13.01.2022

Kriegsgefahr im Maghreb

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Kriegsgefahr im Maghreb

Zwischen Algerien und Marokko kochen alte Streitigkeiten hoch

von Lakhdar Benchiba und Omar-Lotfi Lahlou

Kurz nach dem „Sandkrieg“: Algeriens und Marokkos Außenminister im Gespräch, Addis Abeba, 18. November 1963 DENNIS LEE ROYLE/picture alliance/ap
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Im März 2022 werden zehn afrikanische Fußballnationalmannschaften in Play-off-Spielen gegeneinander antreten, um sich für die WM in Katar im November zu qualifizieren. Weil Marokko und Algerien im selben Lostopf sind, können sie nicht aufeinandertreffen. Das ist nicht nur für die Fans eine Erleichterung, sondern auch für alle, die sich nicht für Fußball interessieren. Denn vor dem Hintergrund der immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Algerien und Marokko seit Dezember 2020 ist damit das Risiko von Zusammenstößen zumindest geringer.

Seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 waren die Beziehungen zwischen Algier und Rabat stets von Misstrauen geprägt. Dass sie sich nie normalisiert haben, liegt zum einen an Grenzstreitigkeiten, die bereits im Oktober 1963 zum sogenannten Guerre des sables (Sandkrieg) führten, und zum anderen an der ungelösten Westsahara-Frage. Marokko beansprucht das Gebiet für sich, während Algerien ein Referendum über die Selbstbestimmung fordert und die Frente Polisario, die Befreiungsorganisation der Westsahara, unterstützt.

Der Konflikt zwischen Algerien und Marokko behindert auch die wirtschaftliche und politische Integration des Maghreb. Die Union des Arabischen Maghreb (UMA), die im Februar 1989 in Marrakesch gegründet wurde, ist heute nur noch eine leere Hülle.

Die Situation in der Westsahara ist seit über 40 Jahren nicht vorangekommen, obwohl zwischen der Polisario und der marokkanischen Regierung seit 1991 Waffenstillstand herrscht. Rabat hat einen mehr oder weniger weitgehenden Autonomiestatus unter marokkanischer Souveränität angeboten. Algier hingegen hat 1976 die von der Polisario ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) anerkannt und unterstützte 1982 auch deren Beitritt zur Organisation für Afrikanische Einheit (OAU, heute Afrikanische Union, AU). Als Reaktion auf die Aufnahme der DARS verließ Marokko zwei Jahre später die OAU. Seit 2017 ist es wieder Mitglied der AU.

Doch die Westsahara-Frage ist nicht der einzige Zankapfel. Alge­rien beschuldigt Marokko, nichts gegen Schmuggel und Drogenhandel im Grenzgebiet zu unternehmen. Und Marokko, dessen östliche Landesteile traditionell mit dem algerischen Westen verbunden sind, wirft Algier vor, dass es nicht über eine Öffnung der seit 1994 geschlossenen gemeinsamen Grenze verhandeln will.

In letzter Zeit sind zunehmend kriegerische Töne zu hören. Am 24. August verkündete der algerische Außenminister Ramtane Lamamra den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Rabat. Diese Entscheidung war der logische nächste Schritt in einer Eskalationsspirale, die am 20. Dezember 2020 begann. Damals hatte US-Präsident Donald Trump die marokkanische Souveränität über die Westsahara offiziell anerkannt – als Gegenleistung dafür, dass Marokko seine Beziehungen zu Israel normalisierte. Algerien wiederum betrachtet Israel als Feind und unterhält keinerlei diplomatische Beziehungen zu Tel Aviv.

Für Algier war die Entscheidung der Trump-Administration ein schwerer Rückschlag, zumal sie auch von der Nachfolgeregierung unter Joe Biden nicht zurückgenommen wurde. Die Annäherung zwischen Rabat, Washington und Tel Aviv hat – in Verbindung mit den jüngsten Spannung zwischen Algier und Paris1 – beim algerischen Regime das Gefühl der Bedrohung weiter verstärkt. Dieses ist in Algier schon seit der Arabellion 2011 zu spüren, mit dem Beginn der Protestbewegung Hirak 2019 hat es noch zugenommen.

Darüber hinaus haben zwei weitere Ereignisse die Führung in Algier in Rage versetzt: Da sind zunächst die Enthüllungen über Marokkos Einsatz der israelischen Spy-Software Pegasus, mit deren Hilfe Rabat 6000 algerische Telefone ausspioniert hat – betroffen sind neben Politikern, Militärs, Geheimdienstlern, hohen Beamten und Diplomaten im Ausland auch Ak­ti­vis­t:in­nen der Zivilgesellschaft und Mitglieder der politischen Opposition.2

Dieser Spähangriff wiegt in den Augen Algiers umso schwerer, als auf eine israelische Software zurückgegriffen wurde. Bei einem Besuch in Casablanca am 12. August 2021 goss der israelische Außenminister Jair Lapid dann noch zusätzlich Öl ins Feuer: In Anwesenheit seines marokkanischen Amtskollegen Nasser Bourita sprach Lapid von seiner „Besorgnis über die Rolle Algeriens in der Region, seine Annäherung an Iran und die Kampagne, die es gegen die Aufnahme Israels als beobachtendes Mitglied der Afrikanischen Union geführt hat“.

