11.11.2021

Klimapolitik im Zeitalter der Milliardäre

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Klimapolitik im Zeitalter der Milliardäre

Warum die Transformation radikal sein muss

von John Feffer

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Es war als die größte Transformation der neueren Geschichte gedacht. Gleichsam über Nacht sollte ein schmutziges, ineffizientes und ungerechtes Großsystem, das sich über elf Zeitzonen erstreckte, von Grund auf umgekrempelt werden. Viele Milliarden lagen bereit, um den Prozess voranzubringen. Ein neues Team von „Transformationsexperten“ arbeitete einen Umbauplan aus, und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung machte begeistert mit. Noch dazu sollte der große Sprung nach vorn als Vorbild für alle Länder dienen, die eine hoffnungslose Stagnation überwinden wollten. Doch es kam alles anders.

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach und aus ihren Ruinen als größter Nachfolgestaat das neue Russland entstand, heuerte die frisch gewählte Regierung von Boris Jelzin eine Clique ausländischer Experten an, die den Aufbruch in ein postsowjetisches System der Demokratie und der freien Marktwirtschaft bewerkstelligen sollten. Der Westen offerierte Kredite in Höhe von vielen Milliarden Dollar, die Russen steuerten die Erlöse aus der Privatisierung staatlicher Vermögenswerte bei.

All diese Gelder hätten ausgereicht, um Russland zu einem Schweden des Ostens zu machen. Stattdessen landeten sie großenteils in den Taschen einer neu entstandenen Klasse von Oligarchen. Es folgte die ökonomische Katastrophe der 1990er Jahre, in deren Verlauf 20 bis 25 Milliarden Dollar aus dem Land abflossen, während das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1991 und 1998 um fast 40 Prozent schrumpfte.

Die Sowjetunion war einst die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt gewesen. Das heutige Russland liegt in der globalen BIP-Rangliste – noch hinter Italien und Brasilien – an 11. Stelle; und auch das nur dank seiner Energieexporte und der in der Sowjetära aufgebauten Rüstungsindustrie. Was das BIP pro Kopf angeht, so liegt Russland auf Platz 78.

Es gab viele Gründe für das Scheitern der russischen Transformation: der Zusammenbruch eines Empires, ein jahrzehntelanger ökonomischer Niedergang, der rachsüchtige Triumphalismus des Westens, die grenzenlose Korruptheit einheimischer Opportunisten. Es wäre allerdings ein Fehler, dieses warnende Beispiel als einzigartigen historischen Unfall abzutun.

Wenn wir nicht aufpassen, könnte die Diagnose des russischen Scheiterns leicht zur Prognose für die gesamte Menschheit werden. Denn heute droht erneut ein Transformationsprozess verpfuscht, eine goldene Gelegenheit verschenkt zu werden. Die Welt ist gerade dabei, nicht Milliarden, sondern Billionen von Dollar für einen noch weit grundlegenderen Wandel auszugeben – und zwar von einer ähnlich schmutzigen, ineffizienten, ungerechten Wirtschaftsordnung in eine … ja, in was eigentlich? Falls es die Weltgemeinschaft irgendwie schafft, die Lehren aus früheren Transformationsprozessen zu ziehen, werden wir eines Tages in einer weit gerechteren, CO2-neutralen Welt leben, die ihre Energie aus erneuerbaren Quellen bezieht.

Aber darauf sollte man nicht wetten. Derzeit wird zwar dreckige nach und nach durch erneuerbare Energie ersetzt, allerdings ohne ein einziges der Probleme anzugehen, die aus der industriellen Prägung unseres Produktionssystem resultieren. Wir sollten uns daran erinnern, was die Ablösung der staatlichen Planwirtschaft durch freie Märkte in Russland hervorgebracht hat: eine Kombination aus endemischen Krankheiten der alten Wirtschaftsordnung und Strukturdefekten des Kapitalismus. Und bei der nun anstehenden globalen Transformation wäre das noch nicht einmal das Worst-Case-Szenario. Denn sie wird womöglich gar nicht stattfinden, oder die Herausbildung einer klimaneutralen Wirtschaftsweise wird sich über Jahrzehnte hinziehen.

