09.12.2021

Die Ökos sind da

zurück

Die Ökos sind da

Grüne Parteien gewinnen in ganz Europa immer mehr Sitze in Parlamenten und Rathäusern. Aber was tun sie damit?

von Benoît Breville und Pierre Rimbert

Audio: Artikel vorlesen lassen

Mit René Dumont trat 1974 erstmals ein Vertreter der Grünen bei den französischen Präsidentschaftswahlen an. Kurz vor Ankündigung seiner Kandidatur hatte der Agrarwissenschaftler in Le Monde di­plo­ma­tique dargelegt, vor welchen Alternativen man in der Umweltpolitik stehe: Man könne versuchen, an das Gewissen der Mächtigen zu appellieren, doch er selbst halte es für wenig wahrscheinlich, dass das kapitalistische System eine großartige Genera­tion „neuer Menschen“ hervorbringen könne: „ Das Christentum bemüht sich seit zweitausend Jahren darum und ist gescheitert, weil es den reichen Egoisten unentwegt nettere Verhaltensweisen angeraten hat, anstatt die Armen zum Aufstand, zu einem Kreuzzug gegen die Tresore aufzurufen.“1

Der Kampf, für den Dumont stand, hatte anfangs eine pazifistische und internationale Perspektive: Das Ziel war ein Systemwandel, der vom gerade entkolonialisierten Süden ausgehen sollte. Im Juni 1972 umriss die UN-Umweltkonferenz die künftige Umweltpolitik, die auf „vernünftige Planung“, den „Einsatz von Wissenschaft und Technik“ und die Bekämpfung „kolonialer Verhaltensweisen und anderer Formen der Unterdrückung“ setzte. Als Dumont die politische Bühne betrat, traf er auf wenig Resonanz. Die Angst vor der nuklearen Apokalypse, die Entwicklung des Globalen Südens und der Kon­sum­wahn des Nordens beschäftigte die Menschen damals mehr als der Schutz des Planeten.

Ein halbes Jahrhundert später ist das Thema Ökologie allgegenwärtig. Aber welche Ökologie? „Die Bewahrung der Umwelt ist für LVMH weit mehr als eine Pflicht: Sie ist eine Notwendigkeit, ein Wettbewerbsmotor“, behauptet das börsennotierte Luxusunternehmen Louis Vuitton, dessen Kundschaft sich für Mode und Schmuck begeistert, aber null Interesse am Nullwachstum zeigt. Die Umweltzerstörung versetzt einen Teil der Jugend in Panik, und kein Supermarkt kann mehr auf sogenannte Bioprodukte verzichten.

Dass die Vokabel „Klimanotstand“ zum zentralen Thema der öffentlichen Debatten werden konnte, hätte logischerweise das unerträgliche Wesen unseres Wirtschaftsmodells ins Blickfeld rücken müssen und die Notwendigkeit, dieses Modell aufzugeben. Tatsächlich kam es jedoch eher zu einer Entpolitisierung der Umweltproblematik, beobachtete der Soziologe Jean-Baptiste Comby.

In den Medien wird Umweltschutz heute bevorzugt als „moralische Frage“ behandelt und damit von einem Pro­blem der globalen Wirtschaftsordnung in eine Frage der Anpassung individueller Verhaltensweisen verwandelt.2 Um den Planeten zu retten, sollen wir also immer schön unseren Müll trennen, das alte Dieselauto verschrotten, unsere Mobilität insgesamt einschränken, die schlecht isolierte Wohnung energetisch sanieren und überhaupt klimaschädliche Emissionen vermeiden.

All das kostet allerdings Geld. Deshalb zieht das Lager der Ökobürger eher Bessergestellte als Geringverdiener an, obwohl Erstere die Umwelt stärker belasten als Letztere, weil sie in der Regel öfter fliegen, größere Wohnungen haben und häufiger ein neues Smartphone kaufen. Der „Umweltaktivismus der Reichen“ dominiert die öffentliche Debatte in Politik und Medien und verdeckt damit gleichzeitig die Tatsache, dass der gesellschaftliche Anteil an der Umweltzerstörung sehr ungleich verteilt ist.

Die staatlich finanzierten Kampagnen bläuen den Menschen ein: „Jetzt ändern“, „Rasch handeln, es wird heiß“ und immer wieder: „Alle tragen Verantwortung“. Dieses Spiel machen auch die ökologischen Parteien mit, indem sie Werte und Tugenden hervorheben, statt auf das System und die Strukturen zu verweisen. Just in dem Augenblick, da ihnen die Idee der Weltveränderung abhandengekommen ist, eroberten diese Parteien zentrale Positionen in den politischen Institutionen der Alten Welt. Während 1993 nur ein EU-Land einen Umweltminister hatte, waren es 2021 bereits elf. Und in zahlreichen Großstädten sind die Grünen heute an der Regierung beteiligt (siehe Grafik).

