10.02.2022

Plastikmacher

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Plastikmacher

Die verflucht erfolgreiche Petrochemie

von Mickaël Correia

Plastik am Strand, Banten (Indonesien) EKO SISWONO TOYUDHO/picture alliance/anadolu agency
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Alle drei Sekunden landet eine Tonne Plastik im Meer. Zahllose Plastiktüten, die wie Quallen unter der Wasseroberfläche schweben, Styropor­kugeln in Fischmägen, eine Meeresschildkröte, der ein Trinkhalm aus dem Nasenloch gezogen wird: Solche Bilder zeigen, wie verheerend Plastikabfälle allein für die Tierwelt des Meeres sind.

Seit 1950 hat die Plastikproduktion um den Faktor 200 zugenommen. Drei Viertel aller erzeugten Kunststoffe landen auf dem Müll. Und seit China 2018 aus dem internationalen Recycling­geschäft ausgestiegen ist, wird insbesondere Südostasien mit den Haushaltsabfällen aus den reichen In­dus­trie­ländern überschwemmt.1

Aber nicht nur als Abfall schadet Plastik dem Klima. Laut der gemeinnützigen US-Umweltorganisation Center for International Environmental Law (Ciel) sind durch die Kunststoffproduktion und -verbrennung 2019 mehr als 850 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Atmosphäre gelangt. Dies entspricht fast der Menge, die ganz Deutschland im selben Jahr emittiert hat. „Sollte sich die Plastikproduktion und -verwendung bis 2030 wie prognostiziert entwickeln, könnten die Emissionen auf 1,34 Gigatonnen pro Jahr steigen. Das entspricht dem Ausstoß von mehr als 295 Kohlekraftwerken“, so die NGO.2

Plastik wird zu 99 Prozent aus fossilen Basisstoffen hergestellt – entweder aus Naphta, einer bei der Destillation von Erdöl entstehenden Flüssigkeit, oder aus dem in Erdgas enthaltenen Ethan. Da Erdöl und Erdgas hier sowohl als Rohstoff wie als Energieträger dienen, ist die petrochemische In­dus­trie faktisch die energieintensivste Branche der Welt.

Fatih Birol, seit 1995 Chefökonom der Internationalen Energieagentur (IEA) und seit 2015 deren Vorsitzender, wundert sich schon lange darüber, dass dieser für alle Volkswirtschaften immens wichtige Sektor so wenig Beachtung findet: „Die Petrochemie ist einer der großen toten Winkel in der weltweiten Energiedebatte, führt man sich ihre Auswirkung auf künftigen Energietrends vor Augen“,3 schreibt Birol, der auch seit Jahren den wichtigen Welt-Energiebericht (World Energy Outlook) herausgibt.

Nach IEA-Schätzungen dürfte die chemische Industrie zwischen 2020 und 2030 weltweit um ein Drittel wachsen. Schon heute verschlingt sie 14 Prozent der gesamten Erdölproduktion und 8 Prozent des geförderten Erdgases. „Die Petrochemie ist hauptverantwortlich für die Zunahme des Erdölverbrauchs“, heißt es bereits im IEA-Weltenergiebericht 2017.4 Nach optimistischsten Vorhersagen „wird der Verbrauch von Erdöl als petrochemischer Rohstoff bis 2040 auf 3,3 Millionen Barrel pro Tag steigen“ – selbst wenn sich die Recyclingrate von Plastik weltweit verdoppeln sollte.

Bei diesem Tempo werden jährlich mehr als 1 Milliarde Tonnen Plastik den Planeten überschwemmen, und am Ende dieser Entwicklung dürfte mehr Erdöl zur Plastikherstellung verwendet werden als zum Antrieb von Fahrzeugen.

„Bei fast allen in Entwicklung befindlichen neuen Raffineriekapazitäten ist die Integration petrochemischer Verfahren vorgesehen. Dies scheint Teil einer langfristigen Strategie zu sein, die zwei Ziele verfolgt: zusätzliche Gewinne und die Absicherung gegen das befürchtete Risiko, die weltweite Ölförderung könne ihren Höhepunkt erreichen“, so die IEA.

80 Prozent der Petrochemieanlagen, die der gesamte Erdöl- und Erdgassektor bis 2025 errichten will, werden auf dem asiatischen Kontinent stehen. In irrsinnigem Tempo wird ein Bau-, Ausbau- und Umbauprojekt nach dem anderen in Angriff genommen, um Raffinerien auf die Plastikproduktion auszurichten.