Die Anhänger eines „Grünen New Deal“ schwärmen von einer Win-win-Bilanz: Solaranlagen und Windturbinen werden jede Menge billiger Energie produzieren, die Klimakrise wird entschärft, dreckige Arbeit durch saubere ersetzt. Und der Globale Norden wird dem Globalen Süden helfen, die Phase der „normalen“ Industrialisierung zu überspringen und in eine glorreiche grüne Zukunft einzutreten. Doch in der Realität sind so umfassende Transformationsprozesse niemals eine Win-win-Angelegenheit. Im Fall der russischen Transformation vom Kommunismus zum Kapitalismus gab es fast nur Verlierer, und unter den Folgen leidet das Land bis heute. Andere grundlegende Wandlungsprozesse – etwa die Agrarrevolution im Neolithikum oder die verschiedenen industriellen Revolutionen – sind auf jeweils eigene Art ähnlich katastrophal verlaufen.

Das entscheidende Problem liegt letztendlich vielleicht weniger bei der misslichen Ausgangslage als vielmehr im Mechanismus der Transformation selbst, denn die kann grausame Folgen haben oder gar in einen Genozid münden. Man frage nur die Neandertaler. Oh sorry, das kann man natürlich nicht, denn die wurden schon in einer großen Transformation vor 40 000 Jahren ausgelöscht, als sich der Homo sapiens durchsetzte. Und doch haben diese Hominiden nicht nur Knochen und Werkzeuge, sondern auch einen kleinen Teil ihrer DNA in der Erbmasse der heutigen Menschen hinterlassen.

Auch die Sowjetunion huldigte dem Wachstumsmythos

Die Neandertaler könnten auch infolge des Klimawandels ausgestorben sein; wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie von unseren Vorfahren getötet wurden. Damit hatten die Neandertaler ein ex­tremes, aber keineswegs einzigartiges Schicksal. Denn wann immer die Menschen einen großen Sprung nach vorn machen, hinterlassen sie in der Regel einen Riesenhaufen von Knochen.

Nehmen wir das Beispiel der Agrarrevolution, die das Ende der Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften bedeutete (von denen nur noch einige wenige in isolierten Regenwaldzonen Brasiliens überleben). Sie bescherte der Menschheit das Geschenk der Zivilisation, bis hin zu Schriftsprache, Handel und politischer Organisation. Aber dieser Habenseite steht die Schadenseite gegenüber, wie der Anthropologe Jared Diamond in einem berühmten Aufsatz dargelegt hat: Die neolithische Revolution brachte zugleich Krankheiten, Mangelernährung und krasse ökonomische Ungleichheit, was sie für Diamond zum „schlimmsten Fehler in der Geschichte der menschlichen Gattung“ macht.1

Zehntausend Jahre später hat die Menschheit womöglich einen noch weit schlimmeren Fehler begangen. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts hat zwar dazu geführt, dass wir eine höhere Lebenserwartung und genügend Nahrungsmittel haben, um die Weltbevölkerung zu ernähren, und neuerdings auch Tiktok. Doch zugleich hat die Anwendung neuer Technologien durch „die Wirtschaft“ zu einer ruinösen Plünderung unseres Planeten geführt. Was noch bedrohlicher ist: Mit der industriellen Revolution haben die Menschen, wie uns ein Blick auf die Kurve der CO2-Emissionen lehrt, zum ersten Mal begonnen, das Erdklima auf vielleicht irreversible Weise zu verändern, indem sie fossile Brennstoffe in immer irrwitzigerem Tempo verbrennen.

