11.11.2021

Der Preis der Energie

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Der Preis der Energie

In diesem Herbst sind die Energiepreise steil angestiegen. Das liegt nicht nur an der anziehenden Konjunktur und der steigenden globalen Nachfrage. In den EU-Ländern bekommen die Konsumenten auch die Folgen der Deregulierung zu spüren, die ihre Stromversorgung einem volatilen Markt überlassen hat.

von Aurelien Bernier

Matthias Garff, Hoppel, 2015, Birkenstämme, Holz, Reifen, Linoleum, 210 × 120 × 370 cm
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Seit Ende des Sommers 2021 steigen die Energiepreise weltweit. In Frankreich wurde der Regeltarif für Haushaltsgas in diesem Jahr bereits um 57 Prozent angehoben. Die Strompreise für Normalverbraucher sind bereits über die letzten zehn Jahre von 120 Euro pro Megawattstunde auf 190 Euro angestiegen, 2022 werden sie einen weiteren Schub erleben.

Die Energiepreise treiben die Inflationsrate in der Eurozone auf den höchsten Stand seit 2008 (im September lag sie bei 3,4 Prozent), was insbesondere Menschen in prekären Verhältnissen und Unternehmen trifft. Die Inflation ist nicht nur konjunkturell bedingt, ihre eigentlichen Ursachen liegen in Brüssel.

Am 19. Dezember 1996 verabschiedeten die EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie „Gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt“. Mit der Stromversorgung, die ein natürliches Monopol darstellt, sind in vielen Mitgliedstaaten öffentliche Unternehmen betraut; Produktion, Übertragungsnetz und Verteilungsnetz – zur Versorgung der Einzelhaushalte – liegen also in einer Hand. Die EU-Richtlinie von 1996 wollte dagegen einen „konkurrenzfähigen und wettbewerbsorientierten Elektrizitätsmarkt“ schaffen. Eine ähnliche Richtlinie vom Juni 1998 zielt auf die Privatisierung des Gassektors.

Dieses neoliberale Modell wurde von den Ökonomen der Chicagoer Schule entwickelt und zunächst in Chile, später in Großbritannien erprobt. Es beruht auf zwei Prinzipien. Erstens sieht es eine „eigentumsrechtliche Entflechtung“ vor, um die Tätigkeitsfelder, die innerhalb eines öffentlichen Unternehmens integriert waren, in selbstständige Sparten aufzuspalten. Insbesondere sollen die Verteilungsnetze von rechtlich und bilanzmäßig eigenständigen Firmen betrieben werden, um den Energieerzeugern und -versorgern einen „fairen“ Wettbewerb auf deregulierten Märkten zu ermöglichen.1

Termingeschäfte mit dem Strom

Das zweite neoliberale Grundprinzip ist die Schaffung von Gas- und Strombörsen. Das heißt, Marktpreise an der Börse lösen die Preisgestaltung durch die öffentliche Hand ab. In Frankreich lief das zunächst auf nationaler Ebene, bevor die nationalen Märkte schrittweise auf europäischer Ebene inte­griert wurden. Die Strom- und Gasverteiler können ihre benötigten Volumen auf dreierlei Weise einkaufen: mittels Termingeschäften, also zu einem Preis, der mit dem Produzenten ein Jahr, einen Monat oder auch nur eine Woche im Voraus vereinbart wurde, über kurzfristige Spotgeschäfte oder über Käufe zu Realtime-Kursen.

Bei der Liberalisierung des Gassektors und der Elektrizitätsbranche traten unterschiedlich politische Probleme und auch Hindernisse auf. Frankreich fördert praktisch kein Gas, sondern muss es importieren. 2020 waren die wichtigsten Gaslieferanten Norwegen mit 36 Prozent, Russland mit 17 Prozent, die Niederlande und Algerien mit je 8 Prozent und Nigeria mit 7 Prozent.2

Seitdem konkurrierende Verteilerfirmen vom früheren Monopol unabhängig sind, können sie Gas aus verschiedenen Förderländern einkaufen, während sie für die Nutzung der französischen Infrastruktur lediglich eine Gebühr entrichten müssen. Im Wettbewerb hat also der die Nase vorn, der Gas am günstigsten einkauft – oder seine Betriebskosten am stärksten drücken kann.

