13.01.2022

Zwischen Draghi-Dogma und Schulden-Orthodoxie

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Zwischen Draghi-Dogma und Schulden-Orthodoxie

Wie lange kann die EZB die Finanzmärkte fluten?

von Benjamin Lemoine

Fred Hüning, ohne Titel, aus der Serie „Drei“, analoge Fotografie, 2020, 60 × 90 cm
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April 2020: Rund um den Globus wird die ganze Tragweite der Coronapandemie sichtbar. Die Risse in den westlichen Gesellschaften, die sich schon vorher abgezeichnet haben, werden zu klaffenden Wunden. Der Schock ist so groß, dass manche bereits zum Aufbau der „Welt danach“ aufrufen, mit einem größeren öffentlichen Sektor und einem Sozialstaat, die von der Marktlogik befreit sind. Genährt wird ihre Hoffnung durch die riesigen Geldmengen, die zahlreiche Zentralbanken zur Eindämmung der Krise in die Wirtschaft pumpen. Die bisher als notorisch klamm geltenden Staaten zeigen, dass sie auf alles reagieren können, „what­ever it takes“ (Draghi).

Derweil richtet der Internationale Währungsfonds (IWF) den Blick in die Zukunft und dämpft die Hoffnungen: „In der Pandemie ist es selbstverständlich, dass die Regierungen das Prinzip ‚whatever it takes‘ anwenden, um Menschenleben zu retten.“ Sie müssten jedoch „die Rechnungen aufheben“.1 Mit anderen Worten: Die Lockerung der Finanzpolitik bedeutet allenfalls eine vorübergehende Aussetzung der vorherrschenden Ideologie. Es gilt, die alte Ordnung wieder in ihr Recht, die Schulden in ihre bewährte Funktion zu setzen: als Drohmittel, mit dem die Finanzwirtschaft die Bevölkerung diszipliniert und die öffentliche Meinung beeinflusst.

Dieser Mechanismus klemmt aber schon seit einigen Jahren. Während die Verschuldungsrate in Frankreich im Jahr 2021 mit knapp 116 Prozent des Brut­to­inlandprodukts (BIP) so hoch war wie nie zuvor in Friedenszeiten, verringert sich die Zinsbelastungsquote, die 2020 im Durchschnitt nur noch 1,3 Prozent des BIPs ausmachte. Die Zinsen für 10-Jahres-Anleihen sind nahe null, die Kosten für den Schuldendienst so niedrig wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr.2

Seit 2016 greift die Europäische Zentralbank (EZB) regelmäßig in die Finanzmärkte ein, indem sie den Banken Staatsanleihen abkauft und so Liquidität ins System pumpt. Dies beschert den staatlichen Emittenten traumhafte Finanzierungsbedingungen. Und diese beispiellose Entwicklung wird durch die Coronakrise noch verstärkt.

Die Pandemie hat dem Wirtschafts- und Finanzsystem an allen Ecken und Enden Lecks zugefügt, die dringend abgedichtet werden mussten. Das führte zu einer Regulierung der Zinssätze, also der Risikoprämien, die die Staaten ihren Gläubigern gewähren müssen. In der Vergangenheit entschieden die Märkte darüber, welches Risiko dem einen oder anderen Land beizumessen war. Durch die Interventionen der EZB wurden die Risikoprämien jedoch weitgehend nivelliert; die Frankfurter Währungshüter sorgen dafür, dass kein Zinssatz abhebt.

Damit hat sich der Anleihezins vom Schuldenvolumen entkoppelt, wobei Letzteres vor allem anhand der Schuldenquote gemessen wird. Diese Prozentzahl in Relation zum BIP ist die wichtigste Maßzahl der Finanzorthodoxie. Diese Entkopplung stellt für die Hüter der Schuldenordnung und ihre disziplinierende Wirkung ein Problem da. Denn wie soll man „den Leuten vermitteln“, dass Einsparungen und Einschnitte bei den staatlichen Ausgaben notwendig sind, wenn die Kreditfinanzierung zum Nulltarif erfolgen kann?

Aus dieser Perspektive stellen die Niedrig- und Negativzinsen, für die die Zentralbanken mit ihren Anleihekäufen sorgen, eine Anomalie dar. Sollten die Währungshüter langfristig an ihrer unkonventionellen Politik festhalten, könnte dies die Rückkehr in eine Welt bedeuten, in der Schulden sich nicht mehr als Erpressungsmittel in den Händen der Gläubiger eignen.

Für Letztere sind politisch gesteuerte Zinsen ein echtes Schreckgespenst, bedrohen sie doch die normale Funktionsweise der Welt, so wie die Neoliberalen sie sehen: als ein von privaten Geldgebern beherrschtes Universum, in dem die Gläubiger die Finanzierung von Ländern davon abhängig machen, ob diese die von ihnen diktierten Regeln einhalten. Aus neoliberaler Sicht gilt es daher den Gläubiger auf den Thron zurückzubringen und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage erneut Geltung zu verschaffen. Nur dieses Gesetz könne die Politik disziplinieren und die Gesellschaft regulieren, indem es den Staaten die jeweils angemessenen Zinssätze zuweist.

