08.07.2021

Verkabelter Ozean

zurück

Verkabelter Ozean

Die Geopolitik der Datenströme

von Charles Perragin und Guillaume Renouard

Audio: Artikel vorlesen lassen

Im Jargon der deutschen Wehrmacht hieß der riesige Betonklotz „Martha“. Heute verbirgt sich der von den Nazis nie vollendete U-Boot-­Bunker unter einer rostroten Verkleidung. Jahrzehntelang war der Koloss am Rande des Hafens von Marseille verwaist. Nach der Landung der Alliierten in der Provence im August 1944 diente er kurzzeitig als Militärgefängnis. Danach war Schluss.

Bis vor Kurzem interessierten sich noch ein paar Einheimische für den Bau und speziell für die von deutschen Kriegsgefangenen hinterlassenen Wandzeichnungen. Doch heute ist der alte Bunker nicht mehr zugänglich. Seit dem 11. Juli 2020 betreibt hier das Unternehmen Interxion unter dem Namen „MRS 3“ eines ihrer riesigen Rechenzentren.

„Da können Sie leider nicht rein. Hier ist die Hardware für extrem sensible Cloud-Plattformen untergebracht, für die wir seitenlange Geheimhaltungsvereinbarungen abgeschlossen haben“, erklärt uns Unternehmenschef Fabrice Coquio vorweg. Der alte Bunker wird zwar zivil genutzt, aber abgesichert und überwacht wie ein militärischer Sperrbezirk. Das Ungetüm von Marseille ist die Endstation für 14 Glasfaser-Seekabel, über die riesige Datenmengen aus der ganzen Welt übermittelt werden.

Die Kunden von Interxion sind IT-Giganten wie Google, Amazon und Face­book, aber auch Anwaltskanzleien, der lokale Wasserversorger und diverse Telekommunikationsanbieter. Und der französische Staat, erzählt Coquio: „Dass sich die europäischen Staaten offen für die privaten Betreiber von Netzinfrastruktureinrichtungen interessieren, ist relativ neu.“ Die Betonung liegt auf „offen“, denn die staatlichen Geheimdienste interessieren sich schon seit den 2000er Jahren für das Netz der Seekabel, über das praktisch die gesamte interkontinentale elektronische Kommunikation läuft.

Beim Anblick der am Kreuzfahrt-Terminal vertäuten Riesenschiffe kann man sich kaum vorstellen, dass der Marseiller Hafen ein Spionagenest ist. Doch genau dies belegen die Dokumente, die der Whistleblower Edward Snowden dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel zugespielt hat. Demnach hat der US-Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) im Februar 2013 einen Computervirus in die Administrations- und Verwaltungszentrale des Seekabels SEA-ME-WE 4 geschleust. Über dieses Kabel verläuft die Telefon- und Internetkommunikation zwischen dem Knotenpunkt Marseille und Nordafrika, der Golfregion sowie Südost­asien, weshalb Marseille für die NSA einen der wichtigsten Abfangpunkte der Welt darstellt.1

„Anfangs wurde das Abfangen von Daten, die über Seekabel übermittelt werden, mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet“, erläutert Dominique Boullier vom Pariser Institut d’études politiques. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ging es darum, „an neuralgischen Punkten massenhaft Daten abzuzapfen, um bei

einem entsprechenden Vorfall die Spur gegebenenfalls bis zu den Schuldigen zurückverfolgen zu können.“

In den letzten zwanzig Jahren hat sich dann unter Führung Washington das Ensemble der „Five Eyes“ entwickelt. Seitdem fangen die Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Aus­traliens und Neuseelands mittels Sonden, die weltweit an den großen Seekabel-Anlandestellen positioniert sind, die durch die Kabel übermittelte Kommunikation ab, und zwar mit Hilfe der Betreiberunternehmen.

