09.12.2021

Angriff bei Nacht

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Angriff bei Nacht

Im Nordirak erstarkt der IS. Die Sicherheitskräfte sind überfordert und die Regierung in Bagdad schaut weg

von Laurent Perpigna Iban

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Der Stützpunkt der 5. Division der irakischen föderalen Polizei liegt ein paar Kilometer südwestlich von Kirkuk. Geländefahrzeuge stehen in einer Reihe hintereinander, die Läufe der aufmontierten Maschinengewehre zeigen gen Himmel. Die Einheit von General Haider Youssef ist bereit zum Ausrücken.

Der General sitzt im Garten und ist völlig entspannt. Zumindest versucht er diesen Eindruck zu erwecken, als er stolz von seinen jüngsten Erfolgen im Kampf gegen die „Überlebenden“ des „Islamischen Staats“ erzählt. Wenn es allerdings um die Verluste geht, die seine Truppe in den vergangenen Monaten hinnehmen musste, ist der Chef der Sicherheitsoperationen in der Provinz Kirkuk weniger gesprächig.

Die Route, auf die sich Youssefs Kolonne vorbereitet, ist brandgefährlich. Wir befinden uns im westlichen Teil eines Gebiets, das im Irak als das neue „Dreieck des Todes“ bezeichnet wird. In den 2000er Jahren wurde dieser Begriff für die Hochburgen der sunnitischen Aufständischen im Norden und Westen von Bagdad verwendet, also Falludscha, Tikrit, Ramadi und Bakuba.

Heute bezieht er sich auf ein Gebiet, das sich über drei Provinzen erstreckt: Kirkuk im Norden, Diyala im Südosten und Salah ad-Din im Südwesten. Hier kommt es täglich zu Angriffen durch Kämpfer, die sich selbst als Mitglieder des IS bezeichnen. Die Attacken finden im Schutz der Dunkelheit statt und richten sich gegen Stellungen der irakischen Sicherheitskräfte, gegen Zivilisten oder die Infrastruktur der Ölindustrie und das Stromnetz.

Es ist eine Strategie der Nadelstiche, die seit Beginn dieses Jahres eine neue Stufe erreicht hat: „Von 995 Angriffen, die zwischen dem 1. Januar und dem 20. Oktober 2021 im Irak gezählt wurden, haben sich 655 im Dreieck Kirkuk, Diyala, Salah ad-Din ereignet“, berichtet der franko-irakische Politikwissenschaftler Hardy Mède. „Der IS scheint sogar wieder in der Lage zu sein, eine Stadt zu erobern. Gerade erleben wir den Übergang in eine neue Phase, von gezielten Einzelangriffen hin zu territorialer Kontrolle.“

Offiziell gilt der IS im Irak seit 2017 als besiegt. Doch tatsächlich hat sich die Organisation schnell an die neue Situation angepasst. Ihre Kämpfer haben sich aus den großen Städten in schwer zugängliche Gebiete auf dem Land zurückgezogen, begünstigt durch das Machtvakuum in den zwischen dem irakischen Staat und der kurdischen Regionalregierung (KRG) umstrittenen Territorien.1 Aus diesem etwa 40 000 Quadratkilometer großen Landstrich haben sich die kurdischen Truppen auf Druck von Bagdad im September 2017 zurückgezogen. Seither sind dort mehrere militärische Gruppen aktiv – vor allem die schiitischen Milizen der Haschd asch-schabi (Volksmobilisierungseinheiten). Dieses Durcheinander ermöglichte es dem IS, sich neu aufzustellen, und erleichterte die Bewegungsfreiheit seiner Kader und Kämpfer in einem Gebiet, das sich von der syrischen bis zur iranischen Grenze erstreckt.