Im November 2018 versprach Amin Nasser, CEO des saudischen Erdölgiganten Aramco, in einer Rede vor der Gulf Petrochemicals and Chemicals Asso­ciation, binnen 10 Jahren 100 Mil­liar­den US-Dollar in die petrochemische Industrie zu investieren. „Der enorme Nachfrageschub nach chemischen Produkten öffnet uns ein Zeitfenster mit fantastischen Gelegenheiten. Doch naturgemäß können nur diejenigen, die schnell handeln, maximalen Nutzen aus einem solchen Zeitfenster ziehen.“5

Besonders aktiv ist der Staatskonzern, der 2019 an die Börse ging,6 in Asien. Um hier möglichst schnell viele Plastikfabriken hochziehen zu können, kooperiert Aramco mit regionalen Konzernen. Schon seit den 1990er Jahren seien Aramcos Umsätze im Rohölgeschäft am stärksten in Asien gewachsen, berichtet uns die Historikerin Ellen R. Wald, die über den Konzern forscht.

In Malaysia eröffnete Aramco in einem Joint Venture mit dem Ölmulti Petronas im Industriegebiet von Pengerang im November 2018 eine gigantische petrochemische Anlage. Der an der Straße von Singapur errichtete Komplex mit zahllosen Stahltanks und Schornsteinen erstreckt sich über eine Fläche von 12 000 Fußballplätzen – in einer Region, die für ihre außergewöhnliche tropische Biodiversität bekannt ist. Inzwischen kam es bereits zweimal zu schwerwiegenden Unfällen: Am 12. April 2019 explodierte ein undichter Gastank, wobei zwei Arbeiter verletzt wurden, und am 15. März 2020 starben bei einer Explosion auf dem Gelände fünf Menschen.7

In Neu-Delhi haben sich Aramco und mehrere indische Ölunternehmen im April 2018 schriftlich darauf geeinigt, im Bundesstaat Maha­rash­tra in der Region Konkan für geschätzte 44 Milliarden US-Dollar einen gigantischen Petrochemiekomplex zu bauen. Für das Bauprojekt, das 2025 starten soll, müssen mehrere Quadratkilometer Mangrovenwald weichen, der einer unglaublichen Vielfalt endemischer Arten als Refugium dient. Hier soll eine Fabrik entstehen, in der jährlich 60 Millionen Tonnen Erdöl raffiniert werden.

Auch zu Hause baut Aramco seine Kapazitäten für die Kunststoffherstellung aus. Dabei stützt sich der Ölriese auf das Programm „Vision 2030“ zur Diversifizierung der saudischen Wirtschaft, das Kronprinz Mohammed bin Salman erstmals 2016 vorgestellt hat. Aramco und der japanische Konzern Sumitomo Chemical haben 9 Milliarden US-Dollar investiert, um am Rande der Küstenstadt Rabigh einen ultramodernen Petrochemie-Hub aus dem Boden zu stampfen.

Seit 2017 ist der Standort Petro­Rabigh am Ufer des Roten Meers auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe gewachsen und bedeckt mittlerweile eine Fläche von mehr als 10 Quadratkilometern. Zu dem Komplex, der in Zusammenarbeit mit dem französischen Forschungsinstitut Institut ­Français du Pétrole Énergies nouvelles entstand, gehört auch eine Gated Community für die leitenden Angestellten und deren Familien, mit einer überwachten Wohnanlage, eigenen Schulen, einem Krankenhaus und sogar einem Zoo.

Die riesigen, mit Kunststoff gefüllten Tanks liegen nur knapp 5 Kilometer Luftlinie von den Korallenriffen entfernt, die zu den bedeutendsten und gefährdetsten des Landes zählen. Laut den biogeologischen Untersuchungen, die im August 2020 veröffentlicht wurden, ist an der Westküste der Halbinsel „das Korallensterben in der Nähe von Rabigh am stärksten. Dort sind 65 Prozent der gesamten Korallendecke ausgeblichen oder kürzlich abgestorben.“8 Von den 2,4 Millionen Tonnen chemischer Derivate, die jedes Jahr in Rabigh produziert werden, gehen mehr als 60 Prozent in den Export nach ­Asien und 10 Prozent nach Europa, um in Lebensmittelverpackungen, Bekleidung, Baustoffen und Computerbauteilen verarbeitet zu werden.