„Die Amerikaner zapfen heute alle Kabel an“, sagt ein hochrangiger Vertreter eines französischen Telekommunikationsanbieters, der anonym bleiben will. „In Frankreich haben wir ihr Routersystem Cisco getestet. Wie sich dann zeigte, gelangte ein Teil der abgehenden Daten mysteriöserweise in die USA.“ Die US-Geheimdienste schöpfen nicht nur massenhaft Daten ab, sie unternehmen auch nachrichtendienstliche Operationen, die sowohl auf staatliche Stellen als auch private Unternehmen zielen.2

Ähnlich emsig sind die britischen Geheimdienste. Der für die Telekommunikationsüberwachung zuständige Nachrichtendienst Government Communications Headquarters (GCHQ) hat 2012 Kabel angezapft, um Cookies von Mitarbeitenden des belgischen Telekommunikationsbetreibers Belgacom abzugreifen, das unter anderem die EU-Behörden zu seinen Kunden zählt.3

Seit 2011 spähen die Briten auch die Kunden von Orange aus, wie 2014 in Frankreich publik wurde. „Damals hatten die britischen Nachrichtendienste das französische Telekommunikationsunternehmen Iliad im Verdacht, mit dem israelischen Mossad zu kooperieren“, berichtet ein Insider, der anonym bleiben möchte: „Der GCHQ konnte über Orange die Schwankungen der Datenströme in den Kabeln messen und so ermitteln, ob zwischen Frankreich und Israel Verhandlungen im Gange waren, etwa über ein Handelsabkommen, eine Kooperationsvereinbarung oder eine gemeinsame Operation.“ Ein solches Vorgehen sei mittlerweile für viele Staaten üblich.

Nach den Enthüllungen von Edward Snowden reagierten die euro­päi­schen Länder empört – allen voran Frankreich. Dabei betreibt die mit der NSA kooperierende französische Regierung seit 2008 ein eigenes Programm zur Überwachung der über Seekabel laufenden internationalen Kommunikation.4 Laut Snowden hat der französische Auslandsgeheimdienst DGSE seine Zusammenarbeit mit dem GCHQ seit 2009 verstärkt, um „das massive Abhören fortzusetzen, wobei die Verschlüsselungssysteme privater Anbieter geknackt wurden“.

Zwischen 2008 und 2013 wurden mit tätiger Mithilfe von Orange fünf Kabel abgehört. Und das war nur der Anfang. „Welcher Staat mischt heute nicht direkt bei seinen Telekommunikationsunternehmen mit?“, fragt Sébastien Crozier, Vorsitzender der Gewerkschaft CFE-CGC bei Orange. „Als Netzbetreiber hat man künftig zu akzeptieren, dass man eine Funktion im Rahmen der nationalen Souveränität ausübt.“

Und das ohne klaren rechtlichen Rahmen und ohne jede Kontrolle, wie Jean-Marie Delarue erläutert, der früher der Commission nationale de contrôle des interceptions de sécurité (Nationaler Ausschuss zur Kontrolle von Sicherheitsüberwachungen) vorsaß: „Die Seekabel dienen der internationalen Kommunikation und fallen somit unter den hoheitlichen Bereich. In Frankreich hatten wir noch nie die Möglichkeit, das Vorgehen der DGSE in Bezug auf die Kabel zu kontrollieren. Das Nachrichtendienstgesetz von 2015 hat daran nichts geändert.“

Das sei nicht nur in Frankreich so: „Die nach der Snowden-Affäre in den OECD-Staaten erlassenen Geheimdienstgesetze machen das Abfangen von Daten leichter“, erklärt Sébas­tien ­Crozier. „Also nehmen diese Praktiken zu.“

Nicht nur die digitale Kommunikation, auch die Finanzströme und der Zugriff auf Daten in der Cloud sind auf die Seekabel angewiesen. Wenn ein Staat die globalen Informationsflüsse kontrolliert, gewinnt er damit immensen geowirtschaftlichen Einfluss. Besonders gut haben das die Chinesen verstanden.

