12.08.2021

#MeToo in Tunis

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#MeToo in Tunis

Frauen in der arabischen Welt wehren sich

von Akram Belkaïd

Internationaler Frauentag in Algier, 2020 HUANG LING/picture alliance/xinhua news agency
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Algier, 3. Oktober 2020. In einem Vorort im Osten der Stadt wird bei einer stillgelegten Tankstelle der leblose Körper einer jungen Frau gefunden. Chaïma F., 19 Jahre, wurde vergewaltigt, von Messerstichen durchbohrt, mit Benzin übergossen und verbrannt. Bei seiner Festnahme gibt der Mörder die Tat sofort zu. Er hatte schon vier Jahre zuvor versucht, sein Opfer zu vergewaltigen. Die Emotionen schlagen hoch. Viele Zeitungen berichten ausführlich über das Verbrechen, und im Netz kursiert der Slogan: „Ich bin Chaïma“, oft begleitet von wüsten Beschimpfungen des Täters, dem viele den Tod durch Hinrichtung wünschen.

Einen Monat später kündigte Justizminister Belkacem Zeghmati an, man werde die Aufhebung des Moratoriums für die Todesstrafe1 prüfen. Mit Vergeltung verhindere man aber keine Morde, kritisiert die Feministin Wiame Awres, die mit ihrer Mitstreiterin Narimene Mouaci Bahi auf ihrer Webseite „Féminicides Algérie“ über die systemische Gewalt gegen Frauen aufklärt. Die beiden haben es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Frauenmord in Alge­rien zu dokumentieren – im ersten Halbjahr 2021 berichteten sie schon über 23 Femizide.2

Einige Wochen nach dem Mord an Chaïma F. erschien am 27. November auf Youtube ein Video, in dem junge und ältere Schauspielerinnen mit und ohne Kopftuch jene Art von Sprüchen zitieren, die sich Mädchen und Frauen so anhören müssen: „Sport? Bist du verrückt? Lass das Fahrrad deines Bruders los und geh nach Hause. Mädchen müssen sanft und leise sein. Der Mann hat keine Fehler. Nach der Heirat gehst du nicht mehr zur Uni. Ist das Essen etwa immer noch nicht fertig? Deine Onkel haben dich gesehen. Sie werden dich umbringen. Wenn er sie geschlagen hat, dann hat sie wohl etwas angestellt …“3

Das Video stieß auf ein breites Echo aus Wut und Abscheu, aber auch Fatalismus. Weil es immer noch normal ist, wenn Frauen auf der Straße oder bei der Arbeit belästigt, in öffentlichen Verkehrsmitteln angegrapscht oder von ihren Ehemännern geschlagen werden. Feminismus gibt es in Algerien nicht erst seit gestern4 , erklärt die Dokumentarfilmerin Habiba Djahnine. Doch erst die neuen Kampagnen in den sozialen Netzwerken hätten es ermöglicht, „gleichzeitig viel freier zu sprechen, die Bewegung zu einen und das kollektive Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Gewalt gegen Frauen in allen Milieus vorkommt. Und das hat einfach mit den patriarchalischen Strukturen unserer Gesellschaft zu tun“, sagt Djahnine, deren Schwester, ebenfalls eine kämpferische Feministin, 1995 während des Bürgerkriegs von muslimischen Fundamentalisten ermordet wurde.

Seit der weltweiten #MeToo-Bewegung, die 2017 in den USA entstand, wird auch in den meisten anderen arabischen Ländern viel offener und breiter über das Thema gesprochen. Vor zehn Jahren war das noch wesentlich anders. Als etwa die jordanische Anglistikprofessorin Rula Quawas (1960–2017) damals die Schirmherrschaft für ein kurzes Video über sexuelle Belästigung an der Universität von Amman übernahm, das vier ihrer Studentinnen gedreht hatten5 , kostete sie das nicht

nur ihre Stelle als Dekanin. Der kleine Film blieb selbst auf dem Höhepunkt der öffentlichen Empörung, die er in dem extrem konservativen haschemitischen Königreich ausgelöst hatte, weitgehend folgenlos.

