08.07.2021

Wer kämpft in Tigray?

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Wer kämpft in Tigray?

In der Region im Norden Äthiopiens geht es nicht allein um den Konflikt zwischen den Aufständischen und der Zentral­regierung. Auch die Nachbarländer Sudan und Eritrea spielen eine wichtige Rolle. Nun hat Addis Abeba eine einseitige Waffenruhe verkündet. Vorbei ist der Krieg damit aber noch nicht.

von Laura-Maï Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin

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Juni 2021, al-Qadarif im Südosten des Sudan: Pick-ups rasen durch die leeren Straßen, Läufe von Kalaschnikows zeigen in den Himmel, Maschinenpistolen rattern. Hier kommt man sich vor wie am Ende der Welt. Die kleine Kreisstadt hat kaum die einfachste Infrastruktur und liegt am Rand eines Gebiets, in dem trotz der zahlreichen Kontrollpunkte bewaffnete Gruppen jeglicher Couleur unterwegs sind.

Al-Fashaga, 250 Quadratkilometer fruchtbares Land, liegt im Dreiländereck von Sudan, Äthiopien und Eritrea; Addis Abeba und Khartum streiten sich um das Gebiet. Seit dem Ausbruch des Kriegs im äthiopischen Tigray am 5. November 2020 haben hier, in dieser ohnehin schon instabilen Region, zehntausende Menschen Zuflucht gesucht.

Am 4. November hatte die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) eine Reihe von Angriffen auf Stützpunkte der äthiopischen Streitkräfte verübt. Der Gegenschlag folgte sofort. Inzwischen hat der Krieg tausende Tote gefordert, darunter auch acht Mitarbeiter humanitärer Organisationen, wie die UNO bekanntgab.1 Am 9. November 2020, so berichtete Amnesty Interna­tio­nal, wurden in Mai Kadra Hunderte abgeschlachtet, vermutlich durch eine tigrische Miliz.

Im Motwakil, einem heruntergekommenen Hotel, sind mehrere humanitäre Hilfsorganisationen untergekommen. Hier ist auch die Operationsbasis für Ärztinnen, Ingenieure und Krankenpflegerinnen – Menschen, die ursprünglich aus Tigray stammen und aus den USA und Kanada hierhergeeilt sind. Sie kümmern sich um die Geflüchteten in den Lagern, die im Sudan in aller Eile errichtet wurden, die meisten in al-Qadarif und Kassala. Der schnelle Zustrom dieser ausländischen Helferinnen und Helfer zeugt von einer großen Diaspora, die gut vernetzt ist und über beträchtliche finanzielle Mittel verfügt.

Soldaten aus Eritrea in äthiopischer Uniform

In einem breiten Ledersessel in der Hotellobby jongliert ein mittelalter Mann mit besorgter Miene von früh bis spät mit mehreren Telefonen. Teklaw H., der sich als „Chef seines Stamms“ vorstellt, ist gerade aus Chicago angekommen. Er koordiniert mit den lokalen Behörden die Tätigkeit unzähliger informeller Unterstützungsgruppen. Die größte Herausforderung besteht darin, Passierscheine vom Militär zu erhalten, das den Zugang zu den Flüchtlingslagern kontrolliert.

Seine Bereitschaft, mit den Journalisten zu sprechen, lässt erahnen, dass H. auch eine diskrete politische Rolle spielt. „Unsere schlimmste Befürchtung seit dreißig Jahren ist wahr geworden. Wir werden zwischen einer feindlichen Zentralregierung und dem eri­trei­schen Feind zerrieben“, sagt er uns. Er ist ein ehemaliger tigrischer Rebell, seine Mutter und Schwestern leben im Lager Um Rakuba.

Im aktuellen Konflikt vollzog sich ein spektakulärer Wandel der militärischen Allianzen. Äthiopien wird von Eritrea, der seit 1993 unabhängigen einstigen äthiopischen Provinz, unterstützt. Zuvor herrschte zwei Jahre Krieg zwischen beiden Parteien, in Äthio­pien war damals die TPLF an der Macht. Und im Grenzkrieg beider Länder zwischen 1998 und 2000 stand Tigray an vorderster Front.2

Im Juli 2018 schloss der neue äthio­pische Ministerpräsident Abiy Ahmed direkt nach Amtsantritt überraschend ein Friedensabkommen mit Eritrea. Nach zwanzig Jahren wurden erstmals di­plo­ma­tische Beziehungen zwischen den feindlichen Brüdern aufgenommen, ermutigt von den USA, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), die die Region um das Rote Meer befrieden wollten. Aus heutiger Sicht war diese Versöhnung ein Warnschuss für die TPLF.3 Seither ist Eri­trea ein starker Verbündeter der äthiopischen Machthaber gegen die Region Tigray.

