09.09.2021

Zwanzig Jahre Lügen und Chaos

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Zwanzig Jahre Lügen und Chaos

von Martine Bulard

Abzug der US-Truppen, 28. August 2021 U.S. Department of Defense/ap
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Kaum ein Land hat seinen Beinamen mehr verdient als Afghanistan, das als „Friedhof der Imperien“ gilt. Die persischen Safawiden und die indischen Mogulen konnten sich nicht halten, im 19. Jahrhundert erlitt das britische Empire eine historische Niederlage, im 20. Jahrhundert scheiterten die Sowjets und im 21. Jahrhundert die USA mit ihren Versuchen, Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Vereinigten Staaten ziehen sich nach fast 20 Jahren Krieg aus dem Land zurück. Es war der längste Krieg ihrer Geschichte, in den sie unter dem Kommando der Nato nicht weniger als 38 Staaten mit hineingezogen haben. Dieser Rückzug ist ein absolutes Fiasko. Und zugleich von hoher Symbolik, denn die Aktion nach dem Motto „Rette sich, wer kann“ erfolgte kurz vor dem 20. Jahrestag der Attentate von 9/11, die als Vorwand für den damaligen Einmarsch in Kabul gedient hatten.

Ex-Präsident Trump hatte den Rückzug ursprünglich schon für Mai 2021angekündigt. Sein Nachfolger Joe Biden hat diese Entscheidung nunmehr mit wenigen Monaten Verspätung umgesetzt. Vor 20 Jahren hatte der damalige Präsident George W. Bush die Intervention in Afghanistan als „Blitzoperation“ geplant und nach dem raschen Fall des Taliban-Regimes Ende 2001 gemeint, verkünden zu können, das man sich damit für die Schmach von 9/11 gerächt habe.

Nach dem Sieg glaubte man in Washington, jetzt sei nur noch ein bisschen state building angesagt, also der Aufbau eines Staats, der in etwa den US-amerikanischen Vorstellungen und Interessen entspricht. Das sollte kein Problem sein für die größte Weltmacht, die bereits den kommunistischen Feind in die Knie gezwungen hatte und dank ihrer „demokratischen Werte“ die Rolle als globale Verteidigerin der Freiheit beanspruchen konnte. Und die Regierungen der westlichen Welt machten kurz entschlossen mit.

Zehn Jahre später ordnete Barack Obama, der eigentlich den Abzug versprochen hatte, eine Aufstockung der US-Truppen (surge) an, um den vermeintlich entscheidenden Angriff zu führen. Am 2. Mai 2011 gratulierte er sich zur Tötung Osama bin Ladens und erklärte den „größten Erfolg im Kampf gegen al-Qaida“ zum Beleg für „die Größe unseres Landes“.

Weitere zehn Jahre später, im Februar 2020, belegte das zwischen den Taliban und der Trump-Regierung ausgehandelte Doha-Abkommen die Kapitulation der USA.1 Die Regierung in Kabul, die Washington bis dato politisch und finanziell unterstützt hatte, war dabei nicht einbezogen und natürlich wurde auch das afghanische Volk nicht befragt.

Selbst mit den Partnern der Nato-Mission „Resolute Support“ gab es keinerlei Koordination. Die hatten im Februar 2021 – zusätzlich zu den 2500 Männern und Frauen der US-Armee – insgesamt 9600 Militärangehörige im Land stationiert (Deutschland 1300, Italien 900, Großbritannien 750, die Türkei, Polen, Rumänien und das Nicht-Nato-Mitglied Georgien einige hundert). Auch die mehr als 18 000 zivilen Hilfskräfte (contractors) US-amerikanischer, afghanischer oder anderer Nationalität –, die das US-Verteidigungsministerium im Frühjahr 2021 beschäftigte, wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Imperium entscheidet, die Vasallen kuschen. Das sollte allen zu denken geben, die davon träumen, sich unter das Banner einer „pazifischen Nato“ zu begeben, um angebliche „demokratische Werte“ gegen den neuen Feind China zu verteidigen.2

Freilich haben die USA nicht nur anderen ihre Strategie aufgezwungen, sondern auch einen beträchtlichen Teil der Rechnung beglichen. Mehr als 2 Billionen US-Dollar hat das Pentagon für den Krieg in Afghanistan ausgegeben:3 Zwischen 2001 und 2019 waren gut 775 000 US-Soldaten in Einsatz, davon allein 100 000 auf dem Höhepunkt von Obamas surge; hinzu kommen die Ausgaben für ultramoderne militärische Ausrüstung, inklusive Kampfdrohnen, und für sehr viele NGOs, die massiv finanziert wurden.