Zum Glück für die Verfechter der alten Schuldenordnung signalisieren die Veränderungen innerhalb der EZB keinen grundlegenden ideologischen Wandel. So stellte Christine Lagarde im März 2020 klar, das Frankfurter Institut sei nicht dazu da, die „Spreads zu schließen“3 – also durch geldpolitische Maßnahmen die unterschiedlichen Zinssätze zu nivellieren, die die Staaten der Eurozone auf den Bondmarkt zahlen müssen. Die Botschaft ist klar: Das EZB-Anleihekaufprogramm ist umkehrbar und soll keinesfalls die Haushaltsdisziplin der Staaten schwächen.

Die EZB hat die Anleihekäufe mit der Corona-Ausnahmesituation gerechtfertigt und mit der bis vor Kurzem noch niedrigen Inflationsrate. Eine zentrale Firewall innerhalb des Anleihegeschäfts hat sie damit aufrechterhalten: die zwischen dem Primärmarkt – dem Handel zum Zeitpunkt der Emission, wenn die Banken Schuldtitel in großem Stil erwerben – und dem Sekundärmarkt, auf dem sie diese Bonds an die großen Vermögensverwalter weiterverkaufen.

Die EZB interveniert nicht auf dem Primärmarkt, weil sie damit die Staaten direkt – ohne Umweg über die Privatbanken – finanzieren würde. Dadurch würde sie den Preis auf der zentralen Bühne des Bondhandels, also bei den Anleiheauktionen beeinflussen. Kauft die Zentralbank hingegen Anleihen auf dem Sekundärmarkt, bleibt die Fähigkeit der Finanzmärkte unangetastet, den „wahren“ Wert der Anleihen in erster Instanz zu ermitteln.

Frankreich hat Ende der 1970er Jahre mit der gelenkten, fast automatischen Finanzierung der Staatsschulden Schluss gemacht und die Direktkredite der französischen Zentralbank auf ein Minimum reduziert. Seither kon­zen­triert sich die staatliche Finanzverwaltung auf den weltweiten Absatz von Staatspapieren. Diese von den Unsicherheiten der Demokratie und staatlichen Machtausübung entbundenen Anleihen waren bei den Anlegern heiß begehrt.4

„Unser größter Trumpf besteht darin, die Nachfrage der Anleger zu befriedigen“, erklärte 2016 Anthony Requin, damals Direktor der Agence France Trésor, der die Finanzierung des Staatsdefizits obliegt. Die AFT muss also die Lücke zwischen den Einnahmen und Ausgaben mittels Staatsanleihen schließen. Auf „Roadshows“ an internationalen Finanzplätzen wie New York, London und Tokio preist sie gegenüber „ihren potenziellen Kunden“ ihre neue Anleihekollektion im Stile „eines Unternehmens“ an (wie es Schatzamtsleiter Daniel Lebègue 1987 formulierte).

Zur Vorbereitung der Roadshows, die in großen Luxushotels stattfinden, bekommen die Bürokraten des Schatzamts eine Liste von Themen, zu denen sie Stellung nehmen müssen. Die Sorgen der Anleger beschränken sich nicht auf technische Fragen. Sie interessieren sich auch für die politische Lage und die Fähigkeit des Staats, Steuern zu erheben und seine Entscheidungen wenn nötig auch gegen gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen.

1987 drehten sich die Sorgen der Anleger noch um die „französische Inflationspolitik“ und um die Frage, ob „die Arbeitskosten in Frankreich steigen“. Hinzu kamen Spekulationen, dass Frankreich alternative Wege beschreiten oder ein subversives Programm verfolgen könnte. „Ist es denkbar, dass Frankreich das Europäische Währungssystem verlässt?“, wollten die Vertreter von JP­Morgan im Oktober 1987 wissen. „Wie würden Sie eine,sozialistische‘ Finanzpolitik beschreiben? Was denken Sie darüber, dass die Kommunistische Partei genügend Wählerunterstützung für eine Machtbeteiligung erhalten hat?“5 Sorgen machten sich die Anleger auch über die Streikbereitschaft der Gewerkschaften oder die Erfolgsaussichten einer Protestpartei.

Ein zentrales Anliegen der Investoren ist die Stabilität der staatlichen Institutionen. Man sollte also meinen, dass die Protestbewegung sie nervös macht. Nichts dergleichen: „Das Gelbwesten-Phänomen kann man von zwei Seiten betrachten“, sagt ein französischer Banker. „Einerseits kann man sagen: Was läuft da in Frankreich schief?“ Andererseits könne man sich auch fragen, ob nicht Emmanuel Macron tatsächlich dabei ist, „in diesem Land etwas zu verändern“.

