11.11.2021

Die Pressefreiheit der anderen

zurück

Die Pressefreiheit der anderen

von Serge Halimi und Pierre Rimbert

Audio: Artikel vorlesen lassen

Im März 2017 begann Wikileaks mit seinen Enthüllungen über die Methoden, mit denen die CIA elektronische Geräte ausspioniert. Bei den „Vault 7“-Dokumenten handelte es sich nach Angaben des US-Geheimdienstes um das bislang größte Datenleck in seiner Geschichte.

Zu diesem Zeitpunkt hielt sich der Wikileaks-Mitbegründer Julian As­sange bereits seit fünf Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London auf, um einer Auslieferung zu entgehen. Damals war die Führung der CIA entschlossen, ihn in seine Gewalt zu bringen, und dachte sogar über Mordpläne nach. Zunächst zogen sie eine Entführung in Betracht. Die Immunität der ecuadorianischen Botschaft zu verletzen, um mitten in London einen australischen Staatsbürger zu kidnappen, wäre allerdings diplomatisch heikel gewesen.

Also redeten sie sich ein, Assange bereite unter heimlicher Mitwirkung Ecuadors und des Kremls seine Flucht nach Russland vor. Daraufhin wurden abenteuerliche Szenarien durchgespielt: Schusswechsel mit Kreml-Agenten in Londons Straßen; ein russisches Diplomatenfahrzeug rammen, um As­sange in die Hände zu bekommen; oder einem russischen Flugzeug in die Reifen schießen, um es am Abheben Richtung Moskau zu hindern. Eine Hypothese lautete, Assange könnte versuchen, in einem Wäschecontainer zu fliehen. Letztlich entzog das Nein des Weißen Hauses zu juristisch windigen Operationen derlei Vorhaben die Grundlage.

All diese Pläne werden detailliert in einem Artikel geschildert, den ein Journalistenteam von YahooNews am 26. September ins Netz gestellt hat, nachdem es rund 30 Mitarbeiter US-amerikanischer Sicherheitsbehörden befragt hatte.1 Am 13. April 2017 hatte der damalige CIA-Direktor Mike Pompeo lauthals erklärt: „Wikileaks ist aus Sicht der Vereinigten Staaten ein feindlicher Geheimdienst, der häufig von Russland unterstützt wird.“

Man dürfe nicht länger zusehen, „wie Assanges Kollegen uns unter Berufung auf die Meinungsfreiheit mit dem Diebstahl von geheimen Informationen schweren Schaden zufügen“, hatte Pompeo gedroht: „Wir werden ein deutlich schärferer Geheimdienst werden und unsere grimmigsten Agenten an die gefährlichsten Orte schicken, um mit ihnen fertigzuwerden.“

Wenn Assange Nawalny wäre

Die Recherche von YahooNews schlug erwartungsgemäß hohe mediale Wellen: Empörte Leitartikler beschworen das Recht auf Informationsfreiheit und warnten, die Demokratie sei in Gefahr, der „Illiberalismus“ auf dem Vormarsch. Der Yahoo-Bericht ist schon deshalb besonders glaubwürdig, weil der leitende Investigativjournalist Michael Isikoff des Antiamerikanismus und der Sympathien für Moskau gänzlich unverdächtig ist: Im März 2018 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Russisch Roulette: Ein Insiderbericht über Putins Angriff auf die USA und die Wahl von Donald Trump“.

Dem Wall Street Journal, der Washington Post oder der New York Times waren die Enthüllungen von Yahoo dennoch zwei Wochen lang keine Zeile wert.2 Gleiches galt für Le Monde, Le Figaro, Libération, Les Échos und Agence France Presse. Der Guardian und der Spiegel brachten zwar Onlineberichte, gingen aber erst mal nicht näher darauf ein. Die Agentur Bloomberg widmete ihnen gerade einmal 28 Worte.

Diese mangelnde Aufmerksamkeit steht im krassen Gegensatz zu dem internationalen Aufschrei nach der versuchten Ermordung des Rechtsanwalts Alexei Navalny.3 Auch er ist ein Mann, der sich unerschrocken der Macht entgegenstellt; auch er ist ein Whistleblower, der vom Staat bedroht und verfolgt wird.

Nawalny sitzt allerdings in einem russischen Kerker und nicht in einer Londoner Haftanstalt. Der unterschiedliche Umgang der Medien mit diesen beiden Helden zeigt sehr deutlich, wie biegsam die Begriffe „Menschenrechte“ und „Pressefreiheit“ sind, als deren Verteidiger sich die westlichen Medien gern gerieren. Es hat den Anschein, als wäre Nawalny durch seine Opposition gegen Präsident Putin „menschlicher“ als Assange, der ebenfalls ein Dissident ist – aber eben ein Dissident in der „freien Welt“.

In ihrem Klassiker „Manufacturing Consent“4 zeigten Edward Herman und Noam Chomsky 1988, dass „Propagandasysteme Opfer, die der Feind verschuldet hat“, anders darstellen als die, „die die eigene Regierung oder ein befreundeter Staat verursacht hat“. Als Beispiel führten sie den eklatant unterschiedlichen Umgang mit zwei Morden an Geistlichen an, die etwa zur gleichen Zeit geschahen und von Polizisten beziehungsweise Paramilitärs verübt wurden: der Ermordung des salvadorianischen Erzbischofs Oscar Romero im März 1980 und dem Mord an dem polnischen Priester Jerzy Popiełuszko im Oktober 1984.