Zu dieser Bilanz, die noch nicht endgültig ist, gehören auch die Verluste an Menschenleben: mindestens 160 000 tote Afghaninnen und Afghanen (Zahlen der UNO); 2400 Tote der US-Armee, 1100 der anderen beteiligten Streitkräfte und 1800 unter den zivilen Hilfskräften.

Diese menschliche und finanzielle Katastrophe hatte die Situation im Land immer weiter verschlechtert – außer für die Frauen, deren Lage sich, zumindest in den Städten, verbessert hatte. Allerdings hatten die Taliban bereits einige Monate vor ihrem Einmarsch in Kabul den Druck auf die Frauen verstärkt, wie auch die Drohungen gegen Schriftstellerinnen, Journalistinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen, die sich, wenn sie überleben wollen, ins Exil retten müssen. Und zu alledem kommen noch die mörderischen Anschläge durch den „Islamischen Staat“ (IS).

Ansonsten hat es die „zivilisatorische Mission“ des Westens geschafft, Afghanistan zum weltweit größten Opiumproduzenten zu machen, der 90 Prozent des globalen Angebots abdeckt, was rund 15 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht.

Das Land hat sich in eine „Kleptokratie“ verwandelt, die Oberst Christopher Kolenda, ein Berater der US-Armee, mit einer Krebs-Analogie beschreibt: „Die Kleinkorruption ist wie Hautkrebs, man kann etwas dagegen tun. Die Korruption auf höherer Ebene, in den Ministerien, ist wie Darmkrebs: ernster, aber wenn man ihn frühzeitig entdeckt, kann man genesen. Die Kleptokratie ist wie ein Hirntumor: Sie ist tödlich.“4

Heimliche Verzweiflung im ­Pentagon

Dieser Befund stammt von 2006. Seither hat sich die Situation kaum gebessert. Kein Wunder also, dass die Taliban einfaches Spiel hatten. Der Krieg des Westens hat sie wieder an die Macht gebracht. Kurz vor der Invasion von 2001 konnten sie, nach fünf Regierungsjahren, „nicht mehr auf die Unterstützung des Volkes zählen“, urteilt der britisch-pakistanische Taliban-Experte Ahmed Rashid.5 Zwanzig Jahre später erleben sie ein triumphales Comeback.

Wie wurde das Afghanistan-Abenteuer des Westens begründet? Für George W. Bush war es 2001 der „gute“, für Barack Obama 2011 der „gerechte Krieg“; Frankreichs Präsident Sarkozy sprach 2008 von einem Krieg gegen „Barbarei, Obskurantismus und Terrorismus“. Und sein Außenminister Bernard Kouchner wollte „in kugelsicherer Weste die Herzen gewinnen“.6 Sie alle wollten Terror mit Terror bekämpfen, die Demokratie mit Kanonen und Dollars durchsetzen.

Dabei waren sie selbst nach unbestreitbaren Niederlagen niemals bereit, einen Irrtum einzugestehen. Im Gegenteil. Sie setzten unverdrossen auf weitere Interventionen: Nach dem Irak und Afghanistan in Libyen, in Syrien, in der Sahelzone; und stets im Namen der Menschenrechte und mit dem beruhigenden Wissen, auf der Seite des Guten zu stehen. Auch wenn sie zugleich Staaten wie Saudi-Arabien und Ägypten zu ihren Freunden zählen.