Entlang der Straße Nr. 24, die nach Südwesten Richtung Tikrit führt, stehen lauter Kasernen. Es ist kaum zu glauben, dass diese hochmilitarisierte Zone so unsicher ist. Aber genau hier verübte der IS in der Nacht vom 4. auf den 5. September einen schweren Angriff, bei dem 13 Polizisten in einem Hinterhalt getötet wurden.

Am Horizont erhebt sich die Kette der Hamrin-Berge – sie bilden die südliche Grenze der umstrittenen Gebiete im Nordirak. „Von dort kommt ein großer Teil unserer Probleme“, erklärt Oberst Bassam Kazem. Er ist redseliger als General Youssef und sichtlich angegriffen durch die jüngsten Verluste innerhalb seiner Truppe. Die Hamrin-Berge seien der Zufluchtsort der IS-Kämpfer und das gefährlichste Gebiet im Irak. Bereits in den 2000er Jahren sind Al-Qaida-Kämpfer hier untergetaucht.

Die Hamrin-Berge mit ihren steilen Flanken sind schwer zugänglich; zudem gibt es dort ein weit verzweigtes Netz von Stollen und Tunneln, die über viele Jahre zwischen natürlichen und künstlichen Höhlen gegraben wurden. Der IS nutzt sie als Operationsbasis und hat dort nach Angaben des irakischen Militärs zahlreiche Waffendepots angelegt. Einen Großteil ihrer Angriffe in der Region führen die IS-Kämpfer von hier aus.

„Wir haben eine Reihe von Verstecken gefunden, mit Schlafsäcken und Resten von Nahrungsmitteln“, erzählt Oberst Kazem. Man wisse aber, dass die Dschihadisten auch in den umliegenden Dörfern Unterschlupf fänden. „Die Bewohner dieser Region sind uns feindlich gesinnt, wir müssen jede unserer Bewegungen hier strikt absichern.“ Nicht nur in den Hamrin-Bergen, sondern auch im Süden der umstrittenen Gebiete profitieren die IS-Kämpfer von der Unterstützung der sunnitischen Bevölkerung. Die irakischen Streitkräfte sehen oft keinen anderen Ausweg, als die Vegetation abzubrennen, die den Dschihadisten in den Ebenen als Schutz dient. Am Straßenrand bietet sich ein Bild der Zer­störung.

Die irakischen Militärbehörden sprechen von „einigen hundert“ Kämpfern. In Wahrheit kann sich der IS auf eine weit größere Basis stützen. Hischam al-Haschimi, ein irakischer Spe­zia­list für dschihadistische Bewegungen, sprach im Frühjahr 2020, wenige Wochen vor seiner Ermordung,2 von „1200 aktiven Mitgliedern“ und von „85 bis 200 verlassenen Dörfern im Dreieck, die vom IS besetzt und zu Lagern, Depots oder Kommandozentralen umgewandelt wurden“.3

Heute, eineinhalb Jahre später, gehen andere Beobachter in Bagdad davon aus, dass mehrere tausend Männer bereitstehen, um in Aktion zu treten. Es ist eine realistische Schätzung an­gesichts der massiven Zunahme von Anschlägen in den vergangenen Monaten.

Waffendepots in den Hamrin-Bergen

Am Checkpoint an der Grenze zwischen den Provinzen Kirkuk und Salah ad-Din stehen Soldaten hinter dicken Betonmauern und kontrollieren die Fahrzeuge. Die Blicke der Passagiere sind mal ängstlich, mal misstrauisch. Eines ist ganz klar: Die irakischen Sicherheitskräfte befinden sich hier in feindlichem Territorium. Der Kon­troll­punkt liegt auf einer Hügelkette in Hamrin und gleicht einem Vorposten an der Front. Es ist ein heißes Pflaster. Einige der Wachen können ihr Unbehagen in dieser permanent diffus-bedrohlichen Atmosphäre kaum verbergen.