Die neue Religion des Wachstums um jeden Preis kostete auch zahllose Menschenleben. In den „dunklen Teufelsmühlen“ (William Blake) der frühen Fabriken wurden Kinder verheizt; ein neues Proletariat war zu einem scheußlich harten und kurzen Leben verdammt; viele Millionen Menschen wurden Opfer des Kolonialismus, der eine riesige Schneise der Zerstörung durch den Globalen Süden schlug. Und so schufen die durch Plünderung und Ausbeutung reich gewordenen Oligarchen der Industrialisierung die Basis für ein Zeitalter, das sie das „Goldene“ nannten. Tatsächlich war es eine Epoche atemberaubender ökonomischer Ungleichheit, die heute in Gestalt unseres „Zeitalters der Milliardäre“ eine verblüffende Renaissance erlebt.

Wie sich zeigen sollte, huldigten dann aber auch die Kommunisten, bei aller Kritik an den Grausamkeiten des Kapitalismus, dem Gott des unbegrenzten Wachstums. Angefangen mit Lenin, glaubten sie, dass die neuen kommunistischen Staaten dank staatlich gesteuerter Modernisierung und Zwangsmaßnahmen mehr produzieren könnten als die kapitalistischen Länder. Doch ihr Ehrgeiz, den Prozess der industriellen Modernisierung auf wenige Jahre zu komprimieren, um den Westen zu überholen, kam die eigene Bevölkerung teuer zu stehen. Die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren führte zu etwa 10 Millionen Toten. In China kostete der „Große Sprung nach vorn“ (1958–1962) sogar 45 Millionen Menschenleben. Und während die Leichenberge immer größer wurden, organisierte die kommunistische Ein-Prozent-Elite – eine neue Klasse von Parteifunktionären und ihrer Kumpane – ihren eigenen privaten „Sprung nach vorn“.

Für den Soziologen Peter L. Berger pflegen der Kommunismus wie der Kapitalismus ein Konzept ökonomischer Entwicklung, das auf dem „Opfer“-Gedanken beruht. Das heißt: „Fortschritt“ und „Wachstum“ sind mythische Größen, die gewisse Menschenopfer fordern – wie einst die Priester der Azteken, die mit rituellen Tötungen die Götter versöhnen und ihre Zivilisation retten wollten. In seinem Buch „Pyramids of Sacrifice“ schrieb Berger schon 1974, dass die Eliten „ihre privilegierte Position fast ausnahmslos mit angeblichen Wohltaten legitimieren, die sie für ‚das Volk‘ erbringen oder zu erbringen vorhaben“. Freilich kommen diese versprochenen Wohltaten in den meisten Fällen der Elite zugute und nicht den Massen.

Damit sind wir wieder bei der „großen Transformation“ der 1990er Jahre, als realsozialistische Länder kehrtmachten, um in Richtung Kapitalismus umzuschwenken. Natürlich kann man die Verluste, die Russland in dieser Zeit erlitt, nicht mit dem Schrecken der Kollektivierung in den 1930er Jahren vergleichen. Und doch musste fast die gesamte Bevölkerung – abgesehen von den wenigen, die zu Banditen wurden – Einbußen hinnehmen, weil die Transformationskosten die Rentnerinnen, die Arbeiter und Bauern weit überproportional belastet haben.

In den frühen 1990er Jahren war ein Drittel der russischen Bevölkerung unter die Armutsgrenze gesunken. Die Lebenserwartung der Männer ging zwischen 1990 und 2000 von 63 auf 58 Jahre zurück. Die allgemeine Ernüchterung über die „liberale Marktwirtschaft“ förderte den politischen Aufstieg von Wladimir Putin, der sich die enttäuschten Hoffnungen clever zunutze machte. Die Popularitätswerte des russischen Präsidenten sind nach wie vor ziemlich hoch, obwohl nur 27 Prozent der Russinnen und Russen glauben, dass es ihnen heute wirtschaftlich besser geht als zu Zeiten der Sowjetunion.

