09.09.2021

Präsident wider Erwarten

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Präsident wider Erwarten

Der linke Dorfschullehrer Pedro Castillo hat die Wahl in Peru knapp gewonnen – aber keine Mehrheit im Parlament

von Romain Migus

Keiko Fujimori im Wahlkampf, Lima 17. Mai 2021 ­picture alliance/­ZUMAPRESS/El Comercio
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Die Stadt Cajamarca im Norden Perus rühmt sich, Ort einer welthistorischen Begegnung zu sein. Im Jahr 1532 trafen hier zwei Welten aufeinander: Die spanischen Konquistadoren in Gestalt Francisco Pizarros und die Inka in Gestalt ihres letzten Herrschers Atahualpa. Es war alles andere als eine freundschaftliche Begegnung. Pizarros Männer machten sich den Krieg zwischen Atahualpa und seinem Halbbruder Huáscar zunutze, um den König gefangen zu nehmen.

Nach seiner Hinrichtung machten sie sich daran, das Reich, das die Territorien des heutigen Peru und Ecuador umfasste, zu unterwerfen. So begann die Epoche der gnadenlosen Ausbeutung dieses Gebiets, die auch mit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert und dem Ende der Kolonialzeit nicht aufhörte.1 Seither erleiden die Anden, wie der Rest Lateinamerikas, einen ständigen Aderlass. Ihre Reichtümer erschöpfen sich, der Schaden bleibt.

Jetzt, fast fünf Jahrhunderte später, glauben manche, das Departement Cajamarca sei erneut Schauplatz eines historischen Wendepunkts. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen standen sich in der Stichwahl am 6. Juni 2021 wieder zwei Welten gegenüber, verkörpert durch die beiden Kan­di­da­t:in­nen, die kaum gegensätzlicher sein könnten: Auf der einen Seite Keiko Fujimori, Erbin des autoritären Neoliberalismus, den ihr Vater Alberto Fujimori dem Land zwischen 1990 und 2000 aufgezwungen hatte.

Fujimoris klientelistisches und korruptes System hat ihn überlebt; diese lange Agonie ist ein wesentlicher Grund für die demokratische Krise, in der das lange als politisch stabil geltende Land steckt. Seit 2016 hatte Peru vier Präsidenten, drei von ihnen mussten sich wegen Korruption vor Gericht verantworten, der vierte, Alan García, zog es vor, Suizid zu begehen.2

Gegen Keiko Fujimori trat ein Lehrer aus dem ländlichen Cajamarca an: Pedro Castillo, ein Mann aus sehr einfachen Verhältnissen, einer, der weiß, was Landarbeit ist. „Ein Peruaner wie alle anderen“ war einer seiner Wahlkampfslogans.

Die eine Seite, das ist die Hauptstadt Lima, wo 30 Prozent der Bevölkerung und 48,1 Prozent des produzierten Reichtums3 konzentriert sind, dazu die übrigen großen Städte und die nördliche Pazifikküste. Es ist die Seite der Wirtschafts­elite, die die Ausbeutung des Landes betreibt, die Kampfgenossen Pizarros sozusagen. Die andere Seite, das sind die Gebirgsregionen, die ländlichen Gebiete, der Süden Perus – und die Indigenen, die Nachfahren Atahualpas.

Nur dass 2021 nicht 1532 ist. Castillo, der vor einem Jahr kaum damit gerechnet haben dürfte, überhaupt in die Stichwahl zu kommen, legte am Ende eines schier endlosen Wahldramas die Präsidentenschärpe um und trug dazu seinen traditionellen Hut. Der Graben zwischen den beiden Welten ist mit seinem Sieg nicht verschwunden, das Land bleibt so gespalten wie eh und je. Im ersten Wahlgang haben Castillo und Fujimori nur 18,5 Prozent aller Wahlberechtigten für sich gewinnen können. Allein das zeigt schon, wie diskreditiert die Politikerkaste in den Augen vieler ist. Und durch die Coronakrise hat sich ihr Ansehen noch weiter verschlechtert.

Mit fast 6000 Todesfällen auf eine Million Einwohner weist Peru im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die weltweit höchste Sterblichkeitsrate im Zusammenhang mit Covid-19 auf. Das weitgehend privatisierte Gesundheitssystem hatte der Pandemie nichts entgegenzusetzen. Durch die Abwesenheit des Staates in den Provinzen sind Millionen von Menschen sozial und medizinisch völlig auf sich gestellt. Hier tragen die Menschen oft zwei Masken übereinander – ihre einzige Chance, eine Ansteckung zu vermeiden.

