12.08.2021

Klasse und Pigment

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Klasse und Pigment

von Ezequiel Adamovsky

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In Lateinamerika, wie anderswo auch, hat der Kapitalismus seine Klassenhierarchien auf bereits bestehenden ethnischen Unterschieden errichtet. Die nach der Eroberung des Kontinents im 16. Jahrhundert entstandenen Kategorien waren anfangs klar: die spanischen (oder portugiesischen) Eroberer und die besiegten Indigenen, die den Siegern Tribut und Arbeit schuldeten. Mit dem Import von Sklaven kam eine dritte Kategorie dazu, mit rechtlich, ethnisch und sozial eigenem Status.

Die von den Eroberern gewollte starre Unterteilung in diese drei Kategorien wurde jedoch durch einen unaufhaltsamen Prozess der Vermischung aufgeweicht. So entstand im 17. Jahrhundert eine Art Kastensystem, das alle, die nicht als weiß galten, je nach Art und Anteil der ethnischen Zugehörigkeit ihrer Vorfahren unterschiedlichen Gruppen zuordnete. Entsprechend wurden Arbeitsmöglichkeiten und Rechte definiert: Die mit dem geringsten ethnischen Prestige waren auch ökonomisch am stärksten benachteiligt.

Mit der Unabhängigkeit Lateinamerikas, deren Ideen ja aus der Aufklärung stammten, bekamen dann alle (männlichen) Bürger auf dem Papier die gleichen Rechte – mit Ausnahme der Sklaven, die unfrei blieben. Obgleich es formal keine Segregation gab, etablierte sich eine „Pigmentokratie“, in der Hautfarbe, Haarstruktur und andere, subtilere Merkmale die Stellung in der Gesellschaftsordnung markierten.

Diese Hierarchie der Klasse/Ethnie orientierte sich an diffusen Kategorien – beziehungsweise Farbtönen, wobei das Weißsein keine Frage der „Reinblütigkeit“, sondern ein Ergebnis der Umstände war. Ob jemand als weiß galt, hing von Ort und Umfeld ab und konnte alle möglichen Abstammungen, auch eine „zweifelhafte“ Hautfarbe einschließen, sofern die Person eine entsprechende Bildung und ausreichend Kapital erworben hatte.

Für all diejenigen, die irgendwo zwischen unverkennbar Weißen und denen, die es eindeutig nicht waren, standen, gab es eine ganze Reihe mehrdeutiger, sich teilweise überschneidender Bezeichnungen: Indio, Pardo, Moreno, Morocho, Café con leche (Milchkaffee), Chino (Chinese), Criollo (Kreole). Hinzu kommen Bezeichnungen wie mestizo, mulato, negro, ­negro mota, preto und ein paar mehr, die Einstufungen situativ herstellten. Diese flexible Logik diente dazu, eine sich verändernde, gemischte Bevölkerung hierarchisch zu organisieren. Mehrdeutigkeit und Durchlässigkeit ermöglichten den Fortbestand des Systems, das den jeweiligen Gegebenheiten angepasst wird.

In den angelsächsischen Kolonien des Nordens, wo sich die verschiedenen ethnischen Gruppen weniger vermischten und die weißen Siedler und Einwanderer eine zahlenmäßig weit größere Rolle spielten, waren die ethnischen Hierarchien eindeutiger und ausschließlicher: hier die Weißen, da die Schwarzen. Weiß ist nur, wer es ganz und gar ist: Gemäß der one-drop rule wird man mit einem einzigen Tropfen „schwarzen Blutes“ automatisch nichtweiß – also schwarz respektive „colored“.

Das angelsächsische System basiert also im Gegensatz zum lateinamerikanischen, das Mischung und Veränderung impliziert, auf Abgrenzung und „Reinheit“. Alabama war der letzte US-Staat, der das Verbot von Ehen zwischen Weißen und Schwarzen abschaffte: im Jahr 2000. In Lateinamerika waren dergleichen rassistische Gesetze im Allgemeinen schon zwei Jahrhunderte davor verschwunden, teilweise sogar noch früher.