Monatelang hat Abiy die offensichtliche Beteiligung Eritreas geleugnet. Erst Eritrea gab sie am 18. April 2021 in einem Brief an den UN-Sicherheitsrat zu.4 Erschütternde Videos, die Geflüchtete auf ihren Handys mitbrachten, zeigten schon seit einiger Zeit kümmerlich mit alten äthiopischen Uniformen

getarnte eritreische Soldaten, die sich durch ihren Akzent verrieten.

„Von außen betrachtet war das Leugnen Äthiopiens lächerlich. Aber viele Parteigänger Addis Abebas glaubten der Propaganda, und Abiy konnte es sich nicht leisten, die Wahrheit zu früh einzugestehen“, meint der Soziologe Roland Marchal, der sich mit dem Horn von Afrika beschäftigt. „Damit hätte er zugegeben, dass er eins seiner Kriegsziele, nämlich die Wiederherstellung der äthiopischen Souveränität in Tigray, einfach an den eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki verscherbelt hat.“

Der nämlich geht als zweifacher Sieger aus den Ereignissen hervor: Er bändigt den Unruheherd an seiner Grenze und rächt sich gründlich an den Tigrern, die im Jahr 2000 maßgeblich an der demütigenden Niederlage seines ­Landes gegen Äthiopien beteiligt waren.

Es war die erneute Verschiebung der ursprünglich für August 2020 geplanten allgemeinen Wahlen in Äthio­pien, die im Herbst die Lunte entzündet hatte. Die Regierung in Addis Abeba hatte die erste Verschiebung mit der Coronapandemie begründet, die zweite mit logistischen Problemen. Im September führte die TPLF dann selbstständig Kommunalwahlen durch und erklärte sich sogleich selbst zum Sieger, was wiederum von Addis Abeba nicht anerkannt wurde.

Die Frage der Wahlen, die die Zentralregierung schließlich am 21. Juni dieses Jahres – allerdings nicht in Tigray – durchführen ließ, war zwar der Casus Belli, nicht aber die Ursache des Konflikts. „Alle wollten kämpfen. Der Krieg war vorhersehbar, ja unausweichlich“, urteilt Marchal.

Abiy hatte der Vormachtstellung, die die tigrische Elite seit dem Sturz der marxistisch-leninistischen Junta von Mengistu 1991 in Äthiopien innehatte, ein Ende gesetzt. Die von Abiy 2019 gegründete Wohlstandspartei schwenkte die Fahne des Patriotismus und förderte den Gedanken des Medemer (etwa: Synergie), ein Konzept, das auf der offiziellen Facebook-Seite des Ministerpräsidenten mit einer Girlande leerer Begriffe umschrieben wird: „Ermutigung, zusammenzuarbeiten für eine gemeinsame Vision und auf ein für alle segensreiches Ziel hin, das auf den Erfolgen der Vergangenheit beruht und deren Fehler zu korrigieren bemüht ist, um eine harmonischere Union zu schaffen.“ Tatsächlich geht es vor allem darum, das drückende Erbe der TPLF abzuschütteln, die die Macht in Äthiopien von 1991 bis 2018 fest in den Händen hielt.

„Ich interessiere mich kaum für Politik und ich mag Abiy nicht“, verrät uns zum Beispiel Michael Hunde, Unternehmer im Pharmasektor in Addis Abeba. „Aber für mich sind die Leute von der TPLF richtige Teufel. Sie haben sich in den 27 Jahren, während sie an der Macht waren, die Taschen vollgestopft und sich nie um das Wohl der Äthiopier geschert. Ich bedaure das Leiden der Tigrer, aber wenn sie da rauskommen wollen, müssen sie sich von der TPLF abwenden.“

Um zu verstehen, woher der Vorwurf des „tigrischen Privilegs“ stammt, muss man ins Jahr 1991 zurückgehen. Nach dem siegreichen Marsch der TPLF auf Addis Abeba und Mengistus überstürzter Flucht konnte sie die Macht in allen Bereichen an sich reißen. Durch die Auflösung der alten Strukturen konnte sie 90 Prozent der Posten in der Armee neu besetzen und sich die alleinige Kontrolle über die Geheimdienste sichern.

In den Schulen stapelt sich ­Munition neben Tafelkreide

„Das von ihr installierte Überwachungssystem war sehr eng und beruhte auf dem Orwell’schen Prinzip eins zu fünf“, erklärt der Äthiopienspezialist René Lefort. „Jede Person, die mit der Partei verbunden war, musste die fünf Haushalte überwachen, die ihr am nächsten standen, und natürlich alles an ihren Vorgesetzten melden.“ Aregawi Berhe, Gründungsmitglied und späterer Dissident der TPLF, schätzt sogar, dass die Spitzel in manchen Regionen so zahlreich waren, dass sie sich auf nur drei Haushalte konzentrieren konnten.