„Die meisten Dschihadisten, die hier agieren, sind über 30 – sozusagen Veteranen, die schon von 2014 bis 2017 gekämpft haben“, erklärt Adel Tahman, der für den Geheimdienst der föderalen Polizei arbeitet. „Sie wurden bisher zwar nicht verhaftet, aber viele von ihnen haben wir identifiziert und kennen ihren Werdegang.“ Neben den Veteranen gebe es aber auch junge Kämpfer, die nicht am vorherigen Krieg teilgenommen haben.

General Youssef bestätigt, dass es eine neue Generation von IS-Kämpfern gebe. Und er betont, sie hingen der gleichen Ideologie an wie die älteren. Der Befund ist eindeutig: Der IS hat sich in unwirtliche Gegenden zurückgezogen, doch die Überlebenden sind weiterhin aktiv und die Organisation wächst.

Die föderale Polizei gibt an, man verfüge über „zuverlässige Quellen“ in den Reihen des IS. Aber auch die Dschihadisten haben offenbar ein gutes Netz aus Informanten. Die Folge: Viele Polizeieinsätze scheitern, was angesichts der oft gigantischen Mittel ziemlich schmachvoll ist. Die lokale Bevölkerung macht sich darüber lustig.

„Der IS hat überhaupt keine Probleme, in dieser verarmten Bevölkerung, die keine Zukunftsperspektive sieht, neue Mitglieder zu rekrutieren“, sagt der Forscher Arthur Quesney, der ein Buch über die Konflikte in der Provinz Kirkuk geschrieben hat.4 Eine Rolle spiele auch, dass „seit der US-Invasion 2003 jeder in dieser Region in irgendeiner Weise mit den Aufständischen in Kontakt gekommen ist“.

Die Zivilbevölkerung ist einer doppelten Bedrohung ausgesetzt: Einerseits durch die Dschihadisten, die sie bedrohen, erpressen und ermorden, und andererseits durch die Sicherheitskräfte, die bei jedem ihrer Einsätze Angst und Schrecken verbreiten, ebenfalls Schutzgelder eintreiben und nach jedem Angriff Vergeltung üben. Hinzu kommen die tödlichen Abrechnungen unter Zivilisten: Nachdem der IS am 26. Oktober in einem schiitischen Dorf in der Region Diyala ein Blutbad mit 15 Todesopfern angerichtet hatte, fielen Überlebende des Massakers am nächsten Tag in ein sunnitisches Dorf ein, das der Komplizenschaft beschuldigt wurde. 11 Menschen starben.

Die Vielzahl der bewaffneten Akteure in den umstrittenen Territorien – Polizei, Militär, Spezialeinheiten und schii­ti­sche Milizionäre – verschlechtert die Sicherheitslage noch mehr: Die mangelnde Zusammenarbeit und die Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Fraktionen machen es schwer, Vertrauen aufzubauen. Zudem verstärken Korruption und Betrug, in die vor allem schiitische Milizen verwickelt sind, das Misstrauen in der mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung, die die Ausbreitung paramilitärischer Gruppen mit Verbindungen in Iran sehr kritisch sieht.

Wird es also bald eine neue internationale Militärkoalition gegen den IS geben? Bis jetzt wird der Irak, der bis 2017 von einer Anti-IS-Koalition aus 60 Staaten unterstützt wurde, bei dieser neuen Auseinandersetzung ziemlich ­alleingelassen. Geld fließt keines mehr, und der US-amerikanische „Partner“ folgt der Logik des „disengagements“.

