von Yunnan, Gansu oder Sichuan aufgewachsen, oft mehrere tausend Kilometer entfernt von den Großstädten, in denen sie dann landeten. Die dortigen Umgangsformen kannten sie nicht. Der kulturelle Graben zwischen den konsumorientierten Städ­te­r:in­nen und diesen Jugendlichen vom Land mit ihren Vorstellungen von Kreativität und Freiheit ist tief.

Die beiden Gruppen leben in grundverschiedenen Welten. Während die einen vom Wirtschaftswachstum profitiert haben, ist bei den anderen nichts davon angekommen. Dabei waren sie es, die dieses Wachstum erarbeitet haben mit einem Leben im Schatten, in endloser, schwerer Arbeit in den Fabriken der „Werkbank der Welt“. Die verblüffenden Fortschritte, die China in materieller Hinsicht, in der Bildung und in der Freizeitgestaltung verzeichnen konnte, kamen hauptsächlich den Stadtmenschen zugute. Auch wenn Präsident Xi Jinping jüngst die „vollständige Ausrottung extremer Armut in China“3 verkündete – in vielen Dörfern hat sich seit zweihundert Jahren kaum etwas verändert.

Für Li Yifan kann es auch gar nicht anders sein, „in einem hierarchischen System, in dem alle öffentlichen Ressourcen in die Machtzentren fließen und sich in den Händen einiger weniger konzentrieren. Und es ist auch das unvermeidliche Ergebnis der Einbindung Chinas in das globale kapitalistische System.“ Zwar räumt er ein, dass diese Strategie auf „die Umsetzung von Großprojekten“ abziele, doch er befürchtet, dass die ländlichen Regionen so noch weiter abgehängt werden, und eine massive Landflucht auch die Städte in Armut stürzen könnte.

In der Kohorte derer, die beim „Chinesischen Traum“, der Xi Jinping so sehr am Herzen liegt, auf der Strecke blieben, gehörten die Shamate zu denen, die sich ihrer Vernichtung entgegenstellten. Sie weigerten sich, zu menschlichen Anhängseln einer unersättlichen Maschinerie zu werden. Von ihnen sind heute nur noch ein paar hundert übrig, doch diese wenigen ­verkörpern weiterhin den Anspruch auf ästhetische Freiheit. Und die ist – in den Worten des Filmemachers Li Yifan – „der Ausgangspunkt jeglicher Freiheit“.

1 Von Li Yifan sind auch die Filme „Fengjie – Vor der Flut“ (2004) und „Chronicle of Longwang: A Year in the Life of a Chinese Village“ (2008).

2 Wang Bing, „Bitter verdient“, China 2016, 152 Minuten.

3 „Xi declares,complete victory‘ in eradicating ab­so­lute poverty in China“, Xinhua, Peking, 27. Februar 2021.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Frédéric Dalléas ist Übersetzer aus dem Chinesischen und Autor von „Sonder l’envers“, (Selbstverlag) 2021.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Frédéric Dalléas