Einem Bericht des US-Kongresses zufolge ist es ihnen am 8. April 2010 gelungen, 18 Minuten lang E-Mails von oder an Adressen des US-Senats, des Verteidigungs- und des Handelsministeriums sowie der Weltraumbehörde Nasa auf chinesische Server umzulenken. Und im Juni 2019 kam heraus, dass ein erheblicher Teil des europäischen Datenverkehrs der französischen Telekommunikationsanbieter Bouygues Telecom und SFR zwei Stunden lang nach China umgeleitet worden war.

Die Volksrepublik drängt ihre Staatsunternehmen sogar direkt dazu, die Kontrolle über strategische Netz­infra­struktur zu übernehmen. „Dank China Mobile, China Telecom und China Unicom hat der chinesische Staat in den asiatischen Konsortien eine starke Stellung“, erläutert der Politikwissenschaftler Félix Blanc, der zur Verwaltung und Kontrolle von Seekabeln forscht. Der allgemeine Trend zur Verlagerung des Internetdatenverkehrs nach Asien habe Staaten wie China, Thailand und Singapur veranlasst, noch stärker auf die Kabelnetze zu setzen: „Seit 2010 gehen pro Jahr durchschnittlich 9 Prozent der Investitionen in diesen Bereich, zwischen 1987 und 2010 war es lediglich 1 Prozent.“

Auch jenseits von Asien interessiert sich China für Projekte von geostrategischer Bedeutung. So bezieht sich die Konzession für das pharaonische Projekt des Nicaraguakanal, das der chinesische Unternehmer Wang Jing plant, auch auf die Verlegung von Internetkabeln.5 Ein weiteres Beispiel ist die erste chinesische Glasfaserkabelverbindung zwischen Frankreich und Asien namens Pakistan and East Africa Connecting Europe (Peace), die Europa über Marseille mit Ostafrika und Südasien verbindet. Zwischen 2016 und 2019 waren chinesische Unternehmen an einem Fünftel aller Kabelprojekte beteiligt. Mehr als 50 Prozent davon waren Projekte jenseits des Südchinesischen Meers, die meisten davon in Schwellenländern.

Washington sieht dies mit Argwohn, erklärt Félix Blanc: „2013 hatten die Vereinigten Staaten bereits die Verlegung eines transatlantischen Kabels zwischen New York und London verhindert, an der sich das chinesische Unternehmen Huawei Marine beteiligen wollte.“

Und 2020 verhinderte die Federal Communications Commission (FCC) den Plan von Google und Facebook, Los Angeles über ein Seekabel mit Hongkong zu verbinden. Die Internetgiganten mussten nachgeben. Offiziell beschuldigte die US-Regierung das dritte Mitglied des Konsortiums, das Hongkonger Unternehmen Pacific Light Data Communication, mit dem chinesischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Doch Sébastian Crozier vermutet, dass damit vor allem der Finanzplatz Hongkong geschwächt werden sollte, dessen Verflechtungen mit der Börse von Schanghai immer enger werden.

Beim Kabelprojekt Peace hat die US-Administration direkten Druck auf Paris ausgeübt. Im Oktober 2020 traf Peter Berkowitz, Leiter des politischen Planungsstabs im US-Außenministerium, mit Beratern von Staatspräsident Macron und Experten des französischen Außen- und Verteidigungsministeriums zusammen. Berkowitz brachte einen Report mit, der vor Chinas weltpolitischen Ambitionen warnte und die Bedeutung von Seekabeln sowie die damit verbundenen Spionagerisiken betonte – über die man in Washington ja bestens Bescheid weiß.

