09.12.2021

Von Bioko nach Barcelona

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Von Bioko nach Barcelona

Besuch bei der Exilopposition aus Äquatorialguinea

von Jean-Christophe Servant

Ala’ Hamameh, Bad Intentions, 2013, Acryl auf Leinwand, 100 x 80 cm
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Am 28. Mai 2021 zeigte der spanische Regisseur Marc Serena in Barcelona seinen Dokumentarfilm „El Escritor de un país sin librerías“ („Der Schriftsteller aus einem Land ohne Buchläden“). Es geht darin um den Schriftsteller Juan Tomás Ávila Laurel, der aus Äquatorialguinea stammt und seit 2011 in Katalonien lebt. Der 55-Jährige ist – neben Donato Ndongo – eine der bekanntesten literarischen Stimmen des Landes und seiner Diaspora. Inzwischen leben über 13 000 Menschen aus Äquatorialguinea in Spanien.

Die spanische Kolonie, bestehend aus den Provinzen Río Muni auf dem Festland und der Insel Fernando Poo, die heute Bioko heißt, sei ein „wichtiges Element des Franco-Regimes und seiner Jagd nach Größe“ gewesen, meint der Anthropologe Gustau Nerín von der Universität Barcelona. Wirtschaftlich war sie jedoch bedeutungslos. Nach der Unabhängigkeit am 12. Oktober 1968 kam Francisco Ma­cias Nguema an die Macht, ein Autokrat, der im August 1979 von seinem Neffen Teodoro Obiang Nguema gestürzt wurde. Der heute 79-Jährige hält den weltweiten Rekord der längsten Amtszeit eines Staatschefs: Im August 2021 war er 42 Jahre an der Macht. Auf der Welt gebe es für ihn drei Regierungsformen, sagt Nerín dazu: „Den Liberalismus, der fordert, der Staat solle sich nicht in wirtschaftliche Angelegenheiten einmischen; den Sozialismus, der verlangt, der Staat müsse die Armen schützen; und das guineische Regime, wo der Staat die Reichen schützt, subventioniert und verteidigt.“

Am 11. Februar 2011 zog der Schriftsteller Laurel internationale Aufmerksamkeit auf sich, weil er – inspiriert von den Ereignissen in Tune­sien – einen Hungerstreik in der Hauptstadt Malabo begonnen hatte. Damals befand sich gerade der spanische Parlamentspräsident José Bono Martínez auf Staatsbesuch im Land. „Ich wollte die Aufmerksamkeit der spanischen Regierung auf die Menschenrechtslage in Äquatorialguinea lenken“, sagt Laurel. „Sie sollte sich für eine Übergangsregierung einsetzen, an der kein Mitglied des Regimes beteiligt wäre.“ Madrid wollte zu dieser Zeit jedoch lieber die wirtschaftlichen Beziehungen zu seiner ehemaligen Kolonie stärken, denn das Land war inzwischen zum drittgrößten Ölexporteur im subsaharischen Afrika aufgestiegen.1 Schließlich sorgten das katalanische Regionalparlament und westliche Intellektuelle wie Noam Chomsky2 dafür, dass Laurel nach Spanien entkommen konnte.

Seitdem lebt Laurel in einem Vorort von Barcelona, mitten in den Hügeln. Dort erzählt er uns von den Sorgen um sein Land. Am 7. März wurde das Viertel Nkoantoma der Küstenstadt Bata, wo eine große Militärkaserne steht, durch vier Explosionen verwüstet. Bei dieser Katastrophe, die offiziell durch „schlecht überwachte Brandrodung in der Nähe eines Sprengstofflagers“ ausgelöst worden sein soll, starben 107 Menschen, mindestens 600 weitere wurden verletzt. „Ich dachte, nach diesem Drama würde in Äquatorialguinea ein Aufstand ausbrechen“, sagt der Schriftsteller. „Doch leider ist nichts passiert. Seit Franco hatten wir immer nur Diktaturen, und wir leben in einem System, das auf Angst gegründet ist.“

Die Demokratische Partei Äquatorialguineas (PDGE) von Präsident ­Obiang hält 99 der 100 Sitze im Abgeordnetenhaus und sämtliche Mandate im Senat. Die Opposition, die sich zum größten Teil im spanischen Exil befindet, besteht aus mehreren Gruppen. Die stärkste unter ihnen ist die sozialdemokratische Convergencia Para la Democracia Social, die auch als einzige noch in ihrem Heimatland präsent ist, dort aber über keinerlei Einfluss verfügt. Der Onlineradiosender La Voz De Los Sin Voz (Die Stimme der Stimmlosen), der von Angehörigen der Fang-Ethnie betrieben wird, spricht von Ernüchterung: Wenn keine Palastrevolution ausbricht, wird der 53-jährige Teodorin Obiang, der älteste Sohn des Präsidenten und heutige Vizepräsident, die Nachfolge des Vaters antreten. „Die Äquatorialguineer sind in Festlands- und Inselbewohner gespalten und orientieren sich nach wie vor an ihrer Ethnie, deshalb ist es so schwer, ein gemeinsames nationales Bewusstsein zu wecken“, erklärt Laurel.