So wurden die Mitglieder der TPLF zur bürokratischen Elite. Egal ob für einen Polizeikommissar oder einen kleinen Beamten für soziale oder landwirtschaftliche Angelegenheiten in einer Unterpräfektur – für alle endeten die zivilen, administrativen und militärischen Befehlsketten bei einem Tigrer. Die TPLF herrschte als repressive, abgeschottete Minderheit und kontrollierte den größten Teil der äthiopischen Wirtschaft. Sie monopolisierte die staatlichen Strukturen und profitierte vor allem vom Wiederaufbaufonds für Tigray, einem Zusammenschluss von 34 Unternehmen im Dunstkreis der Macht.

Mitte der 2010er Jahre wuchs der Zorn in der Bevölkerung – auch in Tigray – angesichts der Überwachung und der gewaltigen Korruption. Die alte Garde der TPLF ahnte, dass ihre Tage gezählt waren, und kündigte auf ihrem Parteitag 2014 einen Kurswechsel an. Sie beschloss, sich nach Tigray zurückzuziehen und ihre Hochburg zu befestigen. Geschäftsleute und Parteikader brachten ihre vollen Koffer in die Re­gio­nalhauptstadt Mekele und investierten nach Leibeskräften.

Mit der Wahl von Abiy 2018 wurde die TPLF Oppositionspartei. Kaum hatte der neue starke Mann in Addis Abeba die Macht übernommen, nahm er eine großangelegte Säuberung vor. Armee und Geheimdienste wurden umgebaut, 79 Personen (Direktoren staatlicher Unternehmen, Offiziere und Geschäftsleute) wegen Korruption angeklagt. Debretsion Gebremichael, Vizepräsident der Region Tigray, spricht in diesem Zusammenhang von der Errich­tung eines „Apartheidregimes“: „Sie hätten Einzelpersonen verfolgen müssen, aber sie haben eine ganze Gemeinschaft an den Pranger gestellt.“

Hinter der ungeheuren Gewalt, die sich seit November 2020 gegen die Bevölkerung von Tigray richtet, stecken nicht nur Machtspiele, sondern auch der Zusammenbruch des ethnischen Föderalismus, den die Verfassung von 1995 festgeschrieben hatte (siehe Kasten). Am 5. November 2020 wollte Abiy eine als „Sicherheitsoperation“ bezeichnete Blitzoffensive durchführen. Die Wendung, die die Kämpfe dann nahmen, überrumpelte ihn allerdings.

„Wir haben ihn gewarnt“, seufzt ein sudanischer Diplomat, der anonym bleiben möchte. „Wir kannten die TPLF, schließlich haben wir 1975 ihre Gründung unterstützt, als die Junta jede Oppositionsbewegung unterdrückte. Wir waren auch diesmal bereit, zu vermitteln.“ Er erzählt uns, dass das letzte Telefongespräch zwischen dem Chef der Übergangsregierung in Khartum, Abdalla Hamdok, und seinem äthiopischen Amtskollegen nur drei Minuten gedauert habe.

Der Sudaner habe dabei vergeblich versucht, Abiy zu erklären, dass seine Offensive scheitern würde, denn „selbst wenn es ihm gelänge, die Anführer der tigrischen Rebellen auszuschalten, würde sich die Bevölkerung erheben und den Aufstand fortsetzen“. Die resignierte Schlussfolgerung des Diplomaten: „Er hört auf niemanden.“

Die Gegenseite in Tigray kam dem Angriff der Truppen der Zentralregierung zuvor: Mit einem – offenkundig von langer Hand vorbereiteten – Überraschungsangriff am 4. November eroberten sie zunächst einen Teil der schweren Ausrüstung des Nordkommandos der Streitkräfte auf dem größten Stützpunkt in Mekele. Doch die Soldaten der TPLF, die sich selbst als „mächtigste Armee am Horn von Afrika“ bezeichnen, hielten sich dort nur kurz und mussten sich an den Rand der Region und über die Grenze in den Sudan zurückzuziehen.

Abiy sprach am 28. November, während seine Truppen Mekele besetzt hielten, von einem Sieg „ganz ohne zivile Opfer“. Dem widerspricht ein UN-Beamter: „Kein Tag vergeht ohne neue Gewalt, vor allem gegen die zivile Bevölkerung.“ Helfer wurden ständig kontrolliert, weil die äthiopische Regierung den humanitären Organisationen vorwarf, das Eindringen von Waffen und Kämpfern zu decken.