Über die eigentlichen Interessen der USA sagt Paul Triolo vom Beratungsunternehmen Eurasia Group deshalb: „Die Cloud ist amerikanisch. Microsoft oder Amazon brauchen nichts zu fürchten, solange ihre Konkurrenten in Europa Outscale oder OVH heißen. Alibaba und Tencent sind da schon eine andere Nummer.“

Dieses Motiv mag auch erklären, warum die US-Regierung schon 2018 Australien dazu gedrängt hat, dem chinesischen ICT-Giganten6 Huawei die Finanzierung der Verlegung eines Kabels zwischen Sydney und den Salomonen zu untersagen. Solche Einmischungen entsprechen dem Programm, das Trumps Außenminister Mike Pompeo „The Clean Network“ (Sauberes Netz) getauft hatte. Zu den Instrumenten der „Säuberung“ gehören: Verbote von chinesischen Betreibern wie China Telekom oder bestimmten Apps innerhalb der USA, Reduzierung der in chinesischen Clouds gespeicherten Daten, und eben die „Reinhaltung“ des Kabelnetzes durch Ausschluss chinesischer Akteure.

Um Pekings Einfluss einzudämmen, setzt Washington selbst auf Mittel der Spionage. So hat der neuseeländische Geheimdienst 2015 im Auftrag der NSA ein durch das chinesische Konsulat in Auckland verlaufendes Telekommunikationskabel angezapft.7

Für China ist die Netzinfrastruktur ein Mittel zur Durchsetzung lebenswichtiger Interessen. Das Riesenland hat 20 Prozent der Weltbevölkerung zu ernähren, verfügt aber nur über 10 Prozent der globalen Ackerflächen. Deshalb finanziert Peking „technologische Infrastruktureinrichtungen außerhalb seines Staatsgebiets, um Zugang zu Rohstoffen und insbesondere zu Lebensmitteln zu gewinnen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Stacia Lee von der Universität Washington. Sie verweist auf die Investition von China Unicom in ein Telekommunikationskabel zwischen Kamerun und Brasilien, die China als Gegenleistung Fischereirechte verschafft hat.

Diese Kabelstrategie fördert aber auch die Exporte chinesischer Digitaltechnologie ins Ausland. Auf diese „digitale Seidenstraße“ verweist Jean-Luc Vuillemin, der im Vorstand von ­Orange für die internationalen Kommunika­tions­netze des Konzerns verantwortlich ist. Wie Vuillemin berichtet, hat Peking jüngst die Verlegung von drei teilweise durch Google finanzierten Kabeln verhindert, die Hongkong mit Japan, Singapur und den Philippinen verbinden sollten.

Die Infrastruktur der Glasfaser-Telekommunikation taugt nicht nur als Überwachungs- und Unterdrückungsinstrument – wie etwa während des Arabischen Frühlings 2011, als die Regime in Syrien und Ägypten Kabel kappten. Sie dient auch als Instrument wirtschaftlicher Einflussnahme. Aufgrund dieser Doppelfunktion ist das Glasfasernetz zu einem zentralen geopolitischen Faktor geworden – vergleichbar mit den Telegrafenleitungen im 19. Jahrhundert, deren Prototypen seit 1852 die Börsen von Paris, London und New York verbanden.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts errichtete die Eastern Telegraph Company unzählige Verbindungen, zunächst zwischen Großbritannien und seinen afrikanischen und asiatischen Kolo­nien, dann auch nach Südamerika, Australien und zur nordamerikanischen Westküste. 1892 gehörten dem Unternehmen zwei Drittel der weltweiten Telegrafenkabel.

Der Verlauf der modernen Internet-Seekabel orientiert sich immer noch an den Telegrafentrassen des britischen Empires. Schon damals ermunterte die britische Regierung ausländische Kabelverlegungsunternehmen dazu, ihre Leitungen an den Küsten des Empires anzulanden, um sie überwachen zu können.

