07.10.2021

Die Herrschaft der Geeks

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Die Herrschaft der Geeks

von Pierre Rimbert

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Auch knapp zwei Jahre nach Ausbruch der Coronapandemie fällt es nicht leicht zu bilanzieren, welche Staaten mit ihren gesundheitspolitischen Maßnahmen gegen das Virus erfolgreich waren und welche versagt haben.

Dagegen sind die sozialen Folgen dieser Maßnahmen erschreckend deutlich geworden: Die Kranken- und Altenpflegekräfte, die Transportarbeiter, Supermarktpersonal und Reinigungskräfte, die man im Frühling 2020 zu Helden der Pandemie erklärte und auf den Balkonen beklatschte, traten wieder in den Schatten zurück – zurück an den Ort, den unsere Wirtschaftsordnung ihnen für gewöhnlich zuweist. Trotz des Versprechens einer besseren Post-Covid-Welt, in der sich die gesellschaftliche Anerkennung einer Berufsgruppe an ihrem Beitrag zum Gemeinwohl bemisst, hat sich an den Arbeitsbedingungen und am Status dieser „systemrelevanten“ Berufe nichts geändert.

Der IT-Industrie hingegen hat die Pandemie den Weg ins Paradies eröffnet. In ihrem Leitartikel vom 30. Juli 2021 frohlockte die Financial Times: „Die fünf größten Technologiekonzerne – Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft und Facebook – schrieben im zweiten Quartal insgesamt 75 Milliarden US-Dollar Gewinn (nach Steuern). Das sind fast 90 Prozent mehr als im Vorjahr und 30 Prozent mehr als erwartet.“

Diese Zahlen bezeugen, wie diese Plattformen sich in unserem Alltag breitgemacht haben. Was Wunder, war doch die Politik im Kampf gegen die Pandemie auf die Branche angewiesen.

Ob Homeoffice oder Distanzunterricht oder Impfzertifikate – stets gehen die politischen Entscheidungsträger von zwei unhinterfragten Annahmen aus. Erstens: Die meisten menschlichen Interaktionen, die aufgrund der Pandemie verboten wurden, können genauso gut online stattfinden – und zudem über den Bildschirm kontrolliert werden.

Zweitens: Die privaten Techkonzerne, die künftig einen Teil unseres So­zial- und Arbeitslebens prägen werden, unterliegen allein den Marktgesetzen und den Bedingungen, die ihr Management festlegt. Man darf ihnen keine Beschränkungen oder Vorschriften zumuten, keine Auflagen, die für gewöhnlich mit der Übertragung öffentlicher Dienstleistungen einhergehen.

Viele Manager aus dem Silicon Val­ley fühlen sich ermächtigt, das zu verkaufen, was der Staat nicht mehr anbietet. 2017 formulierte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg seine große Vision, eine „langfristige soziale Infrastruktur zu schaffen, die die Menschheit vereint“, indem sie unser löchriges „soziales Gewebe“ mit Likes verpflastert. „Die Facebook-Community ist auf einzigartige Weise fähig, Leid zu verhindern, sich im Krisenfall beizustehen oder danach gemeinsam den Wiederaufbau anzupacken“, befand Zuckerberg, dessen soziales Netzwerk 2,8 Milliarden aktive Nutzer hat.1

Auch progressive Parteien und Gewerkschaften haben gegen diese zwei Annahmen kaum opponiert. Als Frankreichs Präsident Macron im April 2020 in einer Fernsehansprache erklärte, dass „unser Land heute völlig von den Frauen und Männern abhängig ist, die in unserem Wirtschaftssystem kaum Anerkennung erhalten und schlecht bezahlt werden“, hätten sie unverzüglich fordern müssen, etwa allen für das Gemeinwesen unerlässlichen Tätigkeiten den geschützten Status des öffentlichen Dienstes zu verleihen.

Aber die Chance wurde vertan. Ein Jahr später haben die schönen Worte der Regierung gegenüber den Pflege-, Reinigungs- und Lehrkräften nur bewirkt, dass der Einfluss der Tech­industrie noch angewachsen ist. Deren Kerngeschäft besteht ja genau darin, die Negation zwischenmenschlicher Beziehungen zu vermarkten, also Interaktionen durch Algorithmen zu steuern und mittels verschlüsselter Programme zu evaluieren.

Die soziale Infrastruktur ins Silicon Valley auszulagern, ist auch deshalb nicht angebracht, weil dort die Subkultur der Geeks, der Nerds und der Computerfreaks dominiert. Eine ökonomisch privilegierte, introvertierte Welt frustrierter Männlichkeit, wie sie etwa für die Gaming-Szene typisch ist.

Hier wird ein Pantheon verehrt, deren Götter unter dem Asperger-Syndrom, einer milden Form von Autismus, leiden. Zum Beispiel die Milliardäre Elon Musk, Chef von Tesla, oder Peter Thiel, Mitbegründer von PayPal. Ein Journalist der Zeitschrift Wired ging 2001 so weit, das Asperger-Syndrom in „Geek-Syndrom“ umzubenennen: „In der Branche wird häufig darüber gewitzelt: Viele der eingefleischten Programmierer bei IT-Spitzenunternehmen wie Intel, Adobe oder Silicon Graphics, die im Morgengrauen zur Arbeit und erst spät abends wieder nach Hause gehen, die stundenlang programmieren und dabei literweise Softdrinks in sich hineinschütten, sind irgendwo im Bereich Asperger angesiedelt.“2

Der unheilsame Zwang des ­Quantifizierens

Menschen mit Asperger tun sich schwer mit der sozialen Interaktion, weil ihre Fähigkeit, nonverbale Kommunikationssignale zu verstehen und auszusenden, eingeschränkt ist. Hingegen entwickeln sie in ihren Interessengebieten teilweise außergewöhnliche Fähigkeiten.