Ende 2015 nahm in der Ölstadt Jubail im Osten Saudi-Arabiens eine gigantische Fabrik die Produktion von Polyethylenen auf. Aus diesen chemischen Verbindungen bestehen die gängigsten Kunststoffe, die in der Hälfte der weltweit produzierten Verpackungen stecken. Nach einem diskreten Produktionsstart unmittelbar nach der historischen Pariser Klimaschutzkonferenz wurde der Technologiepark (Baukosten 20 Milliarden US-Dollar) dann ein Jahr später mit großem Pomp eingeweiht.

Bei der Errichtung des 2500 Kilometer langen Pipelinegewirrs nahm die Ölgesellschaft die fachliche und finanzielle Unterstützung des US-Multis Dow Chemical in Anspruch. Als die beiden Marktführer in ihrer jeweiligen Branche hätten sie sich „auf der Basis gemeinsamer Werte und Visionen zusammengetan, um eine Produktionsstätte für chemische Produkte aufzubauen, die in der Industrie ihresgleichen sucht“, heißt es bei Aramco. Seitdem verarbeiten 4300 Mitarbeitende Jahr für Jahr Unmengen fossiler Brennstoffe zu 3 Millionen Tonnen Polymere, die für die Herstellung von Reinigungsmitteln, Kosmetika und andere Güter des täglichen Bedarfs verwendet werden.

In Jubail hat Aramco außerdem eine Partnerschaft mit dem französischen Ölkonzern Total abgeschlossen. Seit 2014 ist die gemeinsame Industrieplattform Saudi Arabia Total Refining & Petrochemical (Satorp) eine der weltweit rentabelsten Raffinerien, in der das Erdöl in Propylen, das Grundmaterial zahlreicher Kunststoffe, in Benzol, das zur Herstellung von Nylon und Kunstharzen gebraucht wird, und in Paraxylol (zur Polyesterfaserproduktion) umgewandelt wird.

Rohöl zu Unterhosen

In der Erwartung, mit dem asiatischen Kunststoffgeschäft fantastische Gewinne einfahren zu können, haben die Teams von Total und Aramco im April 2018 weitere Investitionsverträge über 5,5 Milliarden US-Dollar abgeschlossen, mit denen Satorp vergrößert werden soll. Der neue Petrochemie-Riese namens Amiral soll ab 2024 jährlich 2,7 Millionen Tonnen chemischer Kunststofferzeugnisse produzieren. Die Verarbeitung von Erdöl zu Kunststoff verspricht derart satte Gewinne, dass Total im April 2020 erklärte, Amiral werde von den pandemiebedingten Investitionskürzungen komplett ausgenommen. Damit missachtet der französische Ölmulti das Pariser Klima­schutzabkommen zulasten künftiger Generationen.

Aramcos Börsengang war übrigens schon 2016 für das Jahr 2018 angekündigt und in Finanzkreisen sofort als „Jahrhunderttransaktion“ eingestuft worden. Nachdem der Termin mehrfach verschoben worden war, fand er schließlich Ende 2019 statt. Doch was war eigentlich der Grund für die Verzögerung? Am 27. Januar 2019 bemerkte Amin Nasser gegenüber einem Journalisten in Davos, Aramco verfolge ein dringenderes Vorhaben.

Bei dem Gespräch im Hotel Grischa sagte der CEO: „Wir haben uns mit der Regierung getroffen, um ihr mitzuteilen, dass wir das größte pe­tro­chemische Unternehmen der Welt werden möchten. Um zum Marktführer aufzusteigen, braucht es aber eine große Akquisition. Man benötigt eine gute Grundlage, um eine internationales Schwergewicht zu werden.“9 Auf den Tag genau drei Monate später übernahm Aramco die Kontrolle über 70 Prozent des saudischen Mischkonzerns Sabic Basic Industries Corporation, der weltweiten Nummer vier im Petrochemiesektor.