Der Historiker Daniel Headrick befindet: „Im Krieg kontrollierte die Nation mit den meisten Kabelverlegungsschiffen und der mächtigsten Marine – also Großbritannien – auch die Kommunikation der anderen Länder. Das internationale Recht, die Achtung der Rechte und des Eigentums neutraler Staaten, die Versprechen von Frieden und ewiger Freundschaft zwischen den Nationen galten nicht mehr. Das 20. Jahrhundert hatte begonnen.“

Zum militärischen Ziel wurden Telekommunikationskabel erstmals 1898 im Spanisch-Amerikanischen Krieg um Kuba. Später – zu Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs – kappte das Vereinigte Königreich dann jeweils die deutschen Seekabel.

Die politische Besorgnis galt damals wie heute den Riesenmengen an sensiblen Daten, die durch diese Leitungen fließen. Nachdem im Sommer 2015 das russische Aufklärungsschiff „Jantar“ vor der US-Küste Seekabel geortet hatte, erschien 2017 ein Report des britischen Thinktanks Policy Exchange mit dem vielsagenden Titel „Seekabel – unverzichtbar und gefährdet“. In dem Bericht, an dem ein Ex-Admiral der U.S. Navy mitgewirkt hat, wird erläutert, weshalb sich Russland im Konfliktfall entschließen könnte, Seekabeln zu durchtrennen. Ende 2020 forderte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erstmals, Einsätze zum Schutz der Seekabel vorzubereiten.

Mittlerweile ist ein regelrechtes Wettrüsten ausgebrochen: Mit Überwachungsschiffen, Unterwasserdrohnen und in großen Tiefen installierten Sonarsystemen bereiten sich die Verteidigungsministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas für den „Seabed Warfare“ vor, also für einen Krieg auf dem Meeresboden.

Aber was war eigentlich die Mis­sion der russischen „Jantar“? Und wozu dienen die Unterwasserdrohnen Chinas und der USA? „Wir wissen es nicht“, antwortet die Politologin Camille Morel von der Universität Lyon. „Aber von den jährlich rund 100 registrierten Kabelrissen gehen die allermeisten auf das Konto der Küstenfischerei.“ Für Morel macht die Nervosität wegen der Kabel zwar die diplomatischen Spannungen sichtbar, aber: „Von Militärak­tio­nen sind wir weit entfernt; die Folgen wären zu schwerwiegend, denn ein Sabotageakt käme einer Kriegserklärung gleich.“

Um die wachsende Bedeutung der Telekommunikationskabel zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Ab den 1930er Jahren verloren Kabelverbindungen infolge der Entwicklung der Funktechnik an Bedeutung, verschwanden aber nicht völlig, weil sie nicht so leicht abzuhören waren wie Funkwellen. Selbst als im Kalten Krieg bereits die ersten Satelliten die Erde umkreisten, dienten Kabel noch zu Spionagezwecken.8

Ende der 1980er Jahre läutete das Aufkommen der viel leistungsfähigeren Glasfaserkabel das Breitband- und Internetzeitalter ein – und damit auch die Ära der großen kommerziellen Telekommunikationsanbieter. „In den ersten zehn Jahren der Glasfaserentwicklung stützte sich die Kabelindustrie auf Konsortien aus nationalen Betreibern, von denen viele Staatsmonopole waren“, schreibt die Medienforscherin Nicole Starosielski von der New York University in ihrem Buch „The Undersea Network“ (Duke University Press, 2015). Erst im Gefolge des US-Telekommunikationsgesetzes von 1996 setzten sich in vielen Ländern Wett­be­werbs­prin­zipien durch und mit ihnen die privaten Unternehmen. Binnen zehn Jahren sank der Anteil staatlicher Betreiber bei den Investitionen auf unter 1 Prozent.