In den städtischen Zentren, wo drei Viertel der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten und praktisch von der Hand in den Mund leben, hat die fehlende staatliche Unterstützung seit Beginn der Pandemie mehr als drei Millionen Menschen – ein Zehntel der Bevölkerung – in die absolute Armut gestürzt.4 Und nun hat dieses Land gerade eine Revolution erlebt. Zum ersten Mal hat es einen Präsidenten, der dem Volk gleicht, das er vertreten soll.

Im ländlichen Nordwesten wird der Niedergang immer sichtbarer, je weiter man sich von der Departementshauptstadt Cajamarca entfernt. Entlang der Straße nach Puña, einem Weiler im Herzen der peruanischen Kordilleren in der Provinz Chota, glänzt der Staat vor allem durch Abwesenheit. Tagebauminen an den Berghängen machen den kleinen Subsistenzbetrieben, die Mais, Bohnen, Kartoffeln und Maniok anbauen, den Platz streitig. Es gibt keine geteerten Straßen, nur gewundene Wege. Wir erreichen Castillos Heimatort erst nach vielen Stunden. Am Ortseingang von Puña pflügen Bauernfamilien die Felder mit Ochsen; nur die etwas Wohlhabenderen haben uralte motorisierte Einachsschlepper. Hier bestimmt die Feldarbeit den Tag. Am Ende eines felsigen Pfads steht ein Haus aus Lehmziegeln. In der Küche mit ihrem gestampften Lehmboden dampft es aus Töpfen über einem offenen Feuer. Im weißen Licht einer Glühbirne wird das Gesicht von Mercedes Castillo sichtbar.

Er trägt den für die Bauern der Region typischen Strohhut, den auch sein Bruder Pedro bei allen seinen öffentlichen Auftritten trägt. „In unserem Land ist die Sklaverei nicht verschwunden. Wir werden weiterhin ausgebeutet, von anderen Peruanern, von unseren eigenen Leuten“, sagt er. Und was ist mit dem „peruanischen Wunder“, von dem man überall liest? „Davon bekommen wir hier nichts mit.“

Auf den Anhöhen des Arbeiterviertels San Juan de Lurigancho in Lima bestätigt Augustina Cardenal, Leiterin einer olla común, einer selbstverwalteten Suppenküche, diese Diagnose: „Die Menschen haben Hunger, es gibt keine Arbeit. Wir haben weder fließendes Wasser noch Strom. Da, wo ich wohne, gibt es nur eine Toilette für 300 Menschen.“

Mit der Coronapandemie sind nun neue Forderungen laut geworden. Vor allem Frauen, die bisher bestenfalls am Rande der traditionellen politischen oder gewerkschaftlichen Strukturen standen, treten mit ihren Forderungen in die Öffentlichkeit. Castillos sozialer Hintergrund und seine Vergangenheit als Gewerkschaftsaktivist gaben ihnen eine Projektionsfläche und vielleicht auch die Hoffnung, dass der Staat sich ihrer Probleme endlich annehmen wird.

Denn auch wenn der neue Präsident nicht aus den Reihen der politischen Elite stammt, ist „El Profe“, der Lehrer, in der politischen Landschaft Perus kein Unbekannter. 2017 scheuchte eine große soziale Bewegung das Land auf. Auslöser waren Pläne der Regierung, Lehrerstellen abzubauen und stattdessen Honorarkräfte auf Zeit zu beschäftigen.

Dies führte vor allem auf dem Land zu großem Unmut. Fernab der Städte sind es häufig die Lehrkräfte, die zu Wortführern werden. Sie stellen soziale Forderungen und organisieren Proteste, etwa gegen den schlechten Zustand der Straßen oder den fehlenden Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Sie arbeiten also in einer doppelten Funktion: als Lehrende und als Community Organizer.

Der Ärger über diese und andere Reformen der neoliberalen Regierung unter Präsident Pedro Pablo Ku­czyns­ki (2016–2018) brachte Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße. Die Mitglieder der peruanischen Lehrergewerkschaft Sutep warfen ihrer Führungsspitze vor, dass sie die Regierungspolitik mittrage oder zumindest dulde. Innerhalb der Gewerkschaft wurde erbittert gestritten. Schließlich organisierten sich die Lehrenden selbst und wählten für den Streik eigene Sprecher. Einer von ihnen war Pedro Castillo.

