12.08.2021

Gute Bauern, schlechte Bauern

zurück

Gute Bauern, schlechte Bauern

Ökolandwirtschaft in der Bretagne

von Maëlle Mariette

Grit Schwerdtfeger, Kliff, aus der Serie „Insel“, 2008, analoger C-Print, 71 x 104 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Im August stauen sich die Autos auf der einzigen Straße, die nach Quiberon führt, einem Luxusbadeort im Süden der Bretagne. Im Schritttempo schiebt sich die Kolonne an einer großen Werbetafel vorbei: „Rogers Farm, Käseherstellung, täglich von 17 bis 19.30 Uhr geöffnet. Melken gegen 18 Uhr.“

Wer sich – neugierig geworden – den Umweg gönnt, findet ein kleines Backsteinhaus vor. Auf der Wäscheleine trocknen Laken in der Sonne, der üppige Gemüsegarten ist von hohem Gras umsäumt. Eine leichte Brise bewegt ein Windrad und erinnert daran, dass der Ozean kaum einen Kilometer entfernt ist. Junge Kälber laufen ausgelassen über die Weide neben einem rustikalen Heuschober. Ein Holzschuppen, in dem antikes Werkzeug und Gerät untergebracht ist, vollendet das zeitlose Idyll.

Roger Abalain, ein rüstiger Mann in seinen Fünfzigern, empfängt seine Besucher in Holzpantoffeln und mit freundlichem Lächeln. Gerade hat er seine acht Kühe in den Stall gebracht, Bretonnes Pie Noir, eine alte, geschützte Rasse. Jede Kuh hört auf einen bretonischen Vornamen. Eine Familie aus Rennes ist gekommen, um beim Melken zuzusehen. Sie kennen Roger schon und teilen seine Leidenschaft für Zugpferde: „das einzig Wahre, im Gegensatz zu den Traktoren, die die faulen Landwirte benutzen“.

Die Abalains, ehemalige Führungskräfte, haben vor ein paar Jahren beschlossen, sich auf dem Land ein Holzhaus zu bauen und sich dem Gemüseanbau und der Pflanzenheilkunde zu widmen. Während Roger eine Kuh nach der anderen an die automatische Melkmaschine anschließt, erzählt er vom „wahren Leben“, das sie hier „jenseits der üblichen Kreisläufe und der Konsumgesellschaft“ führen.

„Wir nutzen die Natur nicht aus, wir begleiten sie“, sagt er. „Wir sind Selbstversorger. Ich bin autark, was die Ernährung angeht und auch die Energie.“ Das begeistert nicht nur seine Besucher aus ­Rennes, für die Roger „ein guter Kerl“ ist, weil er seine Kühe „mit ätherischen Ölen pflegt“, sondern auch die lokalen, nationalen und inter­na­tio­na­len Medien. „Uns besuchen russische, amerikanische und deutsche Journalisten, einmal war sogar jemand aus Alaska da!“, erzählt der Käsebauer. Auf dem Markt in Quiberon kennt ihn jeder. Dort steht er mit seinem Käse neben einem Stand für Fischerhemden und lockt die Kunden auf Bretonisch an, sehr zur Freude der Touristen.

Weniger begeistert sind die Urlauber, wenn sie hinter breiten Traktoren herfahren müssen, deren Anhänger einen penetranten Güllegeruch verströmen. Ungeduldig versuchen sie mit Hupen und Flüchen, kostbare Strandminuten zu retten. Ein Glück für sie, dass die Straße, die an der Küste entlangführt, die dazugehörigen Betriebe von ihren kleinen Ferienparadiesen separiert.