Der Unterschied zwischen beiden Systemen spiegelt sich auch in unterschiedlichen nationalen Narrativen: In den USA – wie auch in manchen Ländern Europas – herrschte die Vorstellung, die Nation sei von einer bestimmten ethnischen Gruppe begründet worden: den Pilgrim Fathers, angelsächsischen Weißen. Ethnizität geht hier der Nationgründung voraus. Existiert die Nation, kann sie andere Ethnien als „Minderheiten“ aufnehmen und sich zu einer multiethnischen Gesellschaft entwickeln. Nach diesem Konzept des Multikulturalismus integrieren sich diese Minderheiten zwar, gelten aber immer noch als „anders“, mit ihrer jeweiligen Hautfarbe und ihren eigenen Traditionen. Die Rolle der Weißen als Gründer und Norm wird dadurch nicht berührt. Man bleibt unter sich und mischt sich nicht.

In Lateinamerika wurde die ethnische Zugehörigkeit der „Gründerväter“ der Nation – die eben nicht die Konquistadoren waren – niemals definiert. Sobald der spanischen oder portugiesischen Krone die Herrschaft entrissen war, nahm man an, dass die Souveränität in den Händen des Volkes lag. Was das bunt gemischte Volk dieser fragmentierten Gebiete aber ausmachte, wusste niemand, und auch nicht, wer da herrschen sollte.

Der Prozess der Nationenbildung ging nicht von einem „Gründervolk“ aus, sondern war ein Prozess der Ethnogenese. Der Begriff „Kreole“ spiegelt diese Unbestimmtheit wider: Ursprünglich bezeichnete er in Amerika geborene Schwarze, wurde dann auf eine gemischte Bevölkerung oder auf alle auf dem Kontinent Geborenen angewandt, unabhängig von ihrer Abstammung. Dementsprechend fördern die herrschenden Eliten der meisten lateinamerikanischen Länder nationale Narrative der Völkermischung – in Mexiko ist es das der „gemischten Nation“ (mestiza), in Brasilien der „Demokratie der Rassen“ (democracia racial), in Venezuela des „Milchkaffee-Lands“ (café con leche). Andere Länder, wie etwa Argentinien, verstehen sich historisch als weiß und europäisch, doch auch hier können kulturell Angepasste, egal welcher Abstammung, als weiß gelten – ausgenommen solche mit sehr dunkler Hautfarbe.

Lateinamerikas soziale ­Hierarchien

Diese Narrative beschreiben nicht die Realität, sie sind Mythen einer Einheit, die die ethnischen Hierarchien – zumal wenn sie als Klassengegensätze auftreten – verschleiern. Ebenso ist der nordamerikanische Multikulturalismus ein Mythos, und es ist kein Zufall, dass die starken Bürgerrechtsbewegungen dort sich um ethnische Identitäten organisierten.

In Lateinamerika waren die großen Volksbewegungen des 20. Jahrhunderts – vereinfacht ausgedrückt – multiethnisch und eher klassenzugehörigkeitsbezogen. Das gilt für die mexikanische Revolution und die Arbeiterbewegungen in Brasilien und in Peru. In der peronistischen Bewegung Argentiniens wurden Arbeiter als cabecita negra (Schwarzköpfchen) bezeichnet: Sie waren dunkelhäutig, wurden aber über ihre Klasse definiert.

Diese Ausgangslage auf dem Südkontinent ändert sich nun durch drei Faktoren: Da sind zum einen die indigenen und afrikanischstämmigen Gruppen, die gegen den Rassismus ankämpfen. Zweitens schwindet mit der Ausbreitung des Neoliberalismus die Fähigkeit der Staaten, die Gesellschaft durch die Garantie der Bürgerrechte zusammenzuhalten. Drittens hält der Multikulturalismus des Nordens mit seinen identitätspolitischen Diskursen Einzug, der von unzähligen NGOs, Akademikern und Aktivistinnen vermittelt wird.

Die Verteidigung von Identitäten floss in die Politik der Linken ein, die gegen die Demütigungen von als zweitklassig geltenden Menschen anzugehen versuchte. In Bolivien und in Ecuador entstanden mit der Präsidentschaft von Evo Morales (2006–2019) und Ra­fael Correa (2007–2017) neue Verfassungen und „plurinationale“ Staaten. In Brasilien führte die Arbeiterpartei 2008 ein System der positiven Diskriminierung ein, mit Quoten für Schwarze und Indigene an den Universitäten – ein Novum in der Region.