Gas de France schloss früher langfristige Lieferverträge mit einer Laufzeit von 10 bis 15 Jahren ab. Das diente der Versorgungssicherheit und erlaubte zugleich eine risikoarme Finanzierung der Infrastruktur (Gasleitungen, Gastanker, Terminals). Zu Beginn der Privatisierung setzten die meisten neuen Gasversorger ebenfalls auf langfristige Verträge. Aber mit zunehmendem Wettbewerb verlegten sie sich stärker auf Spotgeschäfte.

Diese Entwicklung führt der Energiepreis-Experte Thomas Reverdy vor allem auf den Opportunismus der Industriellen zurück: „Als die Preise für Spotgeschäfte in den Keller gingen, forderten die Großverbraucher ihre Versorgungsunternehmen auf, diese ­Baisse auszunutzen und billiger zu liefern. Daraufhin kündigten die Versorger ihre

langfristigen Verträge und schlossen Spotgeschäfte ab, und die Preise bestimmten sich stärker über den Spotmarkt.“3

Dieser Trend verstärkte sich noch, als Flüssiggas (LNG) zunehmend auf den Markt drängte. Die LNG-Lieferungen erhöhten die Liquidität, aber auch die Volatilität des Markts. Seit 2015 entfällt nur noch ein Drittel der europäischen Gasgeschäfte auf langfristige Verträge. Die Erdgaspreise unterliegen nicht nur konjunkturellen Schwankungen, sie reagieren auch immer sensibler auf spekulative Manöver. Und die Kursschwankungen an der Börse schlagen unmittelbar auf die Verbraucherpreise durch.

Den Stromsektor für den Wettbewerb zu öffnen war schwieriger als im Fall des Gasmarkts. Frankreich produziert deutlich mehr Elektrizität, als das Land selbst verbraucht. Der Erzeuger EDF (Électricité de France) besitzt einen Großteil der Produktionsstätten, und insbesondere die Atomkraftwerke, die der Staat auf keinen Fall privatisieren möchte. Dadurch war die EU gezwungen, ihr wirtschaftsliberales Konzept an die französischen Verhältnisse anzupassen.

Um das nahezu vollständige Monopol von EDF zu durchbrechen, begann die EU die Entwicklung erneuerbarer Energien durch private Stromerzeuger zu fördern. Brüssel entwickelte dafür ein neuartiges Subventionssystem: Für den Einspeisetarif gilt ein garantierter Preis, der deutlich über den durchschnittlichen Kosten für die Stromerzeugung liegt.

Dieses Prinzip wurde für Frankreich mit einem im Februar 2000 verabschiedeten Gesetz übernommen, das private Investitionen in erneuerbare Energien „absichert“. Es sieht Zuschüsse vor, deren Höhe von der produzierten Energiemenge abhängt und die über eine Verbrauchssteuer finanziert werden.

Der Aufbau von Produktionsbetrieben in Asien hat die Preise für Photovoltaikmodule und Windgeneratoren zu Beginn der 2010er Jahre massiv gedrückt. Dank der garantierten Einspeisetarife wurde die Entwicklung von Stromprojekten aus erneuerbaren Energien damit sehr lukrativ. Für den Zeitraum von 2002 bis 2013 schätzt die französische Energieregulierungsbehörde die Subventionskosten auf 7,4 Milliarden Euro. Die installierte Leistung der – überwiegend privatwirtschaftlichen – Photovoltaik- und Windkraftanlagen kletterte im Jahr 2020 auf 28 Gigawatt – gegenüber 93 Gigawatt aus den Kraftwerken des traditionellen Elektrizitätsversorgers.4