Einer dieser Höfe gehört Yannick Morvan, Milchbauer, um die vierzig. Obwohl er nur 10 Kilometer von den Badeorten Carnac und La Trinité-sur-Mer und 20 Kilometer von Quiberon entfernt lebt, erinnert er sich nicht, wann er das letzte Mal einen Fuß ins Wasser gehalten hat: „Ich arbeite die ganze Zeit, ich habe keine Zeit, ich habe nie Urlaub.“1 Sein Fazit: „Wir leben in verschiedenen Welten.“

Seine Welt ist der Hof, auf dem er arbeitet, seit er 16 ist, und der seiner Familie seit mehreren Generationen gehört. Die Geschichte, die sein Vater, Bernard Morvan, inzwischen im Ruhestand, wehmütig erzählt, gleicht der von vielen anderen in der Region: „Meine Eltern hatten drei oder vier Kühe. Sie fuhren mit einem Pferdekarren auf den Markt, um ihre Produkte zu verkaufen, Butter, Eier, ab und zu ein Kalb.“

Dann fing die Landwirtschaft an sich zu modernisieren. In den 1960er Jahren kamen die Milch­kooperativen auf. „Sie überredeten uns, mehr zu produzieren und das Buttern aufzugeben“, erinnert sich Morvan. „Sie holten die Milch direkt vom Hof ab. Für uns war es eine große Erleichterung, nicht mehr die Milch zu seihen, um Butter zu machen und dann den halben Tag auf dem Markt zu stehen. Außerdem hatten wir ein regelmäßigeres Einkommen. Allmählich haben meine Eltern immer mehr Kühe gekauft. Die Kooperativen wurden immer größer. Bald hatten die Mitglieder nichts mehr zu sagen und mussten die Entscheidungen größerer Betriebe hinnehmen, angefangen beim Milchpreis.“

In den 1960er Jahren orientierte die französische Regierung die Landwirtschaft einzig auf Produktivität. Die Formel lautete: „Wir müssen Frankreich ernähren.“ Als Bernard Morvan den Hof übernahm, hatte er kaum eine andere Wahl, als seinen Viehbestand zu verdoppeln. „Wir haben investiert“, erzählt er. „Wir haben Kredite aufgenommen, um einen größeren Stall zu bauen und zu modernisieren. Das war das Modell, das ich in der Schule gelernt hatte, das in den Büchern stand und das in unseren Kreisen gepriesen wurde. Außerdem dachten wir, es würde dank der Maschinen weniger anstrengend werden.“

Der nächsten Generation erging es ebenso. Yannick Morvan fasst seine Jahre an der Landwirtschaftsschule so zusammen: „Bis zum Abi lernt man: produzieren, produzieren, produzieren; an der Fachschule heißt es nur Kosten reduzieren, rentabel werden.“ Und inhaltlich „lehrt man uns nur konventionelle Landwirtschaft“. Die Landwirtschaftskammern, deren Aufgabe es ist, neue Betriebe zu genehmigen und den Landwirten „technische und administrative Hilfe“ zu leisten, schlagen den gleichen Ton an.

Seit vielen Jahren werden sie von der größten gewerkschaftlichen Dachorganisation der Landwirte, der Fédération Nationale des Syndicats d’Exploitants Agricoles (FNSEA), dominiert. Natürlich habe sie auch „bei der Ausbildung mitzureden“, betont ihr Präsident im Département Morbihan, Frank Gué­hen­nec. „Wir haben eine Vorstellung vom Arbeitsmarkt und richten die Ausbildung an den Landwirtschaftsschulen entsprechend aus. Wir schulen die angehenden Landwirte in neuen Techniken und weiterentwickelten Verfahren.“ Patrick Danzé, früher Lehrer für Betriebsführung in einer Landwirtschaftsschule der Region, seufzt: „Wenn die Ausbildung dem Bildungsministerium unterstünde statt dem Landwirtschaftsministerium, könnte man die Schüler vielleicht mit anderen Produktionsmethoden bekannt machen und dem Druck der Lobbys entgehen.“

Im Verlauf von drei Generationen hat sich das vom Staat und von der FNSEA geförderte Modell kaum entwickelt. Das Leben schon. In der Gemeinde, in der die Morvans ihren Hof haben, hat sich die Bevölkerung fast verdoppelt. In die neuen Häuser und Wohnanlagen ziehen Familien, die sich wegen der Preisexplosion das Leben in Car­nac, La Trinité-sur-Mer oder Quiberon nicht mehr leisten können. In den Küstenorten sind mehr als 70 Prozent der Wohnungen und Häuser Zweitwohnsitze. Mehr als ein Drittel der Eigentümer kommt aus Paris und Umgebung.2