Allerdings haben solche Invasionen niemals das „Gute“ bewirkt. Stattdessen haben sie Chaos produziert, also Organisationen wie den Islamischen Staat (IS) begünstigt, Zivilgesellschaften und staatlichen Institutionen zerstört, Konflikte noch weiter „ethnisiert“, zuweilen sogar Bürgerkriege ausgelöst.

Das Ergebnis ist in der Summe ein grandioses Scheitern der großen demokratischen Prinzipien – übrigens auch in den westlichen Ländern, wo Lügen, Korruption, Folter und die Suspendierung von Freiheitsrechten zur „normalen“ Begleiterscheinung der nicht zu gewinnenden Kriege wurden. Man denke nur an Guantanamo, wo noch immer etwa 40 Häftlinge ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden, oder an die US-Folterzentren in verschiedenen Ländern.7 Man denke an Julian As­sange, der mit Wikileaks einen Zipfel des Schleiers gelüftet hatte und dafür wie irgendein Terrorist im Gefängnis sitzt.

Die Washington Post hat mit der Publikation der „Afghanistan Papers“ am 9. September 2019 das dunkle Treiben der US-Bürokratie vollends ausgeleuchtet: mehr als 2000 Seiten Interviews mit direkten Akteuren, die von Mitarbeitern des Sondergeneralinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans (Sigar) befragt wurden.

Demnach haben US-Präsidenten, Minister und Generalstabschefs die ganze Welt wissentlich belogen. So gestand der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sechs Monate nach Beginn der Operationen am 17. April 2002 in einem seiner vertraulichen Memos: „Wir kriegen das US-Militär niemals aus Afghanistan raus, wenn wir nicht dafür sorgen, dass irgendwas geschieht, das die Stabilität bringt, die wir für einen Abzug brauchen. Hilfe!“ Und am 8. September 2003 schrieb er: „Ich habe keinen Überblick, wer die Bösen sind. Wir haben verzweifelt wenig Informationen aus direkten Quellen.“

Trotz seiner Verzweiflung veröffentlichte Rumsfeld 2006 auf der Webseite des Pentagon ein Dokument, das aufgrund einer „Vielzahl guter Nachrichten“ zu dem Schluss kam: „Es ist zwar in Mode gekommen, von Afghanistan als einem ‚vergessenen Krieg‘ zu sprechen oder zu behaupten, die USA hätten ihre Ziele aus den Augen verloren, aber die Fakten sprechen gegen diese Mythen.“

Die „Afghanistan Papers“ enthüllten auch, dass die „Informanten“ – etwa Soldaten, Geheimdienstler oder NGO-Personal – von ihren Vorgesetzten angewiesen wurden, ausschließlich „gute Nachrichten“ weiterzugeben. 2015 äußerte sogar US-General Mi­chael Flynn (2009 und 2010 Geheimdienstchef der Isaf-Mission) seine Zweifel: „Von den Botschaftern bis zu den unteren Ebenen sagen uns alle, dass wir gute Arbeit machen. Wirklich? Wenn wir einen so guten Job machen, warum hat man dann das Gefühl, wir würden verlieren?“

Auf den hohen Ebenen wussten also alle Bescheid, versicherten aber wie abgebrühte Pokerspieler, der nächste Schlag werde der entscheidende, der nächste Kampf der letzte sein.

Allerdings wurde seit dem ersten Kampfgeschehen das Völkerrecht auf den Kopf gestellt. 2001 entschieden die USA im Alleingang, Kabul zu bombardieren. Erst nachträglich ersuchten sie den UN-Sicherheitsrat um Unterstützung, wobei zwischen dem 12. September 2001 und dem 20. Dezember 2001 die Resolutionen einstimmig, also auch mit Zustimmung Chinas und Russlands, beschlossen wurden.

Tatsächlich ging es nie um legitime Selbstverteidigung, also den Einsatz von Waffengewalt gegen einen Aggressor-Staat – die durch Artikel 51 der UN-Charta legitimiert ist. Beim deklarierten „Kampf gegen den Terrorismus“ ging es vielmehr um den Angriff auf ein Land, das man verdächtigte, Dschihadisten zu schützen. Damit wurde das Mittel des „Präventivkriegs“ offiziell gerechtfertigt.