Die Regierung versuchte zunächst die Spaltungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung auszunutzen und die Streikenden als linksradikale Extremisten zu diskreditieren und zu isolieren, indem sie sie mit der maois­ti­schen Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuch­ten­der Pfad)5 in Verbindung brachte. Als ihr das nicht gelang, musste sie einlenken und die Reform abblasen. Der erfolgreiche Lehrerstreik 2017 trug sehr dazu bei, dass Castillo sich politische Legitimität verschaffen konnte. Das magisterio, ein von Lehrenden geschaffenes Netzwerk, bildet die nicht zu unterschätzende politische Basis des Lehrers und späteren Präsidenten.

Seine Präsidentschaftskampagne stützte sich auch auf eine weitere Ins­ti­tu­tion: die rondas campesinas (Bauern­runden). Gegründet wurden sie – zuerst übrigens im Departement Cajamarca –, um die Untätigkeit des Staats in den Bereichen Sicherheit und Justiz zu kompensieren. Während der Kämpfe zwischen der Armee und dem Sendero Luminoso in den 1990er Jahren verteidigten die Leute der Rondas ihre Dörfer gegen Übergriffe der einen oder anderen Seite.

Die Rondas spielen jedoch noch eine andere wichtige Rolle, erklärt Ma­nuel Quintana. Wir treffen ihn ein paar Kilometer von Puña entfernt in Cuyumalca, wo die Rondas ihren Anfang nahmen. „Wenn jemand in der Gemeinschaft nicht genug zu essen hat oder gepflegt werden muss, dann tun wir uns zusammen, um zu helfen. Wir kümmern uns also nicht nur um die Sicherheit hier, sondern auch um alle anderen Probleme, soziale Probleme, und auch um die Infrastruktur.“

José Marino, ein anderer rondero, ergänzt: „Die Ronda ist eine demokratische, selbstverwaltete Organisation, an der alle teilhaben. Alle Entscheidungen werden in einer Vollversammlung getroffen, die gesamte Gemeinschaft ist dabei. Wir bestimmen alle zwei Jahre, wer uns vertritt. Außerdem wählen wir die Delegierten für die regionalen und nationalen Vertretungen.“

Aus diesen kommunalen Selbstverwaltungsgruppen gingen die aktivsten Unterstützernetzwerke von Castillos Wahlkampagne hervor. Sie schlossen sich mit den vielen Selbsthilfeorganisationen zusammen, die sich während der Coronapandemie gegründet hatten, um der wirtschaftlichen Katastrophe etwas entgegenzusetzen. Dem Kandidaten Castillo scheint es gelungen zu sein, ein diffuses Wir-Gefühl zu politisieren. Keine der traditionellen Parteien war dazu noch imstande.

Obwohl er parteiübergreifend antrat, musste sich Castillo von einer der existierenden Parteien als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen. Er entschied sich für Perú Libre (Freies Peru). Diese 2009 von dem in Kuba ausgebildeten Chirurgen Vladimir Cerrón gegründete Partei versteht sich als marxistisch-leninistisch, aber vor allem bezieht sie sich auf José Carlos Mariátegui (1894–1930), den peruanischen Vordenker eines spezifisch lateinamerikanischen Sozialismus. Ihm schwebte ein Modell vor, das „weder Abklatsch noch Duplikat“ des Sozialismus europäischer Prägung sein sollte. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass Perú Libre in diesem äußerst konservativen Land ziemlich aus dem Rahmen fällt.

Ab 2019 versuchte die Partei die verschiedenen linken Strömungen für die kommenden Präsidentschaftswahlen unter einem gemeinsamen Banner zu vereinen. Als dieser Plan scheiterte, wandte Cerrón sich an Castillo. „Wir hatten schon während des Lehrerstreiks 2017 Kontakt mit ihm“, erzählt er, „und dann haben wir ihm vorgeschlagen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen für Perú Libre antritt.“ Seine Partei habe, indem sie einen Gewerkschafter an die Spitze setzte, „zugleich auch den Gewerkschaften gezeigt, dass sie sich nicht darauf zurückziehen können, immer nur Forderungen zu stellen, sondern dass das Ziel die Übernahme der Macht sein muss“. Man habe zwar nicht damit gerechnet zu gewinnen, aber nun sei man bereit zu regieren.