Beide Geistliche waren für ihre Oppositionshaltung gegenüber den Mächtigen bekannt. Herman und Chomsky nahmen die Berichterstattung der wichtigsten US-Presseorgane unter die Lupe und kamen zu dem Ergebnis, dass „ein Opfer wie Popiełuszko 137- bis 179-mal so viel wert war wie das Opfer eines mit den USA befreundeten Staates“. Bekanntermaßen gehörte Polen damals zum sowjetischen Einflussbereich und somit zum „Reich des Bösen“.

Im Fall von Assange und Nawalny ist die Diskrepanz nicht so stark ausgeprägt: Seit Assange sich am 19. Juni 2012 in die Botschaft Ecuadors flüchtete, wurde er in Le Monde laut dem zeitungseigenen Archiv in 225 Artikeln erwähnt. Navalny kam im gleichen Zeitraum in 419 Beiträgen vor. Doch die beiden schneiden nicht nur statistisch unterschiedlich ab, sondern werden auch nach unterschiedlichen Bewertungsrastern beurteilt.

Im Zusammenhang mit dem „Hacker“ Assange ist von einem „ambivalenten Werdegang“ (Le Monde, 15. April 2019) die Rede; der „antiamerikanische Aktivist“ habe „bereitwillig die Geheimnisse demokratischer Staaten gestohlen“, während er „bei autoritären Ländern nicht so eifrig zur Stelle“ gewesen sei (Le Monde, 26. Februar 2020).

Nawalny hingegen wird rückhaltlose Unterstützung zuteil. Le Monde hat ihm bislang fünf Leitartikel gewidmet, und in keinem davon wird ihm sein „ambivalenter Werdegang“ vorgehalten. Dabei hatte Amnesty International zeitweilig beschlossen, ihn nicht mehr als „Gewissensgefangenen“ zu bezeichnen, weil er sich in einer nationalistischen Organisation engagiert, an den fremdenfeindlichen „Russischen Märschen“ teilgenommen und sich rassistisch über Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien geäußert hatte.

Amnesty begründete seine Entscheidung seinerzeit damit, dass Nawalny „2007 und 2008 diskriminierende Aussagen getätigt hatte, die möglicherweise als Hassreden betrachtet werden können“. Im Mai 2021 erkannte die Organisation ihm den Status allerdings wieder zu, nachdem die russischen Behörden die Aberkennung auf zynische Weise für ihre Zwecke missbraucht hatten.

Wenn man über Nawalny berichtet, den „Blogger und Anwalt, der sich gegen die Korruption des Staates stellt“, ist von der Strenge, mit der Assange behandelt wird, nichts zu spüren. Nawalny wird als moderner Meister der sozialen Netzwerke und sogar als Berufskollege gefeiert: „Der investigative Journalismus, den er betrieben hat, stellt das Universum der Korruption extrem wirkungsvoll an den Pranger und erreicht dank der Onlinevideos sehr viele Menschen“ (Le Monde, 22. August 2020).

„Die Tragik des Julian Assange“, resümierte 2019 der Journalist Jack Dion, bestehe darin, „dass er Australier ist und kein Russe. Würde er vom Kreml verfolgt, würden die Regierungen sich darum streiten, wer ihm zuerst Asyl gewähren darf. Sein Konterfei würde an der Fassade des Pariser Rathauses hängen, und Anne Hidalgo würde die Beleuchtung des Eiffelturms so lange ausschalten, bis er wieder auf freiem Fuß ist.“5

Einst stand der Australier, der 2010 vom US-Magazin Time 2010 zur „Person des Jahres“ gekürt wurde, bei westlichen Journalisten hoch im Kurs. Er lieferte ihnen zahlreiche Scoops in einem geopolitischen Klima, das weit entspannter war als heute.

Aber seit Wikileaks 2016 E-Mails der Demokratischen Partei veröffentlichte und die CIA dahinter einen russischen Hackerangriff vermutete, wird As­sange von westlichen Medien heftig attackiert. „Hören wir, wenn Assange redet, in Wirklichkeit Putin sprechen?“, titelte zum Beispiel am 2. September 2016 die internationale Ausgabe der New York Times.

Solange die Regierung Biden ihren Auslieferungsantrag wegen Spionage nicht zurückzieht, bleibt Assange in Haft. Für den Fall, dass er abgelehnt wird, kennen wir jetzt immerhin schon einige der Mordpläne, die bei der CIA in der Schublade liegen.

Im vergangenen Monat erhielt der russische Journalist Dmitri Muratow zusammen mit seiner philippinischen Kollegin Maria Ressa den Friedensnobelpreis, weil er das gefährdete Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigt hat. Und Alexei Nawalny hat kurz darauf vom Europäischen Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen bekommen. Ob wohl im nächsten Jahr Julian Assange einen dieser Preise erhält? Immerhin hat das deutsche PEN-Zentrum ihn inzwischen zum Ehrenmitglied gemacht.

1 Zach Dorfman, Sean D. Naylor und Michael Isikoff, „Kidnapping, assassination and a London shoot-out: Inside the CIA’s secret war plans against WikiLeaks“, YahooNews, 26. September 2021. Siehe auch: „Nichts ist tabu“, taz, 1. Oktober 2021

2 Siehe John McEvoy, „Deathly Silence: Journalists Who Mocked Assange Have Nothing to Say About CIA Plans to Kill Him“, Fairness & accuracy in reporting (Fair), New York, 8. Oktober 2021.

3 Siehe Hélène Richard, „Lichtgestalt mit kleinen Flecken“, LMd, März 2021.

4 Edward S. Herman und Noam Chomsky, „Manufacturing Consent“, New York (Pantheon Books) 1988.

5 „Ah! Si Julian Assange avait été russe …“, ­Marianne, 19. April 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von Serge Halimi und Pierre Rimbert