Das öffnete den Weg für alle darauffolgenden militärischen Interventionen, im Irak, in Libyen und auch in Mali, wo sich Frankreich mit Unterstützung der EU – und mit Beteiligung der deutschen Bundeswehr – engagierte. Wobei es in all diesen Fällen nicht gelungen ist, die Welle der Terroranschläge zu brechen.

Diese außenpolitischen Interven­tio­nen hatten überdies fatale innenpolitische Folgen: Mit einer Serie antidemokratischer Gesetze wurden in den USA (mithilfe des USA Patriot Act) wie in Frankreich (mittels Ausnahmegesetzen) elementare Grundrechte eingeschränkt oder suspendiert.

In Afghanistan ist das Chaos umso größer, weil das Land weiter Spielball in der Neuauflage des „Great Game“ um die Vorherrschaft in Zentral­asien ist. Darin spielt auch Pakistan eine wichtige Rolle, das Verbündeter der USA, aber auch Schutzmacht bestimmter Taliban-Fraktionen ist. Desgleichen Indien, das die antipakistanischen Mudschaheddin-Gruppen in Belutschistan unterstützt hat.

Auch China mischt mit: Peking fürchtet sich vor einer Destabilisierung seiner Region Xinjiang durch die Ostturkestanische Muslimische Bewegung (Etim) und hat wie Indien die afghanischen Bodenschätze im Auge. Auch Russland und Iran, das Hazara-Flüchtlinge aufgenommen hat, verfolgen eigene Interessen (siehe den Beitrag auf Seite 8).

In Afghanistan zeigt sich das Versagen des Westens gleich in mehrerer Hinsicht: in militärischer Hinsicht, weil die USA seit Jahrzehnten keinen militärischen Konflikt mehr gewinnen konnten; in strategischer, weil sich der „Krieg gegen den Terror“ als fataler als das zu bekämpfende Übel erwiesen hat; in moralischer, weil die eingesetzten Regime, von Kabul bis Bagdad, korrumpiert sind und das allgemeine Wahlrecht diskreditiert haben; in demokratischer, weil die Entscheidungen oft von einer Person getroffen wurden; und schließlich auf politischer, weil failed states entstanden sind und die Kräfte gestärkt wurden, die man eigentlich zerschlagen wollte.

Der Abzug der US-Truppen, über den in den USA Konsens herrscht, markiert das Ende einer Epoche der „endlosen Kriege“, wie Biden selbst in seiner Rede vom 31. August betonte. Das heißt aber nicht, dass damit eine neue Ära beginnt, in der man sich nicht mehr als die außergewöhnliche Nation wahrnimmt, die dazu berufen ist, die Welt zu führen.

Das außenpolitische Motto „Die demokratische Welt anführen“, mit dem Biden den Wahlkampf von 2019 bestritten hat, deutet jedenfalls nicht darauf hin.8 Der hegemoniale Ehrgeiz der Vereinigten Staaten hat das Debakel in Viet­nam überlebt. Er wird auch das Fias­ko in Afghanistan überleben.

1 Siehe Georges Lefeuvre, „Kein bisschen Frieden“, LMd, April 2020

2 Siehe Martine Bulard, „Kommt eine pazifische Nato?“, LMd, Juni 2021.

3 „US costs to date for the war in Afghanistan“, Watson Institute, Brown University, Providence (Rhode Island), April 2021.

4 Zitiert nach Craig Whitlock, Leslie Shapiro und Armand Emamdjomeh, „Afghanistan Papers: A secret history of the war“, The Washington Post, 9. Dezember 2019. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus dieser Publikation.

5 Jacques Follorou, „Ahmed Rashid: ‚Les talibans n’ont jamais montré la volonté d’aboutir à la paix‘“, Le ­Monde, 28. Mai 2021.

6 Canal+, 18. Oktober 2009.

7 Siehe Stephen Grey, „Entführt, verhört, versteckt“, LMd, März 2005

8 Siehe Olivier Zajec, „Restauration à la Biden“, LMd, November 2020.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Martine Bulard