In den anderen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks gab es ähnliche, wenn auch nicht so folgenschwere Verwerfungen. Und es gab mehr Gewinner, etwa in Polen, wo erstmals das Experiment der „Schocktherapie“ zum Einsatz kam. Von diesem schlagartigen Übergang zum Kapitalismus hat vor allem eine junge, gut ausgebildete, vorwiegend städtische Elite profitiert, die erfolgreich die Welle des Wandels gesurft hat.

Aber auch in Polen gab es die Transforma­tions­verlierer: ältere und weniger gebildete Leute vorwiegend aus ländlichen Gegenden. Die allerdings übten späte Rache mittels Stimmzettel, denn sie brachte bei den Wahlen von 2015 die entschieden antiliberale Partei namens Recht und Gerechtigkeit (PiS) an die Macht, die bis heute in Warschau regiert. Eine ähnliche Entwicklung brachte auch in anderen Ländern Osteuropas – in Tschechien, Ungarn und Slowenien – rechtspopulistische Regierungen an die Macht.

Allerdings konnten sich diese Länder, ungeachtet der Ernüchterung über das Resultat der Transformation, auf ein Fundament stützen, das Russland nicht hatte: die Europäische ­Union. Dank eines stetigen Zuflusses von Subventionen und Kapital sowie technischer Unterstützung beim Aufbau politischer und rechtsstaatlicher Institutionen konnten diese ost- und zentraleuropäischen EU-Mitglieder das vormals übermächtige Russland ökonomisch abhängen. Die Kluft, die den Osten der EU von dem reicheren Westen trennt, ist auch heute noch groß, aber vom Leben eines EU-Bürgers zweiter Klasse können die meisten Russinnen und Russen nur träumen.

Die beiden geschilderten Transformations­erfah­rungen bieten wertvolle Lehren darüber, was in der Klimafrage auf uns zukommen könnte. Nimmt man die Verlautbarungen der Regierungen wörtlich, nehmen fast alle den Klimawandel sehr ernst. Fast alle Länder dieser Erde spüren den Druck, sich zu CO2-Neutralität bis zum Jahr 2050 (oder früher) zu bekennen.

Der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), auch Weltklimarat genannt, beschreibt in seinem 6. Sachstandsbericht (dessen erster Teil am 9. August vorgelegt wurde) die globale Erwärmung als einen „großflächigen, schnellen und sich intensivierenden“ Prozess. Den illustriert der IPCC-Report mit angst­einflößenden Fotos von den Waldbränden in Kalifornien und Sibirien, den Überflutungen in Deutschland und China, den Hitzewellen in Kanada und Sizilien und von anderen Katastrophen. Wer all diese Alarmsignale ignorieren will, muss seinen oder ihren Kopf schon tief in den Sand stecken – oder sich ganz im Sand vergraben.

Trotz solcher unübersehbarer Warnhinweise hat die Welt das Tempo bei der Treibhausgasreduktion immer noch nicht erhöht. Auch auf der jüngsten großen Klimakonferenz in Glasgow hat sich gezeigt, dass die führenden Volkswirtschaften der Welt weiter hinter den Verpflichtungen zurückbleiben werden, die sie vor knapp sechs Jahren in Paris eingegangen sind.

Noch erschreckender ist folgende Aussage des IPCC-Reports: Selbst wenn die einzelnen Länder ihre Zusagen erfüllen würden, wäre damit bis 2030 nur eine Reduktion der CO2-Emissionen um 1 Prozent (gegenüber dem Niveau von 2010) zu erzielen. Um das Worst-Case-Szenario eines überhitzten Planeten zu verhindern, müssten die Emissionen jedoch um fast 50 Prozent reduziert werden, und das innerhalb der nächsten neun Jahre. Auf einen derart dramatischen Einschnitt arbeiten nur ganz wenige Länder hin.