Der Partei spielte dabei eine besondere Konstellation in die Hände: Einige Monate zuvor hatte Verónika Mendoza ihre Kandidatur für die Präsidentschaft verkündet, was für einige Aufregung bei der Rechten und in den (allesamt privaten) Medien sorgte. Als Vorsitzende der Partei Nuevo Perú (Neues Peru) steht die Feministin für ein linkes Programm, das jedoch gemäßigter ist als das von Perú Libre. Es gelang ihr, sich vom Sendero Luminoso, von Venezuela und von Kuba zu distanzieren, den in den Medien so beliebten linken Schreckgespenstern.

Um zu verhindern, dass Mendoza es in den zweiten Wahlgang schaffte, führte Perú Libre eine massive Kampagne gegen alle sozialen Themen, die der Kandidatin besonders am Herzen lagen, wie etwa die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nach einer Vergewaltigung. Die Folge war, dass sich ein Teil ihrer erschrockenen Anhänger am Ende für Castillo entschied.

Der Lehrer, dessen Partei sich ausdrücklich nicht gegen die Regierungen in Havanna und Caracas aussprach, konnte sich dann tatsächlich im ersten Wahlgang behaupten. Zwei zusätzliche Umstände wirkten zu seinen Gunsten: die Themen, die ihn mit Perú Libre und dessen Wählern verbinden, und die, die er mit dem Rest der Linken gemeinsam hat.

Sein sozialer Konservatismus gefällt allerdings nicht allen. Er ist gegen Abtreibungen und gegen die Homo-Ehe – wie die große Mehrheit der katholischen Peruaner. Zudem hat er sich mehrfach für die Abschiebung ausländischer Straftäter ausgesprochen. In dem nach wie vor sehr konservativ geprägten Land entsprechen diese Posi­tio­nen ziemlich genau den Erwartungen der unteren Schichten.

Bis auf Weiteres lassen sich die verschiedenen Positionen jedoch noch gut miteinander vereinbaren, denn Castillos Programm ist zwar radikal – Verstaatlichung der Energiereserven, Stärkung der Rolle des Staats, Aufstockung der Mittel für Bildung und Gesundheit, eine Agrarreform und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, um die Demokratie in Peru neu zu definieren – aber es bleibt zugleich auch vage.

Überdies gelang es Castillo, die Unzufriedenen und Protestwähler hinter sich zu bringen, einfach deshalb, weil er etwas ganz bestimmt nicht ist: Nach Angaben des Instituts für peruanische Studien haben 25 Prozent seiner Wähler ihm nur deshalb ihre Stimme gegeben, weil sie gegen die Rückkehr des autoritären Fujimorismus und die Fortsetzung des bisherigen neoliberalen Modells sind.6

Ein erheblicher Teil der Wählerschaft ist andererseits keineswegs empfänglich für Castillos Vorschläge zur Stärkung des Sozialstaats. Die Demontage der staatlichen Institutionen und die Auflösung der gesellschaftlichen Solidarität seit der Fujimori-Ära haben eine merkwürdige Art von neoliberalem Konsens hervorgebracht. Der Staat wird von vielen als ineffizient und korrupt wahrgenommen, als bloßer Diener der Multis. Viele Bürgerinnen und Bürger suchen daher ihr persönliches Heil im privaten Unternehmertum, und sei es auch nur in einem familiengeführten Kleinstgewerbe.

Diese Idee eines „Volkskapitalismus“ spricht jene Teile der Gesellschaft an, die Angst vor der Unsicherheit eines zu radikalen Kurswechsels haben. Und ihre Sorgen wurden zur Grundlage einer massiven Medienkampagne, die sich auf einen weit verbreiteten Antikommunismus stützte. Castillo wurde unermüdlich mit einem Trommelfeuer von Fake News eingedeckt – und natürlich wurde dafür auch das Gespenst des Leuchtenden Pfads aktiviert. „El Profe“ wurde als Terrorist, Kommunist und Chavist bezeichnet, der die Wirtschaft verstaatlichen, Einfuhren beschränken oder verbieten und Peru ins Elend stürzen werde. Die Fähigkeit der Medien, Ängste zu schüren, wird in den kommenden Monaten ein entscheidender Faktor sein.

Ressourcen verstaatlichen, ­Abtreibung verbieten

In Castillos Kabinett, das am 30. Juli vorgestellt wurde und noch vom Parlament bestätigt werden muss, sind Ver­tre­te­r:in­nen verschiedener politischer Richtungen sowie sozialer und gewerkschaftlicher Bewegungen vertreten. Während Ministerpräsident Guido Bellido als ein Cerrón nahestehender linker Hardliner gilt, sind die Ministerien für Bildung, Gesundheit, Verteidigung, auswärtige Angelegenheiten und Inneres mit Fachleuten besetzt, die keine Vergangenheit als Politaktivisten haben, auch wenn sie alle eher auf der linken Seite des ideologischen Spektrums stehen. Das wichtige Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung wird von einem Gewerkschafter geführt, und in der Regierung sind zudem auch Mitglieder diverser linker Parteien vertreten.