Die Mehrheit der Menschen hat das pandemiebedingte Social Distancing als tiefgreifende Einschränkung empfunden. Dagegen ist es für viele IT-Entwickler ohnehin normal, ihre Abende zu Hause damit zu verbringen, eine App zu programmieren, mit der man die Attraktivität von Harvard-Studentinnen bewerten kann, ohne ihnen persönlich zu begegnen.

Gespräche von Angesicht zu Angesicht sind voller Zweideutigkeiten und Anspielungen. Die digitale Kommunikation hingegen bietet dem Geek, der sie entwickelt hat, die brutale, aber beruhigende Rationalität verschlüsselter Kennzahlen. Emotionen sind hier auf ein Minimum reduziert.

Dass die von diesen Leuten erfundenen sozialen Netzwerke heute die Onlinebeziehungen der Hälfte der Erdbewohner strukturieren, spiegelt indirekt die Verstümmelung der zwischenmenschlichen Beziehungen wider. Genau daraus entspringen die tiefen Frustrationen in unserer fragmentierten, gehetzten, ängstlichen Gesellschaft.

„Die Selbstabschottung in modernen westlichen Gesellschaften bedeutet, dass viele Menschen es für unnötig, nicht wünschenswert oder seltsam halten, mit ihren Mitbürgern zu sprechen.“ Zu diesem Schluss kam The Economist vom 10. Juli 2021 nach einer Reihe von Umfragen über die Bedeutung eines uralten, aber immer seltener werdenden Verhaltens: mit Unbekannten zu reden. Wenn heute große Teile des Alltagslebens im Namen der Virusbekämpfung ins Internet verlagert werden, wird diesen Trend massiv beschleunigt.

Die jüngste Digitalisierungswelle verschärft jedoch nur einen langjährigen Trend zum Herrschen mittels Zahlen. Bis Mitte der 2000er Jahre waren Freundschaft, Zuneigung, sexuelle Anziehung und Gefühle wie Neugier, Freude, Wut oder Trauer noch nicht unter die Dampfwalze der quantifizierten Bewertung geraten, die bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Wirtschaft und das Militär überrollt hatte.

Um Gefühle und Stimmungen in digitale Waren umzuwandeln, haben die Genies des Silicon Valley sie in mess- und bezifferbare Formen gestanzt. Die diversen Zeichen – Sternchen, blaue Daumen, kleine Herzen – oder die Follower-Statistiken machen Gefühle quantifizierbar – und generieren auch noch Unmengen persönlicher Daten.

Wie irrsinnig es ist, die lebendigsten Gesellschaftsbereiche unter die Herrschaft der Quantifizierbarkeit zu zwingen, kann man an der Tyrannei der Ziel- und Leistungsvorgaben sehen, die in Schulen, Krankenhäusern und großen Unternehmen herrscht. Wie der Historiker Jerry Z. Muller schreibt, ist dabei das Problem nicht das Messen an sich, „sondern das exzessive Messen, nicht die Kennzahlen, sondern die Versessenheit auf Kennzahlen“.3 Kurzum: der normative Charakter der Zahlenhörigkeit, der zulasten der Erfahrung, des persönlichen Urteilsvermögens und des historischen Bewusstseins geht.

Zahlen besitzen heute eine universelle Aussage- und Überzeugungskraft. Ohne dass irgendjemand darüber entschieden hätte, wird die Geschichte der Coronapandemie in einer Sprache der Zahlen und Diagramme erzählt, die aus der Welt der Medizin eilends in den öffentlichen Raum getragen wird. Der skopische Trieb, die Schaulust, dieses unwiderstehliche Verlangen, das den User dazu bringt, auf das nächste Foto auf dem Bildschirm zu klicken, findet sein Gegenstück in der angsterfüllten Erwartung der täglichen Corona­zahlen.

Inzidenzen, Hospitalisierungen, Aus­lastung der verfügbaren Intensivbetten, Impfquoten, Todeszahlen in Millionenhöhe: Jeden Abend trägt ein Gesundheitsexperte eine Flut von Zahlen und Parametern vor, deren Berechnung und Relevanz nur dann infrage gestellt wird, wenn sie den Plänen der Regierung widersprechen. Deren Entscheidungen werden mit den Zahlen legitimiert, die in den Suchmaschi­nen­er­geb­nissen und auf den Titelseiten der Zeitungen auftauchen. „Die Kurve abflachen“, „unter die Schwelle kommen“, „das Ziel erreichen“: Ranglisten, Parameter und Schautafeln verwandeln das Leben unmerklich in ein Spiel um Punkte. Eine altbekannte Technik, um Menschen zu disziplinieren, denen man wenig Eigenverantwortung zutraut – zum Beispiel im Kindergarten.

Wie hypnotisiert starren wir also aufs statistische Feuerwerk und vergessen dabei, was diese eigentlich indiskutable Art der Präsentation verdeckt: dass die Gesundheitskrise nur ein Symptom unserer kranken Gesellschaft ist, deren Erneuerung eine überlebenswichtige Notwendigkeit ist.

1 Mark Zuckerberg, „Building global community“, ­Face­book, 16. Februar 2017; siehe auch Eric Klinenberg, „Face­books schöne neue Welt“, LMd, April 2019.

2 Steve Silberman, „The geek syndrome“, Wired, 1. Dezember 2001.

3 Jerry Z. Muller, „The Tyranny of Metrics“, Princeton (University Press) 2018.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Le Monde diplomatique vom 07.10.2021, von Pierre Rimbert