Die algerische Regierung verurteilte daraufhin die „kaum versteckten Drohungen“: „Seit 1948 hat kein is­rae­li­sches Regierungsmitglied auf dem Territorium eines arabischen Landes Drohungen gegen ein anderes arabisches Land ausgesprochen“, wetterte Lamamra. Seither ist das Misstrauen weiter gewachsen, da Marokko und Israel am 24. November 2021 beim Besuch des israelischen Verteidigungsministers Benny Gantz ein bilaterales Sicherheitsabkommen unterzeichnet haben.

Der zweite Grund für Algiers Wut war ein Vorfall bei einer Onlinekonferenz der Bewegung der Blockfreien Staaten am 13./14. Juli, bei der sich der marokkanische UN-Botschafter Omar Hilale für die Selbstbestimmung der (algerischen) Kabylei aussprach. Es war eine Aktion nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“. Weil Algier die Selbstbestimmung der Sahrauis unterstützt, tut Rabat dasselbe mit den Kabylen und verleiht so den Forderungen der Bewegung für die Autonomie der Kabylei (MAK) – eine Partei, die die algerischen Behörden als Terrororganisa­tion bezeichnen – Nachdruck.

Algerien wirft seinem Nachbarn vor, zusammen mit den Separatisten der MAK für die verheerenden Waldbrände im Norden des Landes verantwortlich zu sein, die im vergangenen Sommer mindestens 90 Menschenleben gefordert haben. Die Anschuldigungen gegen Marokko und die MAK dienen dem Regime in Algier aber auch dazu, das Bild einer äußeren Bedrohung zu zeichnen, um der Hirak-Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Im Ausland hat diese Behauptung dem algerischen Regime jedoch eher geschadet. Für die französischen Medien etwa war es naheliegend, die Unglaubwürdigkeit dieser Vorwürfe groß herauszustellen. Gleichzeitig wurden die viel ernsthafteren Anschuldigungen bezüglich der Pegasus-Software quasi ignoriert. Und das, obwohl viele Al­ge­rie­r:in­nen – darunter auch Mitglieder der Opposition – diesen massiven Spionage­angriff als Casus Belli be­trachten.

Auf marokkanischer Seite übten sich die Behörden nach dem Abbruch der Beziehungen zunächst in Zurückhaltung. Man nahm die Entscheidung Algiers zur Kenntnis, bezeichnete sie aber als „völlig ungerechtfertigt“. Das marokkanische Außenministerium sprach von einer „Logik der Eskala­tion“ und wies die „falschen und sogar absurden Vorwände, die ihr zugrunde liegen“, zurück. Gleichzeitig wurde versichert, das marokkanische Königreich sei weiterhin ein „verlässlicher Partner des algerischen Volkes“.

Allerdings bleibt auch die marokkanische Seite nicht untätig und versucht ihren Vorteil weiter auszubauen. Gestärkt durch den Rückhalt der USA setzt Rabat die EU und insbesondere Spanien unter Druck, damit es sich der Position Washingtons in Bezug auf die Westsahara anschließt.3 „Europa sollte aus seiner Komfortzone herauskommen und den USA folgen“, erklärte Außenminister Bourita am 15. Januar 2021.

Im Kräftemessen mit der EU und Spanien musste Marokko allerdings auch einige Rückschläge hinnehmen. Am 10. Juni 2021 verurteilte das EU-Parlament in einer Resolution, „dass Marokko die Migration, vor allem die von unbegleiteten Minderjährigen, als politisches Druckmittel gegen einen Mitgliedstaat der EU einsetzt“. Die Resolution war eine Reaktion auf den Grenzübertritt tausender Marokkaner in die spanische Exklave Ceuta im Norden Marokkos. Rabat wollte Spanien so zwingen, sich der Position der USA anzuschließen.

In der Folge erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 29. September ein Agrar- und ein Fischereiabkommen zwischen Marokko und der EU für nichtig, weil die „Zustimmung des Volkes der Westsahara“ fehle. Geklagt hatte die Frente Polisario. Für sie war das Urteil ein zusätzlicher Erfolg, weil der EuGH ihr „als international anerkannte Repräsentantin des Volkes der Westsahara“ die Klagebefugnis vor den Gerichten der Union verlieh.

Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Rabat und Algier hat das Kräftemessen nicht beendet. Am 22. September sperrte Alge­rien seinen Luftraum für marokkanische Flugzeuge. Und am 31. Oktober drehte Algier der Maghreb-Europa-Pipeline (MEG) den Hahn zu, durch die seit 1996 algerisches Erdgas über Marokko nach Spanien und Portugal fließt. Dadurch werden Marokko jährlich rund 1 Mil­liar­de Kubikmeter Erdgas entgehen – ein Teil davon als Bezahlung für die Durchleitungsrechte. Das entspricht 97 Prozent des marokkanischen Bedarfs.