Die Betonung des Rechts auf Verschiedenheit zusammen mit einer an den Bedürfnissen der Bedürftigsten – also oft der am wenigsten Weißen – ausgerichteten Sozialpolitik erzeugt dabei einen Rassismus, der umso gewalttätiger ist, wenn er mit dem Verlust von weißen Privilegien einhergeht. Beim Staatsstreich 2019 in Bolivien ließ die Rechte ihrer Abscheu gegenüber den „Indios“ und ihrer Kultur freien Lauf: Sie verbrannte ihre Fahne und trampelte auf ihren kulturellen Symbolen herum. Auch Hugo Chávez war als Präsident Venezuelas rassistischem Spott ausgesetzt, und Pedro Castillo, Perus neugewählter Präsident, ist es wieder.

In Brasilien löste die erwähnte positive Diskriminierung intensive Diskussionen aus. Aus dem linken Lager wurde Besorgnis laut über das, was als ethnische Klassifizierung nach angelsächsischem Muster wahrgenommen wurde, die mit den lokalen Realitäten nichts zu tun habe. Diese Kontroverse ist keineswegs nur theoretisch: Es wurde schon über Expertenkommissionen nachgedacht, die Betrügereien bei den Quoten an den Universitäten untersuchen und objektiv feststellen sollten, wer tatsächlich schwarz ist und wer nicht.

In Lateinamerika gibt es hunderte indigene Völker – von den Tzotzil in Mexiko bis zu den Mapuche in Chile und Argentinien –, die als Minderheiten in vielerlei Hinsicht klassistisch wie rassistisch ausgegrenzt und diskriminiert werden. Dasselbe gilt für Gemeinschaften afrikanischer Herkunft – wie die Raizales in Kolumbien und die Quilombolas in Brasilien. Wenn sie ihr Recht auf Land, Anerkennung und Gleichberechtigung einfordern, ist damit unweigerlich eine Stärkung der Identität und des Zusammenhalts einer Gemeinschaft verbunden – und die Grenze zwischen „uns“ und den „anderen“ wird schärfer gezogen.

Es gibt aber sehr viele von Rassismus Betroffene, die nicht in Gemeinschaften leben und sich auch nicht unbedingt mit einer bestimmten ethnischen Gruppe identifizieren: Millio­nen Menschen mit mehr oder weniger dunkler Haut, die den Großteil der unteren Klassen in Lateinamerika ausmachen. Sie sind keineswegs eine Minderheit, sondern die größte demografische Gruppe. Diese Menschen können jedoch aus unterschiedlichen Gründen ihr Gefühl ethnischer Zugehörigkeit wieder aufleben lassen. In Bolivien sank der Anteil der Bevölkerung, der sich selbst als „weiß“ bezeichnet, zwischen 2000 und 2006 drastisch von 26 auf 11 Prozent, während der Anteil derer, die sich als „indigen“ bezeichnen, von 10 auf 19 Prozent stieg.1

Meistens ist sich die Mehrheit aber nur vage ihrer Abstammung von einem afrikanischen und/oder indigenen Volk bewusst. Sie sind einfach die Armen. Und sie wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrer Hautfarbe und ihrem Schicksal gibt. Für diese vielen wäre eine antirassistische Politik, die sie zu einer besonderen Gruppe innerhalb der Gesellschaft erklärt, kaum sinnvoll, denn sie sind ja selbst die Gesellschaft, sind deren Mehrheit.

In Brasilien wollen afrobrasilianische Aktivisten erreichen, dass diejenigen, in deren Namen sie sprechen, sich als Minderheit identifizieren. Der hohe Grad ethnischer Mischung jedoch hat bewirkt, dass kaum noch eine bestimmte ethnische Kategorie in Anspruch genommen werden kann – auch wenn der Rassismus damit keineswegs verschwunden ist. Für eine Person mit nichtweißer Hautfarbe ist oft die einzige Gemeinschaft, der sie sich zuordnet, die Favela, in der sie lebt.

1 Hervé do Alto und Pablo Stefanoni, „La revolución de Evo Morales. De la coca al Palacio“, Buenos Aires (Capital Intelectual) 2006.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Ezequiel Adamovsky ist Historiker und Autor unter anderem von: „Historia de la Argentina. Biografía de un país desde la conquista española hasta nuestros días“, Barcelona (Crítica) 2020.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Ezequiel Adamovsky