Jünger, weiblicher und reicher

Die Bestätigung durch die Wählerschaft verdeckt eine doppelte politische Schwäche der grünen Parteien. Zum einen bedienen sie vor allem die „Wohlfühl“-Bedürfnisse der begüterten Schichten in den Städten, obwohl von den Folgen der Umweltzerstörung vor allem die Unterklassen betroffen sind. Zum anderen setzen diese Parteien, wenn sie an der Macht sind, nur sehr bescheidene Maßnahmen um, weshalb sie den grünen Verbänden und Aktivisten immer nur hinterherhinken (siehe etwa den Artikel über den grünen Bürgermeister in Grenoble auf Seite 16/17).

Der relative Erfolg der deutschen Grünen bei der Bundestagswahl am 26. September (14,8 Prozent) hat mit dem soziologischen Profil ihrer Wählerschaft zu tun, die gemessen am nationalen Durchschnitt jünger, urbaner, westlicher, wohlhabender und weiblicher ist. Bei der klassischen Arbeiterschaft gewann die grüne Partei nur 8 Prozent (die SPD dagegen 26 Prozent), unter den Beamten jedoch dreimal so viel. Keine andere Partei zählt mehr Wäh­le­r:in­nen mit einem höheren Bildungsabschluss und bei keiner klafft das Stimmergebnis der städtischen (19 Prozent) und der ländlichen Wahlkreise (12 Prozent ) weiter auseinander. Noch eindeutiger ist das Bild bei den Parteimitgliedern, von denen 72 Prozent einen Universitätsabschluss haben, das ist fast das Vierfache des nationalen Durchschnitts.3

Auch in Frankreich kommen die Stimmen für den Umweltschutz aus den Großstädten. In Paris erzielt ­Europe Écologie Les Verts „ihre besten Resultate in den Arrondissements im Zentrum und im Osten“, die als Viertel der „Bio-Bobos“ gelten, wie man die alternativ angehauchten jüngeren „Bourgeois Bohémiens“ nennt.4 Der Stimmenanteil der postmaterialistischen Partei in einem Wahlkreis steht in direkter Relation zu den Im­mobi­lien­preisen und dem Prozentsatz der Hochschulabsolventen. Diese begüterte soziale Kohorte bestärkt den Eindruck, dass sich die ökologische Politik gleichgültig oder gar feindlich gegenüber den Menschen verhält, deren Angst vor dem Ende des Monats größer ist als die Angst vor dem Ende der Welt.

Eine bestimmte Umweltrhetorik, schreibt die Geografin Flaminia Paddeu, legitimiere und fördere die Investitionstätigkeit in die grüne Infrastruktur im Zentrum der Großstädte: „Ökoviertel, Niedrigenergiehäuser, Fahrradwege, Biowochenmärkte, urbane Gärten und anderes mehr mästen die Immobilienpreise.“5 Und die Versuche, die in den Großstädten erprobten Rezepte wie Verkehrsberuhigungen oder umweltpolitisch begründete Betriebsschließungen auf die Stadtrandgebiete zu übertragen, reißt die Gräben nur noch weiter auf.

Wollen die Grünen einen angesagten Lebensstil bedienen oder eine Umweltpolitik für alle machen? Dieses Dilemma spiegelt sich auch in den Parteiprogrammen wider. Kratzt man an der bunten Konsensfolie mit Worthülsen wie „inklusive und diversitäre Demokratie“, „Resilienz“ oder „Oase der Geselligkeit“, kommen im „Projekt Gutes Leben“ der französischen oder im neuen Grundsatzprogramm der deutschen Grünen6 durchaus substanzielle Vorschläge zum Vorschein: Da will man aus dem Wachstumsmodell und den Freihandelsabkommen aussteigen, die industrielle Produktion verlegen, um kurze Wege zu gewährleisten, die Arbeit neu erfinden, die Macht der multinationalen Konzerne zerschlagen, Konflikte auf diplomatischem Weg lösen, eine friedliche Welt ohne Atomwaffen schaffen. Aber solche Perspektiven werden sogleich neutralisiert durch das Festhalten an der bestehenden wirtschaftlichen und internationalen Ordnung, die eine Umsetzung dieser Ziele unmöglich macht.

Die deutschen Grünen wollen auf keinen Fall über die Grenzen einer „sozialökologischen Marktwirtschaft“ hinausgehen, die nur eine blassgrüne Version des deutschen Ordoliberalismus ist, und bekennen sich außenpolitisch zur Nato. Die französischen Grünen sind zwar verbal für einen Ausstieg aus dem transatlantischen Bündnis, aber die geopolitischen Analysen ihres Kandidaten Yannick Jadot passen zu der Vorstellung eines kalten Kriegs gegen Russland und China.7 Die Partei vertritt überdies die Ansicht, die EU und Europa insgesamt sei „der richtige Rahmen, um dem vom Finanzsektor beherrschten globalen Kapitalismus sowie dem Sozial- und Umweltdumping entgegenzutreten“: der gemeinsame Binnenmarkt als Kampfinstrument gegen die zerstörerischen Kräfte des Markts!