Der Banker berichtet von einem US-Kollegen, der zu Beginn der Gelbwestenbewegung die Krawalle und brennenden Autos gesehen hatte und zu ihm sagte: „Ich war bisher nicht überzeugt, dass Frankreich Sozialreformen durchführt. Jetzt bin ich es.“6

Die EZB ist mittlerweile in der Lage, die Macht der Anleihemärkte auszuhebeln. Und dennoch halten die Exponenten des Finanzkapitalismus und die ihn unterstützende Bürokratie an der Fiktion eines autarken privaten ­Finanzsektors fest, der angeblich nicht auf öffentliche Gelder angewiesen ist.

Die wichtigsten Akteure der französischen Geld- und Finanzpolitik sind die Spitzenbürokraten des Schatzamts, von denen einige mittlerweile bei verschiedenen Zentralbanken untergekommen sind. Sie bestehen darauf, dass die Hemmnisse des „freien Markts“ im Namen des Gemeinwohls zu fallen hätten. Schließlich gelte es, die Sparer und Anleger wieder als Schiedsrichter über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Werte einzusetzen. Jacques de Larosière hat es in der Finanzpolitik zu höchsten Ehren gebracht, er war Direktor des französischen Schatzamts (1974–1978), IWF-Präsident (1978–1987) und Präsident der Banque de France (1987–1993). Heute ist er Mitglied des Strategieausschusses der AFT. Zum EZB-Anleihekaufprogramm hat er allerdings eine gewagte Meinung, die Ursache und Wirkung vertauscht.

Nach de Larosière geht es nicht darum, das Programm zu beenden, um die Macht der Märkte wiederherzustellen. Vielmehr müssten die Präferenzen der Investoren wieder Vorrang haben, weil die EZB ihre Maßnahmen nicht fortführen könne: „Die faktische Kauf­garantie für Staatsanleihen beein­trächtigt keineswegs die Urteilsfähigkeit der Märkte.“ Allerdings könne die Zentralbank „nicht auf Dauer alles aufkaufen“. Zudem sei die Bonität eines Staats ein wesentlicher Vertrauensfaktor, den es „um jeden Preis zu bewahren gilt“.7

Dennoch deutet alles darauf hin, dass die Europäische Zentralbank ihre neuen Handlungsmaximen verstetigen könnte – ungeachtet der Tatsache, dass die EZB damit die Märkte ihrer politischen Macht beraubt. Die Finanzierung des Staats beruht auf einem Fundament von Vorstellungen darüber, was legitim oder illegitim ist, bestätigt durch regelmäßige Vertrauens- und Misstrauensbekundungen auf den Roadshows und an den Finanzplätzen. Diese Prinzipien lauten: keine direkte Staatsfinanzierung, kein direkter Eingriff des Staats in die Wirtschaft, keine Einmischung der Demokratie in die monetären und finanziellen Angelegenheiten.

Des Weiteren sieht das Programm Strukturreformen vor, die etwa auf den Abbau des umlagefinanzierten Rentensystems zielen, an deren Stelle ein kapitalgedecktes Altersvorsorgeprogramm treten soll, das Privatpersonen zu „kleinen Vermögensverwaltern“ macht. Fällt auch nur eines dieser Rädchen aus, kommt die ganze Schuldenmaschine ins Stocken. Resultat: Der Staat kann sich nicht mehr zu denselben Bedingungen refinanzieren.

Die Liquidität und Attraktivität einer Anleihe, die sie zu einem risiko­losen Investment und damit zu einem erstklassigen Anlageprodukt macht, sind sozusagen die „irdische Nahrung, auf die die Märkte angewiesen sind“.8 Allerdings kann dieses Gericht bei ­einer gesellschaftlichen und politischen Kehrtwende schnell ungenießbar und von den Finanzmärkten zurückgewiesen werden. Doch vieles spricht dafür, dass es angesichts des Appetits der Kapital­eigner nicht so kommen wird.

1 „Keeping the Receipts: Transparency, Accountability, and Legitimacy in Emergency Responses“, Internationaler Währungsfonds (IWF), Washington, 12. April 2020.

2 Jérôme Creel u. a. „Dette publique: un changement de paradigme et après?“, French Economic Observatory (OFCE), Paris, 6. Oktober 2021.

3 Pressekonferenz, Frankfurt am Main, 12. März 2020.

4 Siehe Benjamin Lemoine, „L’Ordre de la dette, Enquête sur les infortunes de l’État et la prospérité du marché“, Paris (La Découverte) 2016.

5 „Pourquoi investir en France?“, Präsentation der US-Geschäftsbank JPMorgan, 23. Oktober 1987.

6 Vom Autor geführtes Gespräch, September 2021.

7 „La dette et l’illusion monétaire“, in: Philippe Dessertine (Hg.), „La Dette potion magique ou poison mortel“, Éditions Télématique, 2020.

8 So der Journalist Philippe Mabille; siehe auch Frédéric Lemaire, „Geliebte Schulden“, LMd, September 2021.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Benjamin Lemoine ist Soziologe und Autor des Buchs „La démocratie disciplinée par la dette“, das im Februar 2022 bei Éditions La Découverte erscheint.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Benjamin Lemoine