In Brüssel weiß man, dass EDF als Stromerzeuger trotz allem einen entscheidenden Vorteil behalten wird, da die staatlich dominierte Gesellschaft über die Atomkraftwerke verfügt. Deshalb will die EU im Bereich Versorgung eine Wettbewerbssituation schaffen, die allerdings durch den Erzeugerpreis bestimmt wird. Infolgedessen einigten sich Paris und Brüssel auf einen Kompromiss: EDF überlässt ein Viertel seiner jährlich produzierten Atomenergie seinen Konkurrenten auf dem französischen Markt, und zwar zu einem Tarif, der von der öffentlichen Hand gedeckelt wird.5

Dafür gelten statt der von den Behörden regulierten Tarife, die den Produktionskosten von EDF entsprachen, künftig Marktpreise. Für alle Nichthaushaltsverbraucher (also vor allem gewerbliche Betriebe) bedeutete dies, dass die regulierten Tarife schlicht entfielen. Für die Privathaushalte wird bei der Berechnung des alten EDF-Tarifs nun ein Faktor einbezogen, der den Strompreis an der europäischen Börse widerspiegelt. Das heißt: Wenn die Marktpreise steigen, erhöht sich auch der regulierte Stromtarif – ohne dass dies durch die Produktionskosten gerechtfertigt wäre.

Vor Kurzem kam aus Brüssel der Vorschlag für eine neue Variante „dynamischer“ Strompreisbildung, bei der die Börsenbewegungen in Echtzeit (stündlich aktualisiert) an den Verbraucher weitergegeben werden. Die Europäische Richtlinie vom 5. Juni 2019 beschränkt sich nicht darauf, diese Methode zu genehmigen, sondern macht sie sogar zur Pflicht für „jeden Lieferanten mit mehr als 200 000 Endkunden“. Mit dieser Berechnungsmethode wird das Börsenrisiko an alle Haushalte, Kommunen und Unternehmen weitergereicht.

Die schrittweise Ersetzung gesetzlich geregelter Stromtarife durch Marktpreise ist mitnichten nur eine harmlose Reform. In der „alten Welt“ der Elektrizität, als in Frankreich noch die staatlichen Versorgungsunternehmen dominierten, wurden die Tarife nach zwei Kriterien festgelegt: Zum einen sollten die Verbraucher den Strom zum günstigsten möglichen Preis beziehen, zum anderen sollte die EDF so viel verdienen, dass sie die erforderlichen Investitionen in das Energienetz vornehmen konnte.

In diesem Sinne nahm die EDF ihre Produktionsanlagen nach einer bestimmten Rangfolge in Anspruch: Als Erstes die kostengünstigsten Anlagen (Windkraft- und Solarparks, Laufwasserkraftwerke und AKWs), die teuersten dagegen als Letzte (Wärmekraftwerke). Um den Verbrauchertarif festzulegen, ermittelte der Staat einen optimierten „Gesamtpreis“, der einem Energiemix entsprach.

Mit der Strombörse läuft es völlig anders. Der Kurs pro Megawattstunde schwankt je nach Angebot und Nachfrage von Minute zu Minute. Zuzeiten des Spitzenverbrauchs ermöglicht der Markt den Betreibern von Wärme- oder Wasserkraftwerken, die für einen Ausgleich in den europäischen Netzen sorgen, besonders schnelle Profite. Das animiert clevere Betreiber, ihre Kraftwerke erst dann dazuzuschalten, wenn die Preise am höchsten sind.

Auf die Gaskraftwerke entfallen im Schnitt 20 Prozent der gesamten europäischen Stromproduktion (Zahlen von 2020), ein viel größerer Anteil aber zu Spitzenverbrauchszeiten. Auch deshalb wirkt sich der Anstieg des Erdgaspreises unmittelbar auf die Kursentwicklung an der Strombörse aus. Preistreibend wirken aber auch die Verteuerung der Kohle und Schwankungen auf anderen Märkten, die auf ähnliche Instrumente setzen, wie etwa auf Energieeffizienzzertifikate, Herkunftsnachweise für Strom aus erneuerbaren Energiequellen oder Kapazitätszertifikate. Kurzum, der Strompreis ergibt sich aus einem Zusammenwirken autonom ablaufender Börsenmechanismen.