Heute haben die sozialen Netzwerke viel mehr Einfluss: Als die kuwaitische Modebloggerin Ascia Al-Faraj, die auf Instagram 2,6 Millionen Follower hat, Ende Januar 2021 auf Snapchat ein Video veröffentlichte, in dem sie ihrem Zorn über die tägliche Anmache auf der Straße freien Lauf ließ, wurde ihr Post sofort von anderen kuwaitischen Userinnen aufgegriffen.6

Die Ärztin Shayma Shamo sammelt auf ihrem Instagram-Account unter dem Hashtag #Lan_Asket („Ich werde nicht schweigen“) Erfahrungsberichte auf Arabisch und Englisch. „Wir müssen reden, uns verbünden und uns gegenseitig verteidigen, denn was passiert, ist inakzeptabel“, schreibt sie. Aus Kuwait und der gesamten Arabischen Halbinsel erreichen sie Schilderungen verheirateter oder lediger Frauen quer durch alle Berufe und Klassen.

Studentinnen, Hausfrauen und sogar Hausangestellte aus Südostasien posten bei Shamo. Und alle leiden unter der Taharouche, der ständigen Belästigung durch Männer – sei es beim Einkaufen, an der Uni, bei der Arbeit und sogar in der Moschee. Selbst Minderjährige melden sich bei Shamo zu Wort. Am 20. April dieses Jahres nahm die #Lan_Asket-Kampagne noch einmal Fahrt auf. Auslöser war der Mord an der Kuwaiterin Farah Akbar, die vor den Augen ihrer Kinder von einem Unbekannten, der sie zuvor belästigt hatte, umgebracht wurde.7

Einige Wochen später kam es in der tunesischen Stadt Kef zu einem ähnlichen Verbrechen. Die 26-jährige Refka Cherni wurde von einem Nationalgardisten erschossen, nachdem sie ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. „Zieh die Anzeige zurück oder ich bringe dich um“, hatte er ihr noch vor Zeugen gedroht, als sie auf der Polizeistation die ärztlichen Atteste abgab.

Danach kursierte wieder verstärkt der Hashtag #EnaZeda („me too“), der zuerst 2019 zwischen der ersten und zweiten Runde der tunesischen Präsidentschaftswahl aufgetaucht war. Die Userinnen warfen den Behörden Laxheit vor. Bei einer parlamentarischen Anhörung am 20. Mai musste der kommissarische Justizminister Hasna Ben Slimane eingestehen, dass 2019 und 2020 nur 4000 solcher Gewalttaten vor Gericht verhandelt wurden – eine lächerlich geringe Zahl angesichts der 65 000 Anzeigen, die dem Innenministerium vorlagen.

Nach dem Mord an Refka Cherni zeigten sich viele Tunesierinnen darüber verbittert, dass sich Frauen, wenn sie Anzeige erstatten, offenbar in noch größere Gefahr begeben. Eine Beobachtung, die von den Frauen in Kuwait geteilt wird. Auch Farah Akbar hatte zuvor ihren späteren Mörder angezeigt.

Den Tätern schutzlos ausgeliefert waren auch die neun Erzieherinnen, die in der Nacht vom 17. Mai 2021 in ihrer Dienstwohnung am Rande der algerischen Stadt Bordj Badji Mokhtar (Sahara) von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurden. Viermal hatten sie sich zuvor an die zuständige Polizeibehörde gewandt, um zu erklären, dass sie in Gefahr seien. Hinterher prangerte ihre Gewerkschaft die Unsicherheit an, in der die Frauen lebten, und beklagte die Untätigkeit der Behörden.8

Die Ärztin Narjess A. kennt nur wenige Betroffene, die zur Polizei gegangen sind: „Denn sie wissen, dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen. So lange müssen sie dem familiären Druck widerstehen, ihre Aussage zu widerrufen, wie es bei Refka Cherni der Fall war. Wenn eine Frau in unserer Gesellschaft Anzeige wegen sexueller Belästigung erstattet, setzt sie sich damit über die von den Männern vorgeschriebenen Anstandsregeln hinweg. Schließlich geht es immer darum, den guten Ruf der Familie nicht zu gefährden. In Anwesenheit von Fremden über unsittliche Berührungen zu sprechen oder zu erzählen, dass ihnen ein Mann gefolgt ist und seinen Penis gezeigt hat, bedeutet‚ ayb, Schande über die Familie zu bringen.“

Alle arabischen Regierungen brüsten sich damit, dass sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen in ihren Ländern bestraft wird. Tatsächlich haben die seit 2017 gestarteten Kampagnen verschiedener Frauenorganisationen gezeigt, dass das Gesetz häufig mit Füßen getreten wird. Viele Mörder oder Gewalttäter werden gar nicht erst belangt oder kommen schnell wieder frei.