Dabei ist die Zeit für bescheidene Reformen längst abgelaufen. Eine radikale Kürzung der Emissionen ist nicht zu schaffen, indem man Plastiktrinkhalme verbietet, die Produktion von Elektroautos hochfährt oder auch eine Milliarde Bäume pflanzt. Der Kampf gegen den Klimawandel verlangt eine Transformation, die mit den agrarischen und industriellen Revolutionen vergleichbar ist. Aber wenn es genauso läuft wie bei diesen früheren Systemwechseln, wird der nächste „Sprung nach vorn“ ein riesiges Heer von Verlierern hinterlassen.

Damit es nicht dazu kommt, wurden verschiedene Vorschläge für eine „gerechte Transforma­tion“ ausgearbeitet, die bislang allerdings nur auf dem Papier stehen. Zum Beispiel das Konzept einer „fairen Lastenverteilung“, bei dem die Industrienationen Billionen Dollar an den Globalen Süden transferieren müssten, um den armen Ländern zu helfen, ihre fossilen Brennstoffe im Boden zu lassen und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Ein ähnlicher Ansatz sieht vor, innerhalb der einzelnen Länder die „Tranforma­tions­verlierer“ – wie etwa die Beschäftigten im Kohlebergbau – gezielt zu unterstützen, um ihnen eine „grüne“ Perspektive zu eröffnen.

Allerdings stehen solche Konzepte im Gegensatz zur herrschenden politischen Praxis. So hat die internationale Gemeinschaft bei ihrer Reak­tion auf die Pandemie keineswegs eine „faire Lastenverteilung“ praktiziert. Vielmehr haben die reichsten Länder den Markt für Impfstoffe monopolisiert und die ärmeren Länder mit dürftigen Rationen abgespeist. Und obwohl die Coronakrise die einmalige Chance bot, auch den Kampf gegen den Klimawandel aufzunehmen, haben die meisten Regierungen nicht daran gedacht, mit den bewilligten Geldern zur postpandemischen Wirtschaftsbelebung zugleich wichtige ökonomische Transformationsprozesse anzustoßen.

Zwei Beispiele aus den USA: In dem gigantischen „Rettungsplan“ in Höhe von 1,9 Billionen Dollar (der allerdings im Kongress zusammengestrichen wurde) sind lediglich 50 Millionen Dollar für Maßnahmen im Bereich „Umweltgerechtigkeit“ vorgesehen; dagegen sollen die Flughäfen mit 8 Milliarden Dollar für ihre Umsatzausfälle entschädigt werden. Volle 10 Prozent der Infrastrukturausgaben von 1 Billion Dollar sollen in Straßen und Brücken investiert werden, was die klimafeindliche Begeisterung für Autos, SUVs und schwere Trucks eher noch befeuert.

Und wo bleibt die unerlässliche Umschichtung der Finanzhilfen, um die Transformation im Globalen Süden zu unterstützen? Die reichen Länder hatten bereits 2009 versprochen, bis 2020 für diese Zwecke 100 Milliarden Dollar aufzubringen. Aber diese Gelder, von denen 20 Milliarden Dollar immer noch nicht geflossen sind, wurden weitgehend in Form von Krediten – statt Zuschüssen – gewährt. Damit wird die Abhängigkeit und die Verschuldung des Globalen Südens nur noch weiter vertieft.

Doch es kommt noch schlimmer: Die reichen Länder haben die bescheidene Reduzierung ihres CO2-Fußbadrucks nur deswegen erreicht, weil sie ihre dreckigen Industriezweige in ärmere Länder verlagert haben oder CO2-intensive Produkte importieren, statt sie im eigenen Land herzustellen. China zum Beispiel erhöht fortlaufend seinen Anteil an erneuerbaren Energien im eigenen Land, finanziert aber 70 Prozent aller Kohlekraftwerke, die weltweit gebaut werden (wenn auch Staatschef Xi Jinping zugesagt hat, diese Praxis zu beenden). Und die Europäische Union lässt zwar die Energieproduktion aus Kohle schrittweise auslaufen (was China eben nicht tut), ist aber weiterhin von CO2-haltigen Importen aus Ländern angewiesen, die immer noch – wie Russland, die Türkei, Marokko und Ägypten – auf Kohle setzen.