Die extreme Preisentwicklung, die zum Teil auf Immobilienspekulation zurückzuführen ist, wirkt sich auch auf das Landesinnere aus: Alte Häuser „mit Charakter“ werden aufgekauft und von ihren neuen Eigentümern auf der Suche nach „Authentizität“ renoviert. Yannick zeigt mit dem Finger auf ein typisch bretonisches Bauernhaus aus Stein, hübsch renoviert, mit buntem Blumengarten und Swimmingpool und erzählt, warum er sein eigenes Haus auf eine seiner Ackerflächen bauen musste: „Als ich bei meinen Eltern ausgezogen bin, wollte ich dieses aufgegebene Gehöft kaufen, aber als der Notar mir den Preis genannt hat, habe ich die Idee schnell aufgegeben! Am Ende hat ein Rentnerpaar aus Paris den Zuschlag bekommen. Aber sie sind nicht oft da.“

Die neuen Bewohner des Dorfs, die ständig hier wohnen, „arbeiten in der Stadt, im Einzelhandel oder als Büroangestellte“, berichtet sein Vater. Deshalb machen die Landwirte nur noch einen winzigen Teil der Bevölkerung aus: 2019 waren es weniger als 2 Prozent.3 1968 waren es in vergleichbaren ländlichen Gemeinden in Frankreich noch mehr als 40 Prozent.4 Deshalb haben sie auch im Gemeindeleben nicht mehr viel zu sagen. „Die letzten beiden Bürgermeister waren ein Buchhalter und eine Krankenschwester. Vorher waren es immer Bauern gewesen.“

Eine Leidenschaft ­für Zugpferde

Auf engstem Raum prallen zwei Welten aufeinander. Das schafft große Spannungen, weil die landwirtschaftliche Tätigkeit nicht recht zu den Wünschen der neuen Einwohner passt. „Wir werden schief angesehen“, klagt der Milchbauer ­Pierre Jouanno. „Wir gelten im Dorf als Umweltverschmutzer. Wenn wir mit dem Sprühgerät vorbeifahren, halten die Eltern ihren Kindern die Nase zu. Wir fühlen uns wie der letzte Dreck.“ Jouanno holt kurz Luft und fährt fort: „Und jetzt werfen uns die Tierschutzorganisationen auch noch vor, dass wir unsere Tiere misshandeln. Wenn die Leute wüssten, wie wir arbeiten, hätten sie ein ganz anderes Bild von uns.“ Ein anderer Landwirt erzählt, dass seine Kinder oft gehänselt werden. „In der Schule machen sie dumme Bemerkungen. Einmal ist mein Sohn weinend nach Hause gekommen, weil sie ihn im Bus als Bauerntrampel und Landei beschimpft haben.“

Dass die Bauernschaft immer schwächer wird, liegt neben ihrer schwindenden Zahl und der Stigmatisierung auch an der Zerstörung von innen. Die Landwirte liefern sich ein regelrechtes Wettrennen um Erträge und Produktionsmengen. Jean-Charles Jacopin ist Milchbauer im Ruhestand und Präsident der Sektion Finistère von Solidarité Paysans, einer Vereinigung, die Landwirten in Not hilft. Er erklärt uns: „Es ist die Jagd nach dem Land. Alle wollen es haben, um sich zu vergrößern und mehr zu produzieren. Es gibt viel Konkurrenz, und die Leute stellen sich gegenseitig ein Bein. Da heißt es, jeder für sich.“

Die zunehmende Größe der Betriebe verhindert auch, dass man sich gegenseitig hilft. „Die großen Feldarbeiten werden jetzt von Spezialunternehmen erledigt, den einzigen, die die nötigen Maschinen haben“, erzählt ein anderer Landwirt im Ruhestand. „Früher war zum Beispiel das Silieren ein toller Gemeinschaftsmoment. Einer half dem anderen. Heute sieht man sich kaum noch.“