Die Lieferungen für Spanien sollen nun über die Medgaz-Pipeline laufen, die von Algerien direkt durchs Mittelmeer nach Spanien führt. Die Kapazität von Medgaz kann von 8 auf 10 Milliarden Kubikmeter jährlich aufgestockt werden. Das deckt den spanischen Bedarf aber noch nicht ab, weswegen Algier zugesagt hat, die Differenz in Form von Flüssiggas per Schiff zu liefern.

Spanien befindet sich also zwischen den Fronten: Während Rabat die Mi­gra­tion als Mittel einsetzt, um Spanien dazu zu drängen, die marokkanische Souveränität über die Westsahara anzuerkennen, nutzt Algier die Gaslieferungen, um Madrid zu signalisieren, dass eine solche Anerkennung schmerzhafte Folgen haben könnte.

Unterdessen verschlechtert sich die Sicherheitslage in der Westsahara. Bereits am 13. November 2020 führte die marokkanische Armee eine Operation in der Pufferzone von Guerguerat an der Grenze zu Mauretanien durch, nachdem die Polisario zuvor den Warenverkehr auf der einzigen Verbindungsstraße Richtung Süden blockiert hatte.

Die Polisario betrachtete die Militäraktion als Verstoß gegen den seit 1991 bestehenden Waffenstillstand und kündigte ihn ihrerseits auf. Sechs Tage später erklärte Polisario-Führer Brahim Ghali, das saharauische Volk habe „die Entscheidung getroffen, seinen gerechten Befreiungskrieg mit allen legitimen Mitteln zu intensivieren, zuallererst den bewaffneten Kampf, bis die Souveränität der Saharauischen Republik über ihr gesamtes Territorium hergestellt ist“.

Man kann zwar bezweifeln, dass die Polisario in der Lage ist, in den von Marokko kontrollierten Gebieten der Westsahara größere Operationen durchzuführen. Aber die Gefahr, dass die Kämpfe wieder aufflammen könnten, trägt dazu bei, die Spannungen zwischen Rabat und Algier weiter zu verschärfen, zumal auch Algerien von der schlechten Sicherheitslage in der Westsahara betroffen ist.

Am 1. November, Algeriens Na­tio­nal­feiertag, einen Tag nach der algerischen Entscheidung, Marokko den Gashahn zuzudrehen, kam es zu einem weiteren Zwischenfall: Drei algerische Lkw-Fahrer kamen bei einem Bombenangriff – wahrscheinlich durch eine Drohne – unweit der westsaharischen Stadt Bir Lehlu im Gebiet der Polisario zu Tode. Die Lkws befanden sich auf dem Weg von der mauretanischen Hauptstadt Nuakschott in die algerische Stadt Ouargla. Das algerische Präsidialamt reagierte mit einer scharfen Verurteilung. Es machte die „marokkanischen Besatzungstruppen“ für den Angriff verantwortlich und drohte: „Diese Mordtat wird nicht ungesühnt bleiben.“

Angesichts der jüngsten Entwicklungen ist die Gefahr eines Kriegs zwischen Marokko und Algerien nicht ganz auszuschließen. Auf algerischer Seite stehen 130 000 Berufssoldaten bereit, zudem können 150 000 Reservisten und 190 000 sonstige Sicherheitskräfte mobilisiert werden. Die ­königlichen Streitkräfte Marokkos zählen 310 000 Soldaten und 150 000 Reservisten. Es stehen sich also zwei etwa gleich große Armeen gegenüber, die versucht sein könnten, auch ihr umfangreiches Waffenarsenal, das beide Seiten seit einem Jahrzehnt angesammelt haben, ganz oder teilweise einzusetzen. Zwischen 2010 und 2020 hat Algerien insgesamt 90 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben, Marokko im selben Zeitraum 36 Milliarden.

In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob Marokko und Algerien es schaffen, die Situation zu deeskalieren. Doch angesichts der Tatsache, dass es weder eine ernsthafte Vermittlung noch gemeinsame Initiativen von Persönlichkeiten beiderseits der Grenze gibt, befürchten viele, dass letztlich die Waffen sprechen könnten. „Die Ma­ghre­bi­ner sollten sich daran erinnern, wie der Irak und Iran sich gegenseitig zerstört haben“, warnte jüngst der algerische Schriftsteller und Poet Amin Khan auf Facebook. „Wem hat das genützt? Sicher nicht dem irakischen oder dem iranischen Volk, und auch nicht den Regimen beider Länder.“

1 Siehe Akram Belkaïd, „Erhöhte Temperatur“, LMd, November 2021.

2 Madjid Zerrouky, „‚Projet Pegasus‘: l’Algérie très surveillée par le Maroc“, Le Monde, 20. Juli 2021.

3 Auch die diplomatischen Beziehungen zwischen Rabat und Berlin haben bereits gelitten, weil die deutsche Regierung sich weigerte, die US-Entscheidung zu unterstützen. Siehe: Aboubakr Jamaï und Khadija Mohsen-Finan, „Diplomatischer Zoff um die Westsahara“, LMd, April 2021.

Lakhdar Benchiba und Omar-Lotfi Lahlou sind Journalisten in Algier und Casablanca.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Lakhdar Benchiba und Omar-Lotfi Lahlou