Für die Unternehmensanteile, die bisher vom saudischen Staatsfonds gehalten wurden, zahlte Aramco fast 70 Milliarden US-Dollar. Nachdem die Akquisition von Sabic verdaut war, unterzeichnete Aramco im August 2019 eine Vereinbarung über den Erwerb einer 20-prozentigen Beteiligung am Petrochemiegeschäft von Reliance Industries. Der indische Ölmulti betreibt in Jamnagar im Bundesstaat Gujarat die weltweit größte Raffinerie – die die Konsumwünsche des reichen Nordens bedient: Im Jahr 2020 verbrauchte ein Inder durchschnittlich zehnmal weniger Kunststoff als ein US-Amerikaner.

Um aus jedem Tropfen Öl so viel Profit wie möglich zu pressen, setzen Aramco und Sabic auf die neue Technologie Crude Oil-to-Chemicals (COTC), wörtlich: „Rohöl zu Chemikalien“. Die US-Wirtschaftsagentur IHS Markit bezeichnet COTC als „revolutionäre Technik“, die „die weltweite Chemieindus­trie auf den Kopf stellen“10 könnte. Mit dem Verfahren können bis zu 70 Prozent eines Barrels Rohöl in petrochemische Derivate umgewandelt werden, während konven­tio­nelle Raffinerien lediglich 20 Prozent extrahieren können.

Seit 2018 hat Aramco eine Vielzahl von COTC-Projektentwicklungsverträgen mit Technologiefirmen wie McDermott aus den USA, Axens aus Frankreich und dem britisch-französischen Unternehmen TechnipFMC geschlossen. In den Aramco-Forschungszentren im saudischen Dhahran und an der Ostküste der USA in Boston arbeiten verschiedene Teams fieberhaft an der effektivsten Methode, das schwarze Gold in Plastikdollar zu verwandeln. Der Ölmulti hat bis heute schon rund 50 Patente angemeldet.

Jüngst haben Aramco und Sabic die saudische Raffinerie Yanbu am Roten Meer dazu auserkoren, die neuen Verfahren unter realen Produktionsbedingungen zu testen. In Yanbu, das sich im Gemeinschaftsbesitz von Aramco und dem chinesischen Chemieriesen Sinopec befindet, sollen 45 Prozent des Rohöl-Inputs in Plastikgrundstoffe umgewandelt werden. Ab 2025 können mit den neuen Hightech-Verfahren an diesem Standort theoretisch jährlich 9 Millionen Tonnen an petrochemischen Erzeugnissen produziert werden. Das wäre die doppelte bis dreifache Kunststoffmenge, die die Raffinerie aktuell ausspuckt.

Während die Menschheit in nicht einmal 10 Jahren ihre Treibhaus­gas­emis­sionen um die Hälfte reduzieren muss, setzen die größten Klimasünder der Welt langfristig auf eine Technologie, die laut den Experten von IHS Markit „die Rentabilität eines Barrels Erdöl mehr als verdoppelt“.

1 Siehe Aude Vidal, „Unser Müll in Java“, LMd, Mai 2021.

2 „Plastic & Cimate, The Hidden Cost of a Plastic Planet“, Center for International Environmental Law, Washington, D. C., Mai 2019.

3 Siehe „The Future of Petrochemicals. Towards a more sustainable chemical industry, Technology report“, Internationale Energieagentur, Oktober 2018.

4 „World Energy Outlook 2017“, Internationale Energieagentur, Paris, November 2017.

5 Alexander H. Tullo, „Why the future of oil is in chemicals, not fuels“, Chemicals & Engineering News, Washington, D. C.,20. Februar 2019.

6 Beim schwierigen Börsengang zwang das saudische Königshaus einheimische Investoren zum Aktienkauf.

7 „Explosion at Petronas Aramco refining complex in Malaysia’s Johor kills 5“, The Straits Times, Singapur, 16. März 2020.

8 Adel Moatamed, „Degradation of mangrove forests and coral reefs in the coastal area of the southwestern region of Saudi Arabia“, Biogeographia, Rom 2020.

9 Frank Kane, „Amin Nasser, Saudi Aramco’s Davos man spells out blueprint for IPO“, Arab News, Dschidda, 27. Januar 2019.

10 Will BeaCham, „Aramco CEO Amin Nasser to receive 2020 Kavaler Award in Dec 3 virtual event“, Icis, London, 5. November 2020.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Mickaël Correia ist Autor des 2022 bei La Découverte erschienenen Buchs „Criminels climatiques, Enquête sur les multinationales qui brûlent notre planète“, aus dem dieser Text entnommen ist.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Mickaël Correia