Die Besetzung des Wirtschaftsressorts mit Pedro Francke soll die Märkte beruhigen: Der künftige Minister hat das Dekret 1276 von Präsident Kuczynski wiederbelebt, das wegen der Krise des Gesundheitssystems in der Pandemie außer Kraft gesetzt worden war. Das Dekret beinhaltet eine Schuldenbremse, die das Haushaltsdefizit ab 2022 auf 3,7 Prozent deckelt, und die Neuverschuldung auf 38 Prozent begrenzt. Unter solchen Bedingungen die Wirtschaft wiederzubeleben, wird schwierig – umso mehr, als der Monetarist Julio Velarde seinen Posten an der Spitze der Zentralbank behalten wird, den er seit 2006 innehat.

Trotz dieser deutlichen Signale an die Mitte reagierten die Medien mit Empörung. Gleich nach der Bekanntgabe der Ministerliste druckte La República, eine linksliberale und traditionell antifujimoristische Zeitung, auf ihrer Titelseite ein riesiges „Nein, Herr Präsident“ und erklärte: „Bellido zum Ministerpräsidenten zu ernennen heißt, dem Land den Rücken kehren.“7

Der einflussreiche Journalist César Hildebrandt kommentierte in der von ihm herausgegebenen Wochenzeitung: „Das Kommando hat Cerrón. Wenn Castillo sich nicht sofort distanziert, bedeutet dies, dass er sich für die Konfrontation und letztlich den Selbstmord einer Regierung entscheidet, die so viele Hoffnungen geweckt hat.“8

Mit der Nominierung von Héctor Béjar für den Posten des Außenministers brach ein Sturm der Entrüstung los. Der Professor und ehemalige Guerillakämpfer war in den 1960er Jahren gefangen genommen und 1970 amnestiert worden, um Mitglied der linken Regierung unter Juan Velasco Alvarado (1968–1975) zu werden. Béjar werden Äußerungen vorgeworfen, die lange vor dem Präsidentschaftswahlkampf gefallen sind. Sie bezogen sich auf die Rolle der peruanischen Marine beim staatlichen Terror, der das Land vor über 40 Jahren traumatisierte. Diese Behauptungen gelten heute als Verschwörungstheorien, wurden aber damals vom U.S. Bureau of Inter-American Affairs unterstützt.9

Die Opposition tobte, unterstützt von der Marine, die eine öffentliche Entschuldigung verlangte. Der Druck des Militärs auf die junge Regierung war immens. Schließlich führte der politisch-mediale Blitzkrieg dazu, dass der Professor fallen gelassen wurde: Béjar erklärte gezwungenermaßen seinen Rücktritt, 19 Tage nach seiner Nominierung. Was man ihm vor allem nicht verzieh, war seine Ankündigung, Peru werde die Lima-Gruppe verlassen. Dieser Zusammenschluss rechter Regierungen in der Region zielt vornehmlich darauf ab, den venezolanischen Präsidenten Maduro zu stürzen. Aber auch seine Absicht, das offizielle Narrativ über Perus traumatische Vergangenheit zu hinterfragen, war wohl unverzeihlich.

So wurde der linke Akademiker durch eine weniger umstrittene Persönlichkeit ersetzt – den Diplomaten Ós­car Maúrtua, der bereits in der Mitte-rechts-Regierung unter Präsident Alejandro Toledo (2001–2006) gedient hatte. Die Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik und der Hinauswurf Béjars lassen vermuten, dass es mit der großen Veränderung Perus angesichts des Gegenwinds einer zu allem entschlossenen Elite schwierig wird.

Am 26. August bestätigte das Parlament (in dem Castillo über keine eigene Mehrheit verfügt) nach heftigen Debatten die neue Regierung. Trotz des Widerstands der Konservativen, die das Kabinett zu radikal finden und es auf eine Konfrontation anlegten, entschied sich die Mehrheit gegen eine solche riskante Strategie. Eine zweite Ablehnung seines Kabinetts durch den Kongress hätte den Präsidenten autorisiert, Neuwahlen auszurufen. Und ihm damit vielleicht die Möglichkeit geboten, eine Mehrheit für sein Verfassungsprojekt zu bekommen.

