09.09.2021

Kandahar im August

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Kandahar im August

von Romain Mielcarek

Nach Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Taliban SIDIQULLAH KHAN/ap
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Seit den ersten Augusttagen herrscht in Kabul ein unbeschreibliches Chaos. Im Stadtpark Shahr-e-Naw drängen sich Menschen aus den Nordprovinzen, die vom schnellen Vormarsch der Taliban in die Flucht getrieben wurden. „Wenn ihr uns nicht helfen könnt, was macht ihr dann hier?“, empört sich eine junge Frau. Ihre Augen funkeln zornig durch das Gitterfenster ihrer Burka, die sie wie alle Frauen trägt. Der Anblick ist ein Schock, denn bis zur Ankunft der Flüchtlinge war in der Hauptstadt kaum eine andere Kopfbedeckung als ein legeres Tuch zu sehen.

Auf den Grünflächen dieses besseren Wohnviertels rangeln sich Männer, Frauen, Alte und Kinder um ein paar Krumen Brot, einen Teppich oder eine Plane, die ganze Familien vor fremden Blicken schützen soll.

Zwei Männer sitzen etwas abseits und starren ins Leere. Bahadur1 kommt aus Kundus, das am 11. August gefallen ist. „Die Situation wird immer schlimmer“, klagt er. „Es gibt niemanden, der für Ordnung sorgt, keine Orga­ni­sa­tion.“ Mit Tränen in den Augen berichtet sein Nachbar: „Die Taliban haben alles verbrannt. Die Märkte, die Geschäfte, die Häuser. Mein Sohn wurde getötet. Er war zehn Jahre alt.“

500 Kilometer weiter südlich liegt die strategisch wichtige Stadt Kandahar. In einem von Handicap International (HI) geführten Zentrum erzählt Rahmatullah, wie ihm zwei Wochen zuvor eine Rakete beide Beine abgerissen hat. Der 25-Jährige war zwischen die Fronten von Taliban und Armee geraten. Jetzt ist er froh, dass er wenigstens eine gewisse Bildung hat: „Deshalb kann ich trotz der Verwundung arbeiten. Mit Prothesen kann ich wieder ­laufen. Andere haben ihr Leben ver­loren.“

Die Menschen suchen irgendeine Zuflucht. Eine Gruppe von Männern, die sich bisher als Tagelöhner über Wasser hielten, haust jetzt zwischen Müllbergen, aus denen ein unerträglicher Fäkaliengestank aufsteigt. Ein HI-Mitarbeiter zeigt Kindern eine Zeichnung, auf der zwei Kinder in einer Ruine spielen: „Darf man unbekannte Dinge anfassen?“ – „Nein!“, rufen sie im Chor. Sie wissen, dass sie ihr Leben verlieren können. Oder ein Bein, wie der 13-Jährige, der mit seinem neuen Plastikbein zu laufen übt. Sein Bruder verteidigt die Taliban. „Sie wollten einen Warlord treffen, der hat aber leider nur ein paar Finger verloren.“

Die Taliban seien „gute Terroristen, aber schlechte Soldaten. Soldaten auf Motorrädern, das ist doch keine furchterregende Armee“, tönte der französische Philosoph und Schriftsteller Bernard-Henry Lévy noch am 16. August, einen Tag nach dem Fall von Kabul, in einer TV-Talkshow. Und berief sich auf seine Eindrücke, die er „vor einige Zeit“ gewonnen hatte: „Die Frauen trugen keinen Schleier, die Journalisten lieferten freie und oft richtige Informationen, nach zwanzig Jahren war wieder ein Hauch von Freiheit zu spüren. Die Taliban machten keine Anstalten, nach der Macht zu greifen. Sie verkrochen sich.“

Es ist schon bemerkenswert, wie man die strategischen Fähigkeiten dieser Bewegung derart verkennen kann. Die Taliban sollen bis zu 100 000 Kämpfer haben.2 Mit ihren Motorrädern sind sie extrem mobil. Weil sie sich so flüssig durch die Staus schlängeln konnten, waren Motorräder in den meisten Städten verboten.