Im Zentralkrankenhaus von Gondar, der Stadt, die im 17. Jahrhundert die Hauptstadt des abessinischen Reichs war, suchten täglich Dutzende von Menschen Hilfe. Verstümmelt, mit zerfetzten Gliedern und entstellten Gesichtern wurden sie in Minibussen hierhergefahren. Immer wieder wurden einzelne Hügel in immer neuen Wellen mit Maschinengewehren erstürmt, Minen gelegt.

Gondar dient als Basis der amharischen Milizen, die zur Unterstützung der Bundesarmee gekommen sind. Hier mischt sich das Echo des Krieges mit dem des Wahlkampfs. Die Stadt ist von zivilen Checkpoints umgeben, an denen Kinder in T-Shirts von Abiys Wohlfahrtspartei stehen. In der Umgebung wimmelt es von Milizen. Schulen wurden zu Stützpunkten gemacht, während die Kinder weiter Unterricht haben. Waffen und Munition stapeln sich unter dem Vordach neben den Schachtel mit Tafelkreide. Die Milizionäre singen vor den Schülern das Lob des Regimes.

Am 29. Juni verkündete nun die TPLF, ihre Truppen hätten die Regionalhauptstadt Mekele zurückerobert. Medien berichteten, die Mitglieder der durch die Zentralregierung eingesetzten Verwaltung hätten überstürzt die Stadt verlassen. Bereits am Tag zuvor hatte die Regierung in Addis Abeba eine einseitige Waffenruhe verkündet, die vonseiten der TPLF sogleich abgelehnt wurde. Nach der Einnahme von Mekele verkündete ein TPLF-Sprecher, man werde weiterkämpfen, bis die gesamte Region wieder unter ihrer Kontrolle stehe.

Dass sich durch die erneute Offensive der TPLF die humanitäre Lage in Tigray verbessert, darf bezweifelt werden. Wie schlimm diese tatsächlich ist, lässt sich allerdings schwer einschätzen. Nach Angaben des Welternährungsprogramms der UN sind 350 000 Menschen von Hunger bedroht. Tigrer, die in den Sudan geflohen sind, berichten von brutalen Ausschreitungen und Vergewaltigungen, von systematischer Grausamkeit der Besatzer.

Eine autonome Region, die bisher durch den ethnischen Föderalismus in der Verfassung geschützt war, sollte offensichtlich unterworfen werden. In einer Erklärung vom 10. März sprach US-Außenminister Blinken von „ethnischer Säuberung“. Nach Schätzung der Weltbank5 gibt es 6 Millionen Tigrer bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 112 Millionen Äthiopiern. Ak­tuel­le Zahlen fehlen.

Im sudanischen Lager Um Rakuba fürchtete man lange, dass die Milizen über die Grenze kommen, um „die Arbeit zu vollenden“. Ermias G., ein vierzigjähriger Elektriker, floh beim Eintreffen der ersten eritreischen Einheiten in seinem Dorf. Er vermutet, dass er von seinen Nachbarn denunziert wurde, Amharen aus Welkait, einer fruchtbaren Region, die 1991 gewaltsam Tigray zugeschlagen wurde.

Die Menschen in Tigray erleben Drohungen, Vergewaltigungen, Mord und Vertreibung. Hunderttausende von ihnen wurden von amharischen Milizen gewaltsam in Busse verfrachtet. „Wir haben Frauen behandelt, die Opfer von Massenvergewaltigungen waren, manche im sechsten Monat schwanger. Sie haben ihre Kinder am Straßenrand in der glühenden Hitze zur Welt gebracht“, erzählt uns ein Missionsleiter der NGO Ärzte ohne Grenzen. Es gab täglich neue Berichte von sexueller Gewalt, die offenkundig koordiniert stattfand.

Immer wieder wurden die Krankenhäuser geplündert: „Ganze Lkws mit medizinischem Material fahren in Richtung Eritrea. Schlimmer noch, sobald die Hilfsorganisationen die Kliniken wieder aufgebaut haben, werden sie verwüstet und mit Minen gespickt.“ Die NGO weiß nicht, ob sie bleiben kann: „Wir sind beinah an dem Punkt, wo wir uns fragen, ob wir nicht eher die Kriegsparteien sponsern, als wirklich den Opfern zu helfen.“

Das Massaker an hunderten Zivilisten in Aksum Ende November 2020 wurde durch detaillierte Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch bestätigt.6 Die BBC hat Übergriffe aufgedeckt, die Ende Januar 2021 von der äthiopischen Armee in Mahbere Dego im Norden von Tigray begangen wurden: verbrannte Wohnviertel, ermordete Kinder, Dutzende Erschießungen am