Castillo ist inmitten einer demokratischen, gesundheitspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise an die Macht gekommen. Die ersten paar Monate seiner Amtszeit werden entscheidend sein. Die Bevölkerung hat den Verrat von Ollanta Humala nicht vergessen, der 2011 mit seinem linken Programm gewählt wurde, dann aber von seinen Wahlversprechen nichts mehr wissen wollte. Castillo muss es daher gelingen, zumindest einige seiner Ankündigungen wahr zu machen.

Sein Pragmatismus und sein Verhandlungsgeschick, das er seiner Zeit als Gewerkschafter verdankt, dürften dabei sein größtes Kapital sein. Damit könnte er das derzeitige ideologische Gefüge durchbrechen. Dies gilt umso mehr, als der Wunsch nach politischer Neuorientierung nicht auf die Anhänger der neuen Regierung beschränkt zu sein scheint. Sogar einem Teil der Arbeitgeberschaft erschienen die Blockadepläne von Keiko Fujimori, die die Wahl annullieren lassen wollte, als ebenso schädlich für ihre Interessen wie die allzu offensichtliche Unterstützung eines Systems, das an den Wahlurnen abgestraft wurde.

Für Fujimori ist die dritte Wahlniederlage in Folge ein schwerer Schlag. Sie ist wegen Geldwäsche und Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und muss nun vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft fordert mehr als 30 Jahre Haft. Und sie muss sich auch gegen die zahlreichen Anwärterinnen und Anwärter auf die Oppositionsführerschaft behaupten.

Gleichwohl steht Castillo angesichts der Machtverteilung im peruanischen Parlament vor einer schwierigen Aufgabe. Seine Partei Perú Libre und seine Verbündeten von Juntos por el Perú (Gemeinsam für Peru) verfügen nur über 42 der 130 Parlamentssitze. Am 26. Juli schnappte zudem ein Mitte-rechts-Bündnis der Regierungspartei das Amt des Parlamentspräsidenten vor der Nase weg. Die Regierung wird nicht umhinkommen, wechselnde Al­lian­zen mit Abgeordneten der Mitte einzugehen. In einem Land, in dem die Absetzung von Präsidenten durch das Parlament an der Tagesordnung ist – allein zwischen 2016 und 2020 kam es viermal dazu –, hat der Kampf um stabile Mehrheiten gerade erst begonnen.

„Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Das Land braucht jeden. Ich rufe alle Peruanerinnen und Peruaner gleichermaßen dazu auf, den Weg zur Wiederherstellung der nationalen Einheit einzuschlagen“, sagte der neue Präsident bei seiner Vereidigung am 28. Juli. „Wie unsere Quechua-Vorfahren zu sagen pflegten, bevor sie eine große Aufgabe in Angriff nahmen: ‚huk umal­la, huk sunquilla y huk maquilla‘, eine Kraft, ein Herz und ein Ziel! Möge dieses Ziel Fortschritt und soziale Gerechtigkeit für alle Peruaner sein.“

2021 feiert Peru den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Zwischen Unsicherheit und Hoffnung schwankend, scheint das Land immer noch die Kämpfe der Vergangenheit zu wiederholen.

1 Siehe Renaud Lambert, „Feudales Schloss mit demokratischer Fassade“, LMd, März 2021.

2 Siehe Romain Migus, „Perus korrupte Präsidenten“, LMd, Januar 2021.

3 Instituto Nacional de Estadistica e Informatica.

4 „Empleo informal afectó a más de 11 millones de Peruanos en el 2020“, La República, Lima, 10. Juni 2021.

5 Die Guerillagruppe war vor allem in den 1980er Jahren aktiv. Dem Bürgerkrieg in den Andenprovinzen fielen zehntausende Menschen zum Opfer. Unter Alberto Fujimori wurde Sendero Luminoso weitgehend zerschlagen.

6 „Informe de opinión“, Instituto de Estudios Peruanos, Lima, Juni 2021.

7 „No, señor presidente“, La República, 30. Juli 2021.

8 César Hildebrandt, „Cerrón es el que manda“, Hildebrandt en sus trece, Lima, 30. Juli 2021.

9 Bureau of Inter-American Affairs, „Bomb at navy minister’s home“, Washington, D. C., 2. Juni 1975.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Romain Migus ist Journalist und Gründer der Nachrichtenwebsite les2rives.info.

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Romain Migus