Zudem wird es immer schwieriger, jemanden zu finden, der den Hof weiterführt.5 Selbst die eigenen Kinder überlegen es sich zweimal. Marie, die Tochter von Pierre Jouanno, gesteht: „Ich hatte vor, den Hof meines Vaters zu übernehmen, aber es ist schwierig und sehr teuer, weil die Höfe immer größer werden. Und wenn du dann noch siehst, welche Mühe die Eltern haben, davon zu leben, macht dir das auch keinen Mut.“

Die zunehmende Isolierung hängt auch mit dem niedrigen Grad gewerkschaftlicher Organisation zusammen, an der wiederum die Lebens- und Arbeitsbedingungen schuld sind. „Wir finden kaum noch Leute, die sich einbringen wollen, weil die Landwirte einfach keine Zeit mehr haben“, fasst FNSEA-Funktionär Guéhennec zusammen. Und Yannick Morvan ergänzt: „Nur die Großen können Verantwortung übernehmen, weil sie Mitarbeiter haben und sich leicht mal von jemandem vertreten lassen können, wenn sie zu Sitzungen müssen. Deswegen fühlen sich Mitglieder wie ich kaum noch repräsentiert. Auch wenn wir unseren FNSEA-Ausweis behalten.“

Da überrascht es kaum, wenn ein junger Bauer aus der Nachbarschaft erklärt: „Hier in der Gegend gibt es jede Menge Alleinstehende.“ Er schimpft auf beliebte Reality-TV-Formate wie „L’Amour est dans le pré“ (das Pendant zur deutschen Show „Bauer sucht Frau“), die seit 2005 ausgestrahlt wird und bis zu 4 Millionen Zuschauer pro Folge hat. Auf der Suche nach der „großen Liebe“ beherbergen ledige Landwirte eine Woche lang „Bewerberinnen“ aus der Stadt auf ihrem Hof. „Die verbreiten die schlimmsten Klischees über uns!“ Auch Jacopin stellt fest, dass sich solche Fernsehsendungen „zwar um die vielen Junggesellen unter den Landwirten sorgen, aber nicht darum, weshalb sie allein sind. Bei Solidarité Paysans bekommen wir immer mehr Anrufe von Personen mit psychischen Problemen. Auch Selbstmorde sind leider keine Seltenheit.“6

Um durchzuhalten, klammern sich die Landwirte an die Arbeit und knien sich noch mehr hinein: „Man bewertet sich selbst nach den geleisteten Arbeitsstunden, den produzierten Litern Milch und so weiter.“ Doch weil das die Isola­tion noch verstärkt, „fragen sich viele nach dem Sinn ihres Lebens und haben das Gefühl, nicht mehr den Beruf auszuüben, den sie einmal gewählt haben“. Während Yannick Morvan auf seine eingepferchten Kühe schaut, gesteht er uns: „Das ist nicht das, was ich machen wollte, als ich jung war und angefangen habe. Es tut mir in der Seele weh, die Tiere so zu sehen, aber ich habe keine Wahl. Ich gebe ihnen keine Namen mehr, man darf sich nicht zu sehr an sie hängen. Außerdem sind es zu viele.“

Doch egal wie groß die Schwierigkeiten sind, aufhören kommt nicht infrage, erklärt Jacopin von Solidarité Paysans: „Der Landwirt, der den Familienbetrieb übernimmt und in Schwierigkeiten kommt, hat Angst, etwas zu zerstören, was über Generationen entstanden ist. Er richtet seine Wut gegen sich selbst. Er sagt sich: Ich bin schuld, ich bin ein Versager.“

Stéphane Le Scouarnec, Milchbauer um die 50, ist vor zwei Jahren bei der Arbeit in seiner Scheune von der Leiter gefallen. Er hatte mehrere Knochenbrüche, lag sechs Monate flach und konnte seinen Hof nicht weiterführen. Um seine Schulden zurückzuzahlen, musste er sein Land, seine Maschinen, sein Vieh und einen Teil der Gebäude verkaufen. Weder für sich noch für seine Kollegen sieht er eine Zukunft: „Ich fühle mich wertlos. Anscheinend sind wir Landwirte doch verzichtbar, denn was sie uns zahlen, ist nicht mehr als Peanuts. Sowieso bringt es nichts mehr, Milch zu produzieren. Bald importieren sie sie bestimmt aus Osteuropa, wo sie billiger ist.“