Spanien beschönigt seine ­koloniale Vergangenheit

Er besitzt noch immer seinen äquatorialguineischen Pass und strebte nie den Status eines politisch Verfolgten an. Das zeuge von „Mut und Beständigkeit“, lobt seine Landsfrau, die Essayistin und Feministin Remei Sipi. Sie stammt aus der Bubi-Ethnie der Insel Bioko (mit 15 Prozent der Bevölkerung die wichtigste ethnische Minderheit des Landes) und lebt heute ebenfalls in Barcelona. Wie viele andere erhielt Sipi nach der Unabhängigkeit die spanische Staatsbürgerschaft. Sie gründete den ersten Verein zur Verteidigung der Rechte der äquatorialguineischen Ein­wan­de­r:in­nen in Spanien und kämpft weiterhin dafür, dass in ihrem Heimatland ein Rechtsstaat entsteht.

Wie Laurel reist sie regelmäßig dorthin. Ihre Berühmtheit schützt die beiden vor Willkürakten der Regierung, die sie ungehindert ein- und ausreisen lässt. Wer allerdings ganz in die Heimat zurückkehrt, muss sich große Zurückhaltung auferlegen, um die Staatsgewalt nicht zu provozieren. Das äquato­rial­guineische Regime ist berüchtigt für plötzliche Verhaftungen und Angriffe auf die Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Alle Kommunikationsmittel und -kanäle unterliegen dem staatlichen Monopol; und die einzigen Privatsender gehören der Asonga-Gruppe. Und die ist im Besitz von Obiang.

Das Gebiet des heutigen Äquatorialguineas wurde zwischen 1778 und 1810 von Spanien besetzt, ab 1844 kolonisiert, schließlich der franquistischen Segregationspolitik mit Säbel und Weihwasser unterworfen – und blieb der Weltöffentlichkeit nahezu unbekannt. „Für die Spanier ging die Zeit des Kolonialismus mit ihrem Abschied von Kuba 1898 zu Ende. Heute bewegen und empören uns die Ereignisse in der [ehemals spanischen] Westsahara sehr viel mehr als das, was am Golf von Guinea geschieht“, bedauert Michael Ugarte von der Universität Missouri, der ein Buch über die Diaspora Äquatorialguineas geschrieben hat.3 Und Carmen Bellas und Alberto Berzosa, die im Auftrag der Spanischen Kinemathek den Dokumentarfilm „Memorias de Ultramar“ („Erinnerungen aus Übersee“, 2020) mit Privataufnahmen aus der Kolonialzeit zusammenstellten, waren überrascht, wie schwer es war, überhaupt an Archivmaterial zu kommen.

In Spanien wird die frühere Kolonie gern in historischen Sepiatönen betrachtet. Das zeigt etwa der Erfolg des Films „Palmeras en la Nieve“ („Palmen im Schnee“), der 2015 über 1 Million Zuschauer in die Kinos lockte. Autorin der Romanvorlage ist Luz Gabás, die Tochter eines franquistischen Kolo­nia­lis­ten. Der Film spielt in den 1950er und 1960er Jahren auf der Insel Bioko und handelt von einer Romanze zwischen einem spanischen Vorarbeiter aus der Provinz Áragon und einer schönen Einheimischen auf einer Kaffeeplantage. Er bedient das Narrativ vom „positiven Kolonialismus“, die der Diktator Franco nur wenige Monate vor der Unabhängigkeit formulierte: „Spanien ist und war niemals kolonialistisch, es ist zivilisatorisch, und das ist etwas ganz anderes.“

„Palmeras en la Nieve“ wurde in Kolumbien und auf den Kanarischen Inseln gedreht und kürzlich auf Netflix gezeigt, es gab sogar eine offizielle Vorführung in Malabo. Der Dokumentarfilm über den Schriftsteller Laurel ist dagegen in Äquatorialguinea verboten, „einem Land, in dem man sich fühlt wie in der späten Franco-Zeit“, wie Regisseur Marc Serena erzählt. In Spa­nien hat kein Fernsehsender Interesse an seinem Film bekundet. Eine prominente Figur des spanischen Films, der Produzent (und Präsident von Atlético Madrid) Enrique Cerezo, unterhält dagegen beste Beziehungen zum Regime in Äquatorialguinea. Anlässlich der Dreharbeiten für den Spielfilm „1898. Los últimos de Filipinas“ („1898. Die Letzten auf den Philippinen“) in Malabo überreichte er Präsident Obiang eigenhändig ein Trikot seines Vereins.