Angesichts des exponentiellen Preisanstiegs im Herbst 2021 versuchen die Regierungen einzuschreiten. Doch angesichts der unglaublich komplexen Mechanismen werden sie kaum Erfolge erzielen. Zumal sie die meisten ihrer Regulierungsmöglichkeiten längst auf dem Altar des europäischen Wettbewerbs geopfert haben. Was ihnen noch bleibt, ist ein Eingriff bei den Energiesteuern, die Italien, Spanien und Portugal inzwischen gesenkt haben, um den Anstieg der Strompreise zu stoppen.

Solche Maßnahmen ändern aber nichts an der Realität. Deshalb verurteilen Verbraucherverbände das System immer offener, desgleichen industrielle Großkunden, deren Produktionskosten inzwischen ein bedrohliches Niveau erreicht haben. Auch Arbeitnehmervertreter fordern immer häufiger, den Energiesektors wieder unter staatliche Obhut zu stellen. So hat die Gewerkschaft Sud Énergie dazu aufgerufen „Strom aus dem Markt herauszulösen“, um „langfristig Planungssicherheit für Investitionen sowie stabile, nachvollziehbare und gerechte Preise zu gewährleisten“.6

Der Gewerkschaftsbund Nationaler Verband für Bergbau und Energie propagiert ein „fortschrittliches Energieprogramm“, um einen reformierten öffentlichen Dienst unter Berücksichtigung von Energieeffizienz und -leistung zu schaffen.7

Angesichts der explodierenden Preise wurde die Zerschlagung von EDF aufgeschoben.8 Doch in Brüssel ist keinerlei Einlenken zu erkennen. Die Europäische Union bleibt offenbar auch weiterhin bei ihrer Logik der Deregulierung und der Privatisierung. Die Aufgabe, den Energiesektor aus dem Spiel der Marktkräfte herauszulösen, verweist also auf eine viel weiter reichende Frage: Wie können wir die ultraliberalen rechtlichen Regelungen, die den Staaten von der EU ­aufgezwungen wurden, wieder loswerden?

1 In Frankreich wurden die Übertragungsnetze RTE und ERDF (heute Enedis) aus Électricité de France (EDF) „herausgelöst“. Bei Gaz de France (heute Engie) wurde das Netz von Erdgashochdruckleitungen und das Verteilungsnetz ebenfalls auf zwei neue Unternehmen namens GRTgaz und GRDF aufgeteilt.

2 „Chiffres clés de l’énergie. Édition 2021“, Ministe­rium für den ökologischen Wandel (Umweltministerium), September 2021.

3 Siehe Thomas Reverdy, „La construction politique du prix de l’énergie“, Paris (Presses de Sciences Po) 2014.

4 Dieser Aufschwung bei der installierten Leistung aus erneuerbaren Energien wird jedoch relativiert, wenn man den Auslastungsgrad der diversen Anlagen betrachtet. Der erreichte für das ganze Jahr 2020 nur 14,4 Prozent bei der Photovoltaik, 23 Prozent bei thermischer Energie, 26,5 Prozent bei Windkraft, 29 Prozent bei Wasserkraft und 61 Prozent bei Atomkraft.

5 Dieser Mechanismus läuft unter dem Namen ­ARENH (Accès régulé à l’électricité nucléaire historique).

6 „Augmentation des prix de l’électricité: dossier d’analyse“, SUD-Énergie, 16. September 2021.

7 „Programme progressiste de l’énergie de la FNME CGT“, CGT, 12. Juni 2020.

8 Siehe Anne Debrégeas und David Garcia, „Herkules und die Hydra des Wettbewerbs“, LMd, Februar 2021.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Aurélien Bernier ist Autor von „Les voleurs d’énergie. Accaparement et privatisation de l’électricité, du gaz, du pétrole“, Paris (Éditions Utopia) 2018.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von Aurelien Bernier