Le Scouarnec wendet sich um zum Nachbarfeld, das vor Kurzem noch seiner Familie gehört hat. Mit Blick auf die vier Zugpferde eines jungen Paars aus Nantes, das gerade hergezogen ist, bemerkt er in einer Mischung aus Bitterkeit und Unverständnis: „Sie verdienen jetzt das Geld …“ Seine Mutter ergänzt: „Wir haben keine Zugpferde mehr benutzt, seit ich klein bin. Wir haben Traktoren gekauft, das ist viel weniger anstrengend.“

Und seine Tochter, stolz darauf, in der Landwirtschaftsschule zu lernen, die schon ihr Vater besucht hat, bestätigt: „In meiner Schule sind die Hälfte Bauernkinder, die andere Hälfte Touristen.“ So nennt sie die Schüler, die nicht aus Bauernfamilien kommen. „Uns behandeln sie wie Hinterwäldler. Sie wollen den Beruf erlernen, weil sie Tiere lieben und gern Kälber streicheln. Die träumen!“

Cyrille Troadec, Direktor einer der größten Landwirtschaftsschulen der Region, erklärt, dass „diese Schüler oft aus den umliegenden Städten kommen und hier sind, weil sie aus dem klassischen Schulsystem ausgestiegen sind. Wenn wir ihnen nur von konventioneller Landwirtschaft erzählen würden, würden sie nicht kommen. Aber wenn wir nur von Bio reden, schicken die konventionell wirtschaftenden Landwirte ihre Kinder nicht mehr her. Also reden wir über Agrarökologie, das ist intensive ökologische Landwirtschaft: mehr produzieren mit weniger Dünger und Pflanzengift.“

Auch die Tochter von Roger Abalain, dem Käsebauern an der Straße nach Quiberon, besucht die Landwirtschaftsschule. Auch sie erzählt, dass sie dort gehänselt wird. „Für die meisten sind die Bios langhaarige Hippies.“ Ihr Vater, bei dem sie später arbeiten möchte, hält dagegen: „Die Biobauern, die sich hier niederlassen, sind eher junge Ingenieure, die aus den Landwirtschaftshochschulen kommen.“

Unterm Druck ­der Molkereien

Abalain selbst ist ausgebildeter Elektroinge­nieur. Sein Wissen hat ihm geholfen, die energetische Selbstversorgung zu installieren: Windrad, Solarpaneele und Regenwasseraufbereitung. Er bekommt Besuch von Studierenden, die die Funktionsweise seines Hofs bewundern und sich nach den Erträgen seiner Kühe erkundigen. „Ich komme auch nicht vom Land. Ich bin ein Zugezo­gener.“

Das kann man von Françoise Macé und ihrem Mann Bruno nicht behaupten. Sie sind seit Jahrzehnten Milchbauern und haben kürzlich angefangen, ihren eigenen Käse zu produzieren, um diesen direkt auf dem Familienhof zu verkaufen, anstatt weiter große Milchmengen an die Indus­trie zu liefern. „Früher hatten wir eine Menge Kredite am Hals“, erzählt Françoise. „Jetzt kommen wir klar.“ Sie sind auch „auf Bio“ umgestiegen. „Das bringt mehr. Du hast genauso viel Arbeit, aber verkaufst deine Milch ein Drittel teurer“, erklärt Bruno. „Wir haben gesehen, dass es neue Kunden und eine Nachfrage gibt. Und wir sind nicht dümmer als die anderen! Unsere Gewinnspanne ist sogar noch größer, weil wir verarbeiten. Das bringt einen ordentlichen Mehrwert. Im Sommer sind hier viele Touristen, da haben wir uns gedacht, das müssen wir ausnutzen.“

Der Hof der beiden ist auf der richtigen Seite der Straße, in der Nähe eines Badeorts mit acht Kilometern Strand, Menhiren und Bauernmarkt. So hatten sie bald Erfolg. Inzwischen verkaufen sie nicht mehr nur auf dem Hof oder den Märkten, sondern auch an Restaurants. „Wir spüren die gesellschaftliche Anerkennung, die Bioprodukte erfahren. Wir haben treue Kunden, die jedes Jahr wiederkommen“, schwärmt Françoise, die hinter der Kühltheke des kleinen Hofladens gleich neben dem Stall steht. Benjamin Macé, ihr dreißigjähriger Sohn, hat beschlossen, bei seinen Eltern zu arbeiten. „Er sieht, dass es läuft, dass wir immer mehr Kunden haben. Das motiviert ihn.“ – „Es gibt so viel zu tun!“, sagt der junge Mann enthusiastisch.