Eine Woche vor der Einnahme von Kandahar bot die Stadt ein ganz anderes Bild, als es Lévy in Erinnerung hatte. Obwohl die Aufständischen immer näher rückten, waren viele Leute auf der Straße: Aber fast keine Frauen, nur wenige sah man in ihren Burkas vorbeihasten.

Die wichtigsten afghanischen Me­dien ließen sich – bei aller Pressefreiheit – von den falschen Zahlen der Regierung täuschen, die „hunderte von toten Aufständischen“ meldete, während diese ihren Vormarsch fortsetzten. Die Lügen wurden weiter verbreitet, ohne sie zu hinterfragen.

Ihre eigenen Toten und Verletzten hatte die afghanische Regierung schon seit langem systematisch verschwiegen. Eines Nachts wollten Journalisten am Flughafen von Kabul die Transportflugzeuge der Luftwaffe zu filmen, als sie aufgefordert wurden, in einen Hangar zu gehen. Draußen sah ein Wachmann, was man verheimlichen wollte: Zivilmaschinen, aus denen hunderte verletzte oder getötete Soldaten getragen wurden. Niemand nennt Zahlen, aber eine regierungsnahe Quelle sprach gegenüber dem US-Magazin Foreign Policy von 5000 Toten im Monat.3 Anders als die Experten in den Talkshows behaupten, haben viele afghanische Soldaten nicht nur gekämpft, sondern auch große Opfer gebracht.

Mohammed hat für mehrere na­tio­nale und internationale Institutionen gearbeitet. In Kandahar beschreibt er die allgemeine Stimmung: „Kein Wunder, dass alle Provinzen so schnell gefallen sind! Die Leute haben die Nase voll von den Warlords der Regierung. Auch wenn niemand weiß, was die Taliban tun werden.“ Die kontrollierten schon vor dem Beginn dieser Offensive 75 (von 329) überwiegend ländliche Distrikte und waren auch in den meisten anderen präsent. Sie verkrochen sich keineswegs, sondern boten der lokalen Bevölkerung Leistungen, die ebenso gut und oft besser waren als das, was die von Korruption zerfressene Regierung ihnen bieten konnte. Und ihre Regeln und Gepflogenheiten entsprachen den Erwartungen eines Großteils der Bevölkerung, für die Frauenrechte nicht viel zählen.

Wenn die Aufständischen angriffen, gingen den zahlenmäßig unterlegenen Soldaten schnell Munition und Lebensmittel aus. Verstärkung kam nur selten, da sich die Regierung in Kabul auf die großen Städte konzentrierte. Die Taliban mobilisierten dann die Alten aus den Nachbardörfern („Weißbärte“ genannt), um die Soldaten zum Aufgeben zu drängen. Das war angesichts der auf den Tiefpunkt gefallenen Moral gar nicht schwer: Von den 180 000 Soldaten und 100 000 Hilfskräften der afghanischen Armee4 legte die übergroße Mehrheit die Waffen nieder. Währenddessen verkündeten der afghanische Verteidigungsminister und seine Sprecher jeden Tag die Tötung von hunderten Taliban. Absurdes Zahlentheater.

Bevor die Aufständischen die Städte angriffen, isolierten sie die Regionen, indem sie die Verbindungsrouten zwischen den städtischen Zentren abschnitten und die Mehrzahl der dreißig Grenzposten besetzten. Damit nahmen sie der Staatsmacht eine Einnahmequelle weg und sicherten sich die Kontrolle über die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern.

Am Ende überraschten die Taliban die afghanische Armee mit der Eröffnung einer zweiten Front im Norden. Während ihre Einheiten die Regierungstruppen im Süden, um Kandahar und Helman, durch erhöhte Kampftägigkeit banden, eroberten sie den Norden des Landes. Ehe es zur Neuformierung der Nordallianz – jenes Bündnisses von Warlords, das in den 1990er Jahren gegen die Taliban gekämpft hatte – kommen konnte, hatten sie damit die Möglichkeit eines Gegenangriffs aus den Provinzen, die ihnen aus historischen Gründen besonders feindlich gesonnen waren, im Keim erstickt.