Die EU hat, um die Verlagerung von CO2-Emissionen von Norden nach Süden zu bekämpfen – und ihre eigenen weniger CO2-intensiven Industrien zu schützen –, sogenannte Grenzausgleichsmaßnahmen (in Form des Carbon Border Adjustment Mechanism) vorgeschlagen, das heißt Importzölle für Zement, Düngemittel, Stahl und ähnliche Produkte, deren Höhe sich an der bei der Produktion ausgestoßenen CO2-Mengen bemisst. Dies aber würde zulasten der Länder gehen, die eine grüne Transformation ihrer Exportindustrien nicht finanzieren können.

Der Elefant im Raum wird immer größer

Der Globale Süden hat nicht nur kein Geld, er ist auch noch hoch verschuldet. Die ärmsten Länder müssen jeden Monat fast 3 Milliarden Dollar für ihren Schuldendienst aufbringen. Diese Gelder fehlen für die Transformation des Energiesektors und der industriellen Infrastruktur. Deshalb wäre ein umfassender Schuldenschnitt nach der fairen Formel „Schuldenerlass gegen Klimafortschritte“ dringend geboten.

Noch ehrgeiziger wäre die Gründung einer „Organisation für ökologische Notfall-Kooperation“, die Billionen Dollar für die öffentliche Finanzierung des weltweiten Übergangs zu sauberer Energie bereitstellen würde. Als Vorbild könnte dabei die Integration ehemaliger Ostblockländer in die Europäische Union dienen. Denn mit dem Transfer von Finanzmitteln, Ausbildungshilfen und Technologien von West nach Ost konnte die EU den Transformationsprozess abfedern, der im Fall Russland so zerstörerisch war.

Das reichte zwar nicht aus, um überall blühende Landschaften entstehen zu lassen, aber die gebremste Großzügigkeit der Europäischen Union war doch ein Schritt in Richtung jener ökonomischen Solidarität, die der Globale Norden im Hinblick auf die Klimaziele mit dem Globalen Süden aufbringen muss. Wenn wir, um den globalen CO2-Fußabdruck zu reduzieren, den „Gürtel enger schnallen“ müssen, sollten diejenigen vorangehen, die sich eine Schlankheitskur am ehesten leisten können.

Damit ist die wichtigste aller Fragen angesprochen: die Gerechtigkeit. Das Problem der gerechten Lastenverteilung ist der Elefant im Raum, über den niemand spricht. Und das Viech wird immer größer. In der Vergangenheit basierten alle großen Umwälzungen auf einem starken Wirtschaftswachstum. Das galt etwa für die Agrarrevolution mittels einer rasant ansteigenden Nahrungsmittelproduktion oder für die Entwicklung der Sowjetunion in ein Industrieland im Zuge ihrer Fünfjahrespläne. Die meisten Versionen eines „Green New Deal“ beruhen auf demselben Wachstumsmodell: mit Horden von Elektroautos, die die Straßen verstopfen, und mit Unmengen „nachhaltig produzierter“ Waren, die auf den Weltmärkten zirkulieren.

Die reicheren Länder geloben zwar, ihren CO2-Abdruck zu reduzieren, aber sie gehen immer noch davon aus, dass sie ihren allgemeinen Way of Life bewahren und sogar in den Rest der Welt exportieren können. Aber diese „Hochenergie“-Zivilisation – mit all den Computern, Klimaanlagen und E-SUVs – lebt auf Kosten des Globalen Südens. Im Zuge eines „ungleichen Tauschs“ erzielt der Globale Norden einen jährlichen Gewinn – in Form von unterbezahlten Arbeitskräften und Waren –, der auf 2,2 Billionen Dollar geschätzt wird. Dieser Wertetransfer ist in seinen Dimensionen durchaus mit der Ausbeutung des kolonialen Zeitalters vergleichbar.