Im letzten Jahrzehnt haben mächtige Einzelinvestoren wie Google, Facebook, Amazon und Microsoft die früheren, aus Dutzenden von Akteuren bestehenden Konsortien verdrängt. Während China auf dem asiatischen Markt vordringt, könnten diese Mega­konzerne schon in drei Jahren einen Großteil der Seekabel der westlichen Welt kontrollieren. Google werden in Kürze fünf dieser Kabel gehören. Das letzte in Betrieb genommene interkontinentale Seekabel namens Dunant ist fast 200-mal so leistungsfähig wie die vor zwanzig Jahren verlegten Glasfaserkabel und verbindet Virginia Beach mit Saint-Hilaire-de-Riez im westfranzösischen Département Vendée.

Als der Datenverkehr explosionsartig anstieg, begannen Unternehmen wie Google in eigene Kabel zu investieren. Ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen. Durch Videoportale wie YouTube, Netflix, Twitch und das Cloud Computing hat der Datenverbrauch nochmals rasant zugenommen. 2021 dürfte er bereits 130-mal so hoch liegen wie 2005.9

Schon heute nehmen die GAFAM-Konzerne (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) die Hälfte der weltweit verfügbaren Internetbandbreite in Anspruch. Und dieser Anteil könnte bis 2027 auf 80 Prozent steigen. „Für diese Akteure ist es mittlerweile selbstverständlich, diese Datenströme allein zu kontrollieren“, meint Lucie Greene, die ein Buch über die „Silicon States“ (Counterpoint Press, 2018) geschrieben hat.

Glasfaserkabel auf ­alten Telegrafen­trassen

Die Telekommunikationsunternehmen sehen derweil rot. Warum, erklärt der Journalist und Autor Andrew Blum: „Vor ein paar Jahren waren Google und Microsoft ihre Kunden. Jetzt ist ihre Rolle darauf reduziert, die Anlandung der Kabel an den Küsten ihrer Länder zu organisieren, den ganzen Papierkram zu erledigen und die Verbindung zu den Endnutzern herzustellen. So werden sie zu Subunternehmern. Und ihr Geschäftsmodell hängt zunehmend von Infrastruktureinrichtungen ab, die ihnen nicht gehören.“

Hinzu kommt, dass Daten zunehmend in Clouds gespeichert werden. Damit nimmt die Abhängigkeit der Unternehmen vom Kabel weiter zu. Das gilt auch für Europa, erklärt Dominique Boullier: „Aus Kosten- und Effizienzgründen vertrauen europäische Großunternehmen ihre Daten Firmen wie Amazon Web Services an.“

Damit ketten sie sich an Cloud-Giganten wie Amazon (Marktanteil 31 Prozent), Microsoft (20 Prozent) oder Google (7 Prozent). Das bedeutet, dass die europäischen Daten seit der Verabschiedung des im Mai 2018 von der Regierung Trump initiierten Cloud Act der Willkür der US-Nachrichtendienste ausgeliefert sind. Denn egal ob diese Daten auf Servern in den USA oder im Ausland gespeichert sind, ein einfaches Ersuchen eines US-Richters reicht aus, um an die Informationen zu gelangen.

Bei den GAFAM, die eine starke Lobby in Brüssel betreiben,10 stapeln sich die Genehmigungen zur Verwaltung sensibler Daten, sprich: Europäische Unternehmen und Behörden schließen sich an amerikanische Telekommunikationskabel an, ohne die Folgen zu reflektieren. Und manchmal sogar, ohne sich der Konkurrenz zu stellen, meint Ophélie Coelho von der französischen Direction interministérielle du numérique, die für die Koordination der amtlichen Datenpolitik zuständig ist.

Als Beispiel nennt sie den Health Data Hub, eine von Microsoft Azure verwaltete Plattform, die seit 2019 die medizinischen Daten französischer Krankenhäuser zu Forschungszwecken sammelt und verarbeitet. Damit sei man in Sachen Datenspeicherung und -kontrolle von Microsoft und den für sie geltenden Gesetzen abhängig. Mit fatalen Folgen, meint Dominique Boullier: „Nur die Europäer respektieren die Spielregeln des freien, unverzerrten Wettbewerbs. Deswegen werden sie immer gegen Amazon oder Google verlieren, die auf allen Feldern – von der Datennutzung bis hin zur Datenübertragung – überlegen sind.“