Auch die Gesetzgebung an sich ist lückenhaft. Mit Ausnahme von Marokko und Tunesien haben die Länder der Arabischen Liga Vorbehalte gegen die 1979 verabschiedete UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women/Cedaw) geltend gemacht. Also können sich die Frauenrechtsorganisationen nicht auf diesen Referenztext berufen, wenn sie Gesetzesänderungen fordern.

Es gibt in der Arabischen Liga auch kein Abkommen wie die Istanbul-Konvention. Und dass ausgerechnet die Türkei, die als erstes Land das 2011 vom Europarat unterzeichnete „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ ratifiziert hatte, seit dem 1. Juli offiziell ausgestiegen ist, ist auch kein gutes Zeichen. In keinem arabischen Staat, noch nicht einmal in Tunesien, das 2017 ein ambitioniertes juristisches Regelwerk zum Schutz von Frauen gegen Gewalt erlassen hat, ist Vergewaltigung in der Ehe eine Straftat. In Ägypten wurde diese Frage sogar jüngst zum Gegenstand theologischer Haarspaltereien.9

In den Golfstaaten wird häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch gar nicht erst erwähnt. In Algerien können für einen Femizid bei „Ehebruch“ mildernde Umstände geltend gemacht werden. In Jordanien, Irak und Syrien deckt der Gesetzgeber familiäre Übereinkommen nach „Ehrenmorden“. Und in Marokko, wo eine Studie des Familienministeriums 2019 feststellte, dass jede zweite Frau bereits Gewalt erlitten hat, zögern Vergewaltigungsopfer damit, Anzeige zu erstatten, weil sie fürchten, womöglich wegen außerehelicher sexueller Beziehungen belangt zu werden. Diese Misere prangert die Webserie #TaAnaMeToo an („Selbst ich bin MeToo“).

In Ägypten hat Mohamed Diab mit seinem Spielfilm „Kairo 678“, der 2010 herauskam, deutlich gemacht, was für eine Geißel sexuelle Belästigung in diesem Land ist. In einer UN-Umfrage von 2013 haben 99,3 Prozent der Frauen angegeben, dass sie schon einmal Opfer einer Form von Belästigung geworden sind.10 Ägypten ist übrigens das einzige Land der arabischen Welt, wo sich die #AnaKaman (MeToo)-Kampagnen über den allgemeinen Protest hinaus gezielt einzelne Täter vorknöpfen. So wurden im Juli 2020 auf dem Instagram-Account „Assault Police“ einem ehemaligen Studenten der Amerikanischen Universität Kairo und typischen Vertreter der verwöhnten Jeunesse dorée Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung vorgeworfen. Über 50 Frauen konnten das bezeugen.

Das Ausmaß sexueller Belästigung ist so eklatant, dass das ägyptische Parlament nach vielen Jahren des Zögerns im Juli ein Gesetz verabschiedet hat, nach dem sexuelle Belästigung nicht mehr nur ein Vergehen, sondern eine Straftat ist. Selbst der Großmufti Schawki Allam verkündete: „Das islamische Recht verbietet sexuelle Belästigung. Sie ist eine der schlimmsten Sünden und kann nicht mit der Kleidung der Frauen gerechtfertigt werden.“11

Doch fällt die Einlassung des Großmuftis auch auf fruchtbaren Boden? Jedenfalls treibt Imam Abdallah Roshdy, der im Juli 2020 wegen seiner Behauptung, kurze und enganliegende Kleidung seien der Grund für sexuelle Belästigung, vorübergehend suspendiert worden war, inzwischen wieder sein Unwesen in den sozialen Netzwerken. Und er hat dort viele Unterstützer.