Und noch etwas kommt hinzu: Der Globale Süden liefert auch viele der „strategisch wichtigen“ Rohstoffe: von Kobalt und Lithium für die Batterien der E-Autos über Gallium und Tellurium für Solarzellen bis zu den seltenen Erden, die man für den Bau von Windturbinen benötigt. Der Abbau riesiger Mengen dieser Mineralien wird wahrscheinlich enorme Umweltkosten verursachen.

Die Grundannahme einer expansiven Produktion, von der das aktuelle Wirtschaftssystem ausgeht, wird heute von konservativen Industriekreisen unter dem Etikett „grünes Wachstum“ wiederaufbereitet. Bei der Transformation des Kommunismus in den 1990er Jahren hatten die „roten Kapitalisten“ dank ihrer Positionen im alten System die besten Voraussetzungen, von der neuen „Freiheit“ zu profitieren. Heute erleben wir den Aufstieg einer Klasse „grüner Kapitalisten“, die im Rahmen der sogenannten Post-CO2-Ökonomie gigantische Profite einfahren: Elon Musk in der neuen Welt der Elektroautos, Millionäre wie Robin Zeng und Huang Shilin mit Lithium-Ionen-Akkus und Aloys Wobben mit Windturbinen. Selbst für noch unfertige Projekte – vom „blauen Wasserstoff“ bis zum Abbau von seltenen Erden auf dem Meeresgrund – kann man heute riesige Geldsummen einsammeln.

Gigantische Profite minus effektive Kontroll­aufsicht – ein optimales Umfeld für Missbrauch und Rechtsverletzungen. Bei den Windfarmen der 1990er Jahre war Subventionsbetrug an der Tagesordnung, und beim Ausbau der Erneuerbaren haben Unternehmen des Nordens immer wieder hemmungslos Entscheidungsträger im Globalen Süden bestochen. Der zusätzliche Geldsegen, der aus „grünen Kassen“ in Infrastruktur- und Transformationsprogramme fließt, könnte leicht – wie die in Russland im Zuge der Privatisierung abgreifbaren Milliardensummen – in dubiosen privaten Unternehmungen, in den schwarzen Löchern der Bürokratie oder im Sumpf der Korruption versickern.

Die steigende Flut hebt alle Boote vom Grund, lautet einer der neoliberalen Sprüche: Wirtschaftswachstum führt zum Wohlstand für alle. Aber in einer Welt im Klimawandel bekommt das Bild der „steigenden Flut“ eine ganz andere Bedeutung. Unser Planet verträgt kein Wachstum mehr, egal welcher Farbe. Die nächste Transformation muss sich, was ökonomisches Wachstum und soziale Gerechtigkeit betrifft, von allen früheren unterscheiden.

Wir können den Problemen nicht einfach durch noch mehr Wachstum entkommen. Trotz der ökonomischen und politischen Ungleichheiten, die in unserer Welt herrschen, müssen wir einen gemeinsamen Weg finden, um das auf fossilen Energien basierende Wirtschaftsmodell hinter uns zu lassen. Nur gemeinsam können wir uns verändern – oder gemeinsam scheitern.

1 Jared Diamond, „The Worst Mistake in the History of the Human Race“, Discover, 1. Mai 1999.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

John Feffer ist Programmleiter für Außenpolitik am Institute for Policy Studies, Washington, D. C., und Autor; zuletzt erschien von ihm „The Pandemic Pivot“, Amsterdam (Transnational Institute) 2020.

© Agence Global; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von John Feffer