Innerhalb der EU ist der freie Markt theoretisch durch das Prinzip der Netzneutralität garantiert. Demnach müssen die europäischen Netzbetreiber dafür sorgen, dass alle in ihre Netze eingespeisten Inhalte ohne Qualitätsminderung bei den Kunden ankommen. Die GAFAM brauchen also lediglich die Kapazität der Kabel erhöhen und Inhalte, die stark nachgefragt werden, lokal replizieren. „Es besteht für sie überhaupt keine Notwendigkeit, einen Unternehmenssitz in Europa zu unterhalten, um ihre Dienstleistungen zu erbringen“, erklärt Sébastien Crozier von Orange: „Dadurch entgehen sie größtenteils den Kontrollen und der lokalen Besteuerung.“

Die EU-Länder sind aufgrund ihrer technischen, ökonomischen und rechtlichen Abhängigkeit nicht in der Lage, mit Google oder Amazon zu konkurrieren. Daher verlegen sie sich darauf, mit mehreren Kabelbetreibern und Netzanbietern zu kooperieren, um bei etwaigen Leitungsausfällen genügend digitale Reservekapazitäten zu haben.

Einen solchen Luxus können sich arme und schlechter vernetzte Regio­nen nicht leisten. Zum Beispiel hat Google entlang der Küste Westafrikas ein 6600 Kilometer langes Seekabel namens „Equiano“ verlegt. Und Facebook betreibt ein kleines Konsortium namens „2Africa“, das bis 2023 ein 37 000 Kilometer langes Kabel – das längste weltweit – rund um den afrikanischen Kontinent installieren will. Damit wird eine kolossale Abhängigkeit begründet, denn in beiden Fällen gewinnen die Unternehmen – als Gegenleistung für das Gratisinternet – exklusiven Zugang zu abgeschotteten Märkten.

Besonders lukrativ ist dabei der Smartphonemarkt, den Google und sein Partner Orange mit einem selbst entwickelten Billiggerät anvisieren. Künftig wird also das afrikanische Publikum mit Google-Smartphones telefonieren, die nur dank der Google-Kabel laufen und mit Android-Apps voll geschickt platzierter personalisierter Werbung bestückt sind.

Wie weit diese digitale Bevormundung gehen wird, schildert Félix Blanc: „Facebook wird sein Kabel in der DR Kongo anlanden und womöglich den Krankenhäusern des Landes begrenzten Zugang zu sozialen Netzwerken, zu Wikipedia und einigen lokalen Diensten einräumen. Diese müssen dann vielleicht Medizintechnik mit künstlicher Intelligenz einsetzen, die von Face­book entwickelt wurde. Ähnliches ist für den Bereich des Bildungswesens zu erwarten.“

Die EU bekennt sich zwar ständig zum „freien Markt“, doch es sind gerade die Marktmechanismen, die Europa hindern, den Einfluss der USA und Chinas zurückzudrängen. So wurde Interxion, der weltweit zweitgrößte Betreiber von Rechenzentren, 2020 vom US-Player Digital Realty aufgekauft. Und der chinesische Konzern Huawei Marine, einer der größten Kabelverleger der Welt, geht auf ein Joint Venture mit Global Marine aus Großbritan­nien zurück, das vor allem für den chinesischen Partner vorteilhaft ist. „Die Chinesen haben sich im Lauf der Jahre das Know-how angeeignet und dann die Briten aus den Schlüsselpositionen verdrängt“, meint der Journalist Pierre Gastineau.11

Das französische Unternehmen Alcatel Submarine Network (ASN), das mit einem Marktanteil von 47 Prozent in der Herstellung von Seekabeln weltweit führend und regelmäßig mit GAFAM-Aufträgen ausgelastet ist, wurde 2015 an die finnische Nokia verkauft. Auf Nokia wiederum haben inzwischen US-Investoren ein Auge geworfen. Hier zeigt sich, dass Frankreich „weder den Ehrgeiz noch die Mittel hat, ein derart wichtiges französisches Industrieunternehmen zu schützen“, kommentiert ein Gewerkschafter bei ASN.