Im Französischen gibt es den Begriff „Françafrique“ für die Politik gegenüber den einstigen Kolonien; doch das Spanische kenne kein Wort, das „die teuflische, schizophrene Beziehung“ eines kleinen Zirkels in Spanien zum Obiang-Clan in Malabo bezeichnet, schreibt der Journalist Xavier Montanyà.4 Äquatorialguinea liegt zwar nur noch auf Platz 9 der wichtigsten afrikanischen Wirtschaftspartner Spaniens, doch Montanyàs Recherchen zeigen „Korruptionsbeziehungen zwischen spanischen Firmen, Privatpersonen, Stiftungen, Beratungsgesellschaften und Thinktanks oder der Familienmafia der Obiangs, die sämtliche Ressourcen und Projekte in ihrem Land kon­trol­liert“.

Kick-backs, Freundschaftsgeschenke, Veruntreuung von Hilfsgeldern, Interessenkonflikte – im Katalog der Straftaten, den Montanyà vorlegt, tauchen prominente Politiker der großen Parteien und Mitglieder des spanischen Königshauses ebenso auf wie Medienvertreter und Bauunternehmen, die teure Prestigeprojekte für das Regime in Äquatorialguinea realisieren: den Flughafen, die Touristeninsel Corisco und die neue Hauptstadt Oyala.

Diese Informationen bestätigt auch der äquatorialguineische Journalist Delfin Mocache Massoko, der in Valencia lebt. Sein Vater ist der Opposi­tions­politiker Avelino Mocache Mehenga, der sich nach einer wechselhaften politischen Laufbahn einen Platz in der Regierung gesichert hat. Mocache Massoko betreibt das Investigativportal Diario Rombe und war Zeuge in einem Prozess gegen den Präsidentensohn Teo­do­rin Obiang wegen Geldwäsche und Unterschlagung in Frankreich. Im Februar 2020 wurde Obiang zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, sein französisches Vermögen beschlagnahmt.5 Dagegen gilt Spanien weiterhin als sicherer Hafen für Mitglieder der Öldiktatur, die veruntreute Staatsgelder vor allem in Immobilien investieren.6 Erdöl macht 97 Prozent der Exporte des Landes aus. Obwohl Äquatorialguinea im UN-Entwicklungsindex auf dem 165. Platz (von 189) rangiert, soll das Privatvermögen des Präsidenten 600 Millionen Dollar betragen.

Im Dezember 2015 wurde die 55-jährige Rita Bosaho Gori, eine in Äquatorialguinea geborene Krankenpflegerin aus Alicante mit einem Universitätsabschluss in Geschichte, auf der Liste der Partei Podemos ins spanische Parlament gewählt. Gori war die erste afrikanischstämmige Abgeordnete seit dem Übergang zur Demokratie nach Francos Tod, und sie war an der Gründung einer interfraktionellen Gruppe zu Äquatorialguinea beteiligt.

Doch mit ihrem Ausscheiden nach der Wahlniederlage im November 2019 war auch das Schicksal dieser Initiative besiegelt, und Äquatorialguinea geriet erneut in Vergessenheit. Mariano Rajoy von der konservativen Partido Popular war der letzte spanische Regierungschef, der Malabo 2014 einen Staatsbesuch abstattete. Der sozialistische Premierminister Pedro Sánchez fuhr im April 2021 ebenfalls nach Afrika, um seinen neuen Strategieplan „Foco África 2023“ zur Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen und zur Kontrolle der Migrationsströme vorzustellen. Er mied jedoch demonstrativ die ehemalige Kolonie und fuhr stattdessen nach Dakar und Luanda. Vielleicht war es ­eine Warnung an das Regime.

1 Siehe Jean-Christophe Servant, „Das Interesse der USA an den Erdölvorkommen Afrikas“, LMd, Januar 2003.

2 Vgl. „Chomsky elogia la ‚acción valiente‘ del escritor ecuatoguineano Juan Tomás Ávila contra el ‚horrible ré­gimen‘ de Obiang“, Europapress, Madrid, 14. Februar 2011.

3 „The culture of Exile and Emigration. From Equatorial Guinea to Spain“, Champaign (University of Illinois Press) 2010.

4 Xavier Montanyà, „La trama espanyola de la corrupció a Guinea“, VilaWeb, Barcelona, 16. April 2017, www.vilaweb.cat.

5 Clarissa Herrmann, „Geldwäscheaffäre Obiang: Präzedenzfall für korrupte Staatschefs“, DW, 10. August 2020.

6 Siehe „Un juzgado de Madrid admite a trámite una querella por blanqueo de capitales contra Melchor Esono Edjo y su hija“, Diario Rombe, 31. Mai 2021.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Jean-Christophe Servant ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Jean-Christophe Servant