Von ihren eigenen Zielen überholt

Nun wäre es ungerecht, einzig den Um­welt­schüt­ze­r:in­nen ihre Kunst vorzuwerfen, gerechte Anliegen mit falschen Tönen zu unterlegen: Im ganzen Westen ist das Bekenntnis zum Wirtschaftssystem und seinen wichtigsten Institutionen quasi die Eintrittskarte in die politische Arena. Aber es kommt der Punkt, an dem die grünen Parteien ihren Vertrauensvorschuss aufs Spiel setzen, wenn die Kluft zwischen ihrem Pragmatismus und den Erfordernissen des Klimaschutzes zu groß wird. Denn was sollen halbherzige Maßnahmen, wenn es gilt, rasch und entschlossen gegen eine gigantische Naturkatastrophe anzugehen, die dem herrschenden Wirtschaftssystem entspringt.

Die Ökoparteien wurden von ihren eigenen Zielen überholt und laufen Gefahr, gleichzeitig zu verstauben und banal zu werden. Soziale Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion8 stehlen ihnen mit ihren spektakulären Aktionen, ihren charismatischen Anführern und ihrer ungeduldigen Jugend die Show in den Medien. Sie lassen die Parteien in ihren Kompromissen und ihrer Untätigkeit versauern.

Die österreichischen Grünen stecken inzwischen in einer Koalition mit der harten Rechten. In Frankreich soll, wiewohl es seit 30 Jahren ein Umweltministerium gibt, ein Natürlichkeitsverlust der Böden erst ab 2050 verboten sein; das Aus für Glyphosat wird ständig hinausgeschoben; der Ausbau erneuerbarer Energien geht im Schneckentempo voran; es werden munter weiter Straßen und Autos gebaut und Bahn­strecken stillgelegt und vieles mehr.

Zwischen den Vorkämpfern in den Institutionen und Aktivist:innen, die sich direkt engagieren, gibt es manchmal einen Austausch, aber das zahlt sich kaum in Wählerstimmen aus: Mit wenigen Ausnahmen führen lokale Aktionen gegen Atommüllendlager, Staudämme, Tunnel, Bahntrassen, industrielle Tierhaltung oder riesige Abfalldeponien „nicht zu rauschenden Wahlerfolgen für die EELV“.9

Die zweite Gefahr ist die begriffliche Verwässerung. Eine Partei wie La France insoumise setzt seit ihrer Gründung den Fokus auf Umweltpolitik, aber ohne sich ein grünes Etikett zu verpassen. Seit das Bekenntnis zum Umweltschutz en vogue ist, taucht es häufig auch an unerwarteten Stellen auf. „Umwelt ist meine Priorität“, steht auf einem Flyer einer Partei, die man bislang nicht unbedingt damit in Verbindung gebracht hätte. Der Text feiert die Aktivitäten der Abgeordneten des Wahlkreises Bagneux-Montrouge-Malakoff zum „Schutz des Planeten und der Benachteiligten“ und wettert gegen Plastik, Pestizide, Verschwendung, Lärmbelästigung und Kohlekraftwerke. Ganz am Ende ist in winzigen Buchstaben der Urheber des Flyers vermerkt: „La République en marche“, die Partei des Präsidenten Emmanuel Macron.

Solche Widersprüche und Hemmnisse erklären das erstaunliche Phänomen, dass die Umweltpolitik immer noch nicht richtig Fahrt aufnimmt, obwohl die Probleme immer drängender werden.

1 René Dumont, „Population, subsistance et révolu­tion“, LMd, November 1973.

2 Siehe Jean-Baptiste Comby, „La question climatique. Genèse et dépolitisation d’un débat public“, Paris (Raisons d’Agir) 2015.

3 Quellen: Umfrage nach der Wahl Infratest Dimap, 27. September 2021; Forschungsgruppe Wahlen e. V., 27. September 2021; Christophe Hasselbach, „Die Bundestagswahl in Zahlen: Ein geteiltes Land“, Deutsche Welle, 28. September 2021; Oskar Niedermayer, „Die soziale Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften“, Bundeszentrale für politische Bildung, 26. August 2020.

4 Siehe Jérôme Fourquet und Sylvain Manternach, „Les ressorts du vote EELV aux élections européennes“, Fondation Jean Jaurès, Paris, 20. September 2019.

5 Flaminia Paddeu, „Sous les pavés, la terre. Agricul­tures urbaines et résistances dans les métropoles“, Paris (Le Seuil, coll. „Anthropocène“) 2021.

6 Europe Écologie Les Verts (EELV), „Le projet Bien Vivre“; Grundsatzprogramm, Bündnis 90/Die Grünen, „… zu achten und zu schützen … Veränderung schafft Halt“, Grundsatzprogramm, Bündnis 90/Die Grünen, November 2020.

7 Siehe Serge Halimi, „Grüne Neocons“, LMd, Mai 2021.

8 Siehe Claire Lecœuvre, „Radikales Klima“, LMd, November 2019.

9 J. Fourquet und S. Manternach (siehe Anmerkung 4).

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Benoît Breville und Pierre Rimbert