Die alten Warlords ­wittern ­neue Chancen

Als die Taliban auf Kabul zu rückten, waren zwar viele Soldaten und Polizisten in der Stadt, aber sie wussten nicht, was sie tun sollten. Ihre Anführer schwiegen. „Was geht in Doha vor sich?“, schrieb ein Offizier im Verteidigungsministerium am Vorabend der Kapitulation über Whatsapp. Noch am 15. August erklärten die Taliban, bereits vor den Toren von Kabul angelangt, sie würden nicht einmarschieren. Als sie jedoch merkten, dass es keinerlei Widerstand gab und dass Präsident Aschraf Ghani geflohen war, übernahmen sie die Kontrolle über die Stadt.

Wie konnte sich die politische Elite Afghanistans auf einen Kampf einlassen, der von vornherein verloren war? Viele zeigen mit dem Finger auf Ghani, den korrupten Präsidenten, der sich an die Macht klammerte, obwohl viele seinen Rücktritt forderten. Das Parlament5 hatte keinerlei Macht. „Jeder kämpft für sich“, urteilte Shinkai Karokhail, eine parteilose Abgeordnete aus Kabul: „Es gibt keine politischen Blöcke. Deshalb ist es schwierig, die Regierung auch nur minimal zu kontrollieren.“

Die meisten Warlords verfolgten weiter ihre persönlichen Interessen und die ihrer Gemeinschaften. Die im Kampf gegen die Sowjetunion in den 1980er Jahren berühmt gewordenen Mudschaheddin sind kampflos abgetreten. Der „Löwe von Herat“, der 75-jährige Ismail Khan, ehemals Mudschaheddin-Kommandeur und Energieminister unter Präsident Karsai, hat sich nach dem Fall seiner Stadt ergeben. Der 67-jährige usbekische Warlord und ehemalige Vizepräsident der Republik Abdul Raschid Dostom hatte gemeinsam mit seinem Sohn, der sich als sein Nachfolger aufbaut, den Taliban mit dem Tod gedroht. Dann flohen beide nach Usbekistan.

Auch Ahmad Massud, Sohn des berühmten Kommandanten Ahmad Schah Massud und in Frankreich besonders beliebt, konnte die Katastrophe in Afghanistan nicht verhindern. Er hat sich schon seit Jahren in sein heimatliches Pandschirtal zurückgezogen. Dort will er, wie er mir sagte, „die Werte verbreiten, die ich im Westen gelernt hatte: Menschenrechte und Demokratie“.

Der Erbe des „Löwen von Pan­dschir“ hat in London die beste akademische Ausbildung genossen, doch jenseits seiner Herkunftsprovinz, die nur 150 000 Einwohner hat, besitzt er keinerlei politischen Kredit. Aus Massuds Umgebung hört man Sprüche über 20 000 Kämpfer. Freiwillige mit leeren Händen, auf die niemand mehr wartet.

Drei Repräsentanten der alten afghanischen Welt wittern ihre Chancen auf ein politisches Comeback, seitdem die Sieger eine „inklusive Regierung“ versprochen haben. So hat Hamid Karsai, von 2001 bis 2014 afghanischer Präsident, auffällig rasch angeboten, sich mit den neuen Herren des Landes zu treffen.

Abdullah Abdullah, der bei den Präsidentenwahlen von 2014 und 2019 den Sieg über Ghani reklamiert hatte, steht ebenfalls in den Startlöchern. Er leitet den Hohen Rat für Nationale Versöhnung und hatte vergeblich versucht, an den Gesprächen in Doha zwischen den Taliban und Repräsentanten der Trump-Regierung teilzunehmen.

Auch der Dritte im Bunde, Gulbuddin Hekmatyar, Chef der Partei Hisb-i-Islami, hat den ersten Flug nach Kabul genommen. Seine im Westen als terroristische Organisation eingestufte, aber bei den Afghanen lange Zeit beliebte Partei hatte gegen die ausländischen Invasoren gekämpft, 2016 aber ihren Frieden mit der Kabuler Regierung gemacht. Hekmatyar war für den mörderischen Hinterhalt von Uzbin verantwortlich, bei dem im August 2008 zehn französische Soldaten getötet wurden. Auch er wittert jetzt Morgenluft.