Für die Macés war die Umstellung auf Bio und Regionalität eine „freie Wahl“. „Wir haben es gemacht, nachdem wir uns angesehen haben, wie es anderswo läuft.“ Mit Unverständnis blicken sie mittlerweile auf die „Konventionellen“ auf der anderen Seite der Straße. „Die sind so stur.“

Im Laufe des Gesprächs klingt die „freie Wahl“ jedoch immer mehr nach einer Notwendigkeit. Da sie nicht mehr in der Lage waren, die vertraglich festgelegte Milchmenge zu produzieren, reduzierte die Molkerei diese so drastisch, dass die Macés schließlich sogar auf einem Teil ihrer Milch sitzenblieben, mit zunächst katas­tro­phalen wirtschaftlichen Folgen. Um die nicht mehr abgenommenen Liter doch noch zu Geld zu machen, mussten sie also zwangsläufig schauen, „wie es anderswo läuft“.

Für Yannick Morvan ist dieses Modell keine Alternative. „Ich habe meinen Beruf so gelernt, ich könnte nichts anderes machen. Verkauf ist nicht mein Ding. Kunden auf meinen Hof zu lassen, wäre mir unangenehm.“

Vielleicht ist das auch gut so, denn „wenn alle mit Direktverkauf anfangen würden, wäre der Markt bald gesättigt und die Preise würden fallen“, meint Arthur Souchet, der sich nach einem Architekturstudium auf die Produktion von Ziegenkäse verlegt hat. Und Betriebswirtschaftslehrer Danzé, der sich ehrenamtlich bei Solidarité Paysans engagiert, erzählt, dass auch immer mehr Zugezogene mit ihren alternativen Projekten in Schwierigkeiten geraten. Manche von ihnen „hätten nie gedacht, dass es so hart sein würde“.

„Du musst dein Alleinstellungsmerkmal finden“, resümiert Roger Abalain, dessen Geschäft während des Lockdowns im Frühjahr 2020 so gut lief wie noch nie. Mit einem alten Pferdekarren belieferte er die Kunden in der Umgebung. Darüber berichtete die lokale Presse mehrfach, was zusätzlich zu seinem Erfolg beigetragen hat. Doch die Begeisterung für Abalains Produkte währte nur kurz. „Nach dem Lockdown haben sich die Leute wieder abgewandt, wir haben vielleicht 10 Prozent dieser Kunden halten können. Man darf sich nichts vormachen, das war mehr eine Mode als ein echter Wandel des Konsumverhaltens.“

Die Schwärmerei für Bio und regionale Produkte ist nur teilweise berechtigt. „Wussten Sie, dass es möglich wäre, auch industrielle Betriebe als Ökohof zu führen, ohne die europäischen Vorschriften für Bioprodukte zu verletzen?“, fragt Claude Gruffat, von 2004 bis 2019 Präsident des Netzwerks Biocoop. Das Biosiegel sei keine Garantie dafür, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern und das Tierleid aufhört.7

Der französische Biomarkt wächst rasant. Zwischen 2010 und 2020 stieg der Umsatz mit Bioprodukten von 3,7 auf 13,2 Milliarden Euro8 , längst mischt aber auch die Agrarindustrie kräftig mit. „Die Biobauern sind auf dem besten Weg, dieselben Fehler zu machen wie die konventionellen“, beklagt Morgan Ody, Sprecherin der Confédération paysanne du Morbihan: „Immer größer, immer billiger produzieren. Das Rennen um mehr Land findet auch in diesem Sektor statt. In der Bretagne gibt es Biohöfe von 400 Hektar mit Melkautomaten, auch für die regionale Produktion.“

Morgan Ody warnt deshalb, dass Regionalität mitnichten vor einem brutalen Preisdruck schütze: „Seit dem Boom der regionalen Produkte während des Lockdowns geben Agrarindustrie und Großhandel richtig Gas.“

Yuna Chiffoleau, Soziologin und Forschungsdirektorin des Nationalen Forschungsinstituts für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt, erklärt, dass zudem das Label „regional“ lediglich festlegt, dass es nicht mehr als einen Zwischenhändler gibt. Die Produktionsweise bleibt unberücksichtigt und auch die Bezahlung der Produzenten. Die Bedingungen lege immer noch der Großhandel fest. Und „anders, als die Großhändler suggerieren, arbeiten sie vorwiegend mit großen oder mittleren Betrieben zusammen, die große Mengen produzieren und eine Standardqualität garantieren können“, aber nicht mit kleinen Bauern.9

Klar ist außerdem, dass der Direktverkauf nicht der einzige Weg sein kann. Nicht nur weil „der Markt schnell gesättigt ist“, wie Ody zu bedenken gibt. „Manchmal geht es eben nicht ohne lange Vertriebswege. In der Bretagne werden nun mal keine Tomaten und kein Comté produziert. Natürlich müssen diese Produkte von anderswo kommen, wenn nötig aus dem Ausland.“

Für Jean-Charles Jacopin von Solidarité Pay­sans besteht das Problem darin, dass diejenigen, die wie die Confédération paysanne das herrschende Modell der langen Vertriebswege infrage stellen, sich „vor allem um die alternativen Sektoren kümmern, aber kaum um die Menschen, die im konventionellen Sektor arbeiten. In der Zeitung der Confédération paysanne ist immer nur von denen die Rede, die Direktverkauf auf innovativen Wegen betreiben. Ganz so, als gäbe es die anderen gar nicht.“

Deswegen würde auch Yannick Morvan, der sich von der FNSEA nicht gut vertreten fühlt, nicht in die Confédération paysanne gehen. „Die ist für die Biobauern, die ihr bisschen Zeug auf dem Markt verkaufen, aber sicher nicht Frankreich ernähren werden.“ Als Biobauer gehe man hingegen nicht zu den Treffen der Landwirtschaftskammer, erklärt der Ziegenkäseproduzent Arthur Souchet, „weil die sich eher um die konventionelle Landwirtschaft kümmert. Also treffen wir sie nicht.“

Das System, das die einen anprangern und dem sich die anderen beugen, bleibt derweil weiter bestehen.

1 Siehe „Milchbauern in Not“, LMd, Februar 2021.

2 Untersuchung vom Februar 2020 durch das regionale Tourismusbüro der Bretagne bei Zweitwohnungsbesitzern der Region.

3 „Emploi, séries longues sur le marché du travail“, Institut national de la statistique et des études économiques (Insee), Paris, 23. Juni 2020.

4 Jean Molinier, „L’évolution de la population agricole du XVIIIe siècle à nous jours“, Économie et statistique, Nr. 91, Insee, Juli/August 1977.

5 In der Bretagne sind zwischen 2000 und 2010 fast ein Drittel (32,7 Prozent) der erfassten Landwirtschaftsbetriebe verschwunden. Von 2010 bis 2016 betrug der Rückgang der Betriebe 12 Prozent; siehe „Tableaux de l’agriculture bretonne“, Direction générale de l’alimentation, de l’agriculture et de la forêt (Draaf Bretagne), 2016.

6 Nach dem im Juli 2019 veröffentlichten Bericht „Charges et pro­duits MSA 2020“ der Mutualité sociale agricole wurde im Jahr 2015 der Selbstmord von 372 Landwirten und 233 Angestellten in der Landwirtschaft registriert. Damit ist das die am stärksten betroffene Berufsgruppe.

7 Claude Gruffat, „Les Dessous de l’alimentation bio“, La Mer salée, Rezé 2017.

8 Insee, Agence BIO/AND international, 2021.

9 „ ‚Local‘, ‚éthique‘: ces nouveaux filons qui rapportent gros“, L’Humanité, Saint-Denis, 22. Februar 2019.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Maëlle Mariette ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Maëlle Mariette