Das Aufleben des IS scheint die Regierung in Bagdad jedoch nicht übermäßig zu beunruhigen. Das Land muss mit vielen Problemen fertigwerden, und eines ist dringlicher als das andere: Etwa ein Drittel der 40 Millionen Ira­ke­r:in­nen lebt in Armut, die Arbeitslosigkeit stieg 2020 auf fast 14 Prozent – die höchste Quote seit 20 Jahren –, und das Konfliktpotenzial zwischen und auch innerhalb der Bevölkerungsgruppen ist groß. Es wird befürchtet, dass die rivalisierenden schiitischen Milizen ihren Streit mit Waffengewalt austragen könnten. Und in Kurdistan ist das Gespenst des Bürgerkriegs wieder aufgetaucht, bei dem sich in den 1990er Jahren die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) gegenüberstanden.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen vom 10. Oktober haben die Spannungen noch verschärft. Mehrere Akteure, darunter die schiitischen Milizen, akzeptieren das Wahlergebnis nicht. Auch der Drohnenangriff auf die Residenz von Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi am 7. November geht darauf zurück. „Die politischen Kräfte im Irak konzentrieren sich auf ihre eigene Agenda und kümmern sich offenbar nicht um die Gefahr, die von einem Wiedererstarken des IS ausgeht“, meint der franko-irakische Soziologe Adel Bakawan, der kürzlich ein Buch über die Geschichte des modernen Irak veröffentlicht hat.5

Während sich in Bagdad und Erbil die internen Streitigkeiten verschärfen, ist das Erstarken des IS Realität. Unsere Gesprächspartner bei der föderalen Polizei gestehen, dass sie seit mehreren Wochen im Kampf gegen den IS „nicht mehr vorankommen“, und machen dafür „die festgefahrenen politischen Probleme“ verantwortlich, wie sie in wolkigen Worten hinzufügen. Die Schlagkraft des IS ist mittlerweile derart gewachsen, dass die Dschihadisten auch weit entfernt von ihren Stützpunkten angreifen: So geschehen am 30. Oktober, als zwei kurdische Peschmerga mehr als 50 Kilometer nördlich von Kirkuk getötet wurden.

Der Zwischenfall brachte wieder eine mögliche Sicherheitszusammenarbeit zwischen kurdischen und irakischen Kräften aufs Tapet. Auch die Rückkehr der kurdischen Sicherheitskräfte in die umstrittenen Gebiete könnte wieder eine Option werden. Dass dies die Sicherheitslage verbessern würde, ist allerdings unwahrscheinlich. Der IS hat seine militärische Niederlage von 2017 offenkundig überlebt – was erneut zeigt, dass Kriege und Antiterroreinsätze allein die Probleme nicht lösen.

Ohne echten politischen Willen, die Region aus ihrer Isolation zu befreien und die zahlreichen sozioökonomischen Probleme anzugehen, scheint die Geschichte dazu verdammt, sich zu wiederholen. Der irakische Sicherheitsapparat handelt nach dem Gesetz der Vergeltung, was die Ressentiments in der Bevölkerung noch verstärkt, die seit fast 20 Jahren nichts als militärische Besatzung oder Marginalisierung erlebt hat. Es ist dieses sozioökonomische, politische und sicherheitsrelevante Vakuum, in das der IS immer weiter vorstößt.

1 Siehe Patrick Cockburn, “Kommt der Islamische Staat zurück?“, LMd, Dezember 2019; Shahinez Dawood, „Kirkouk la disputée“, in: Le Monde diplomatique (Hg.), „Le Combat kurde“, Ma­nière de voir, Nr. 169, Februar/März 2020.

2 Al-Haschimi, der auch ein Unterstützer der Antikorruptionsbewegung im Irak war, wurde am 6. Juli 2020 vor seinem Haus in Bagdad erschossen. Zuvor hatte er Morddrohungen sowohl von schiitischen Gruppen als auch vom IS erhalten.

3 „ISIS Thrives in Iraq’s ‚Money and Death‘ Triangle“, Newlines Institute, Washington, D. C., 11. August 2020.

4 „La guerre civile irakienne. Ordres partisans et politiques identitaires à Kirkouk (2003–2020)“, Paris (Karthala Éditions) 2021.

5 Adel Bakawan, „L'Irak, un siècle de faillite. De 1921 à nos jours“, Paris (Tallandier) 2021.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Laurent Perpigna Iban ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Laurent Perpigna Iban