Die drei Veteranen dienen sich offenbar als Garanten einer Öffnung an, um die „internationale Gemeinschaft“ zu beruhigen, die eine Regierung der nationalen Einheit verlangt. Während sie um die Krumen der Macht streiten, suchen andere verzweifelt nach dem Notausgang. Viele Männer und vor allem Frauen wollen um jeden Preis dem Terror einer erneuten Taliban-Herrschaft entrinnen.

Ein Offizier der Spezialkräfte, den wir vor dem Fall Kabuls getroffen haben, kam in Begleitung seines 12-jährigen Sohns, weil er hoffte, wir könnten ihn retten. „Bitte, Mister“, bat das Kind auf Englisch. „Ich möchte nach Frankreich und studieren. Hier gibt es keine Sicherheit mehr, ich kann nicht mehr in die Schule gehen.“

Für viele Afghanen ist das Exil die einzige Option. Alle, die für die Regierung oder für ausländischen Streitkräfte gekämpft haben, sind überzeugt, dass ihr Leben bedroht und die versprochene Amnestie nur eine Falle ist. Die USA haben in den letzten Augusttagen zwar bis zu 20 000 Menschen täglich außer Landes gebracht, doch insgesamt gibt es schätzungsweise 250 000 Afghanen, die mit den US-Kräften zusammengearbeitet haben und Anrecht auf ein Visum hätten.6 Die meisten EU-Länder, darunter Frankreich, Deutschland und die Niederlande, konnten sehr viel weniger ihrer Ortskräfte evakuieren.

Wer die Möglichkeit hatte, ist schon weg. Die meisten Politiker und Milizenführer haben ihre Familien ins Ausland geschickt. Alle suchen ihr Heil in der Flucht. Die Schlangen derer, die auf ein Visum für Iran oder die Türkei hofften, wurden ständig länger. Doch es ist zu spät. Die Taliban haben gewonnen.

Was bedeutet das für diejenigen, die bleiben? Ein Einwohner von Kandahar beschreibt die Erleichterung in seiner Stadt nach dem Rückzug der Regierungstruppen: „Der Gouverneur der Taliban hat die Beamten aufgefordert, wieder zur Arbeit zu kommen. Ihre große Fahne hängt über seiner Residenz. Ihre Leute belästigen die Menschen nicht, die meisten sind zufrieden. Manche haben sie sogar mit Tränen in den Augen empfangen. Allmählich kehren alle nach Hause zurück. Das normale Leben, ohne Unruhen.“

Auch 1995 gab es Jubel in den Straßen von Kabul, nachdem die Taliban ihre Feinde, die Mudschaheddin der Nordallianz, vertrieben hatten. Erst später begriff die Bevölkerung, dass dies nicht das Ende des Krieges war, sondern der Anfang einer neuen Hölle.

1 Viele Afghanen haben keinen Familiennamen. Wer einen benötigte, wählte oft den Vornamen des Vaters oder verdoppelte den eigenen Vornamen.

2 Lindsay Maizland, „The Taliban in Afghanistan“, Council on Foreign Relations, New York, 3. August 2021.

3 Lynne O’Donnell, „What went wrong with Afghanistan’s defense forces?“, Foreign Policy, 11. August 2021.

4 „The Military Balance 2021“, International Institute for Strategic Studies, London, 25. Februar 2021.

5 Das Parlament besteht aus dem Haus des Volkes (250 Abgeordnete, für fünf Jahre in allgemeinen Wahlen gewählt) und dem Haus der Ältesten (102 Mitglieder für vier Jahre, zwei Drittel von den Provinzräten gewählt, ein Drittel vom Präsidenten ernannt).

6 Lauren Leatherby und Larry Buchanan, „At Least 250 000 Afghans Who Worked With U.S. Haven’t ­Been Evacuated, Estimates Say“, The New York Times, 25. August 2021.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Romain Mielcarek ist Journalist und Autor von „Marchands d’armes. Enquête sur un business français“, Paris (Éditions Tallandier) 2017.

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Romain Mielcarek