Das läuft in den USA ganz anders, wie folgendes Beispiel zeigt: 2003 interessierten sich ausländische Kapitalgeber für den US-Glasfaserkabelbetreiber Global Crossing. Die Übernahme durch ein Hongkonger Unternehmen wurde jedoch von einer Gruppe Juristen des FBI, genannt „Team Telecom“, verhindert. Am Ende wurde Global Crossing von Singapore Technologies Telemedia gekauft, das aber mehrere Verpflichtungen unterschreiben musste: Zentrale Positionen waren weiterhin mit US-Bürgern zu besetzen, die USA behielten den Zugriff auf die über das Kabelnetz laufenden Daten, und ein auf US-Territorium eingerichtetes Betriebszentrum musste für die Behörden jederzeit zugänglich sein.

Solche Vereinbarungen zur Überwachung von Infrastruktureinrichtungen sind im Bereich der Telekommunikation inzwischen die Normalität. Wobei China nach wie vor alles tut, dass die Schlüsselkonzerne in chinesischen Händen bleiben. Die 2019 verkaufte Hua­wei Marine wurde inzwischen von der staatsnahen chinesischen Hengtong-Gruppe übernommen, dem weltweit größten Hersteller von Land- und See-Glasfaserkabeln. Ziel der Transak­tion war die Rationalisierung der Politik im Kabelsektor.

Der Geograf Edward J. Malecki von der Ohio University zieht folgendes Fazit: „Auf dem Gebiet der Kabel findet ein langwieriger politischer und wirtschaftlicher Krieg statt. Die beiden maßgeblichen Kontrahenten sind dabei die USA und China.“ Und die Europäische Union? Sie hat wieder einmal den Anschluss verpasst.

1 Siehe Jacob Appelbaum und andere, „Documents reveal top NSA hacking unit“, Der Spiegel, 29. Dezember 2013.

2 Beispiele bei: Jacques Follorou und Martin Untersinger, „Révélations sur les écoutes sous-marines de la NSA“, Le Monde, 8. Mai 2014.

3 Ryan Gallagher, „The inside story of how British spies hacked Belgium largest TelCo“, The Intercept, 13. Dezember 2014.

4 Siehe das Protokoll der Anhörung der DGSE vor dem Ausschuss für nationale Verteidigung und Streitkräfte, französische Nationalversammlung, Paris, 20. Februar 2013.

5 Tatsächlich ist Wang Jing zugleich Chef der Beijing Xinwei Telecom Technology Corporation, eines der am schnellsten wachsenden Telekommunikationsunternehmen der Welt; siehe Toni Keppeler, „Hundert Jahre Panama-Kanal“, LMd, August 2014.

6 ICT = Information and Communications Technology.

7 Ryan Gallagher und Nicky Hager, „New Zealand plotted hack on China with NSA“, The Intercept, 18. April 2015.

8 Siehe Matt Blitz, „How secret underwater wiretapping helped end the Cold War“, Popular Mechanics, 30. März 2017.

9 Félix Blanc, „Géopolitique des câbles: une vision sous-marine de l’Internet“, Les Carnets du CAPS, Nr. 26, Paris 2018.

10 Adam Satariano und Matina Stevis-Gridneff, „Big Tech turns its lobbyists loose on Europe, alarming regulators“, New York Times, 14. Dezember 2020.

11 Gastineau ist Co-Autor von „Conversations secrètes. Le monde des espions“, Paris (Fayard-France Culture) 2020.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Charles Perragin und Guillaume Renouard sind Journalisten und gehören dem Collectif Singulier an.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Charles Perragin und Guillaume Renouard