Auf die Frage, inwieweit die Frauenkampagnen die Regierungen beeinflussen, antwortet die Algerierin Habiba Djahnine: „Diese Kampagnen ermöglichen es ihnen zu behaupten, dass in ihrem Land Meinungsfreiheit herrscht. Selbst wenn sie einige gesetzliche Zugeständnisse machen – die auch erst einmal umgesetzt werden müssen –, greifen sie spätestens dann wieder hart durch, wenn Frauenrechtsgruppen größere politische Forderungen stellen.“ Exemplarisch dafür ist Saudi-Arabien, wo viele Aktivistinnen verfolgt werden. Loujain al-Hathloul kämpfte erst für die Selbstfahrerinnen und die Befreiung von männlicher Vormundschaft, bevor sie es wagte, eine schrittweise Demokratisierung zu fordern.

Im März 2018 wurde sie deswegen verhaftet und verbrachte zwei Jahre in Untersuchungshaft, wo man sie folterte und sexuell missbrauchte. Dann verurteilte ein Antiterrorgericht Loujain al-Hathloul zu fünf Jahren und acht Monaten Gefängnis. Im Februar 2021 kam sie wieder frei, darf aber das Königreich nicht verlassen. Sie hatte den Fehler begangen, Kronprinz Mohammed bin Salman, den einzig wahren Modernisierer der saudischen Gesellschaft, zu verärgern.12

Was Ägypten betrifft, so stellt die Frauenrechtlerin Mozn Hassan, die 2016 mit ihrer NGO „Nazra for Feminist“ mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet wurde, nur resigniert fest: „In unserem Land lautet die Botschaft des Staats an uns Frauen: ‚Verhaltet euch anständig, dann werdet ihr auch geschützt.‘ Und dabei schreibt natürlich ebendieser patriarchalische Staat vor, was Anstand ist.“

Und was sagen zu alldem die Männer? Fragt man das Habiba Djahnine, muss sie erst mal laut lachen. „All diese Kampagnen haben zu einem großen Umbruch und einer gewissen Sensibilisierung geführt. Nach #MeToo ist nicht gleich vor #MeToo. Viele Männer unterstützen die Sache der Feministinnen. Doch wir sind noch meilenweit davon entfernt, auch über Themen wie die Arbeitsteilung in Ehe und Partnerschaft zu diskutieren. Aber wir kommen voran. Schritt für Schritt.“

1 Trotz des 1993 verhängten Moratoriums – nach Beginn der Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU – fällen algerische Gerichte weiterhin Todesurteile, insbesondere gegen Terroristen. Es wurde aber keines mehr vollstreckt.

2 Siehe feminicides-dz.com.

3 Siehe „Campagne des comédiennes algériennes contre les violences faites aux femmes“ (auf Arabisch mit französischen Untertiteln), Youtube, 27. November 2020, Regie: Adila Bendimerad und Ahmed Zitouni, Text: Adila Bendimerad und Leïla Touchi.

4 Siehe Wendy Kristianasen, „Die Emanzen von Algier“, LMd, April 2006.

5 „Ceci est ma vie privée“ (auf Arabisch), Youtube.com, 1. Dezember 2012.

6 Justine Clément, „Les femmes du Koweït impulsent leur #Metoo“, Orient XXI, 24. Juni 2021.

7 Khitam al-Amir, „Kuwait: Man sentenced to death by hanging for killing Farah Akbar, Gulf News, Dubai, 6. Juli 2021.

8 „ ‚Ce qui s’est passé à Bordj Badji Mokhtar n’est pas un cas isolé‘ “, Liberté, Algier, 19. Mai 2021.

9 Samar Samir, „Egyptians re-voice rejection to ‚marital rape’“, Egypt Today, Kairo, 20. Juni 2021.

10 „Study on Ways and Methods to Eliminate Sexual Harassment in Egypt“, UN-Bericht vom 23. Mai 2013.

11 „Mufti describes harassment as ‚major sin‘ “, State Information Service, 12. Dezember 2020.

12 Siehe Florence Beaugé, „Selbst lenken. Frau sein in Riad“, LMd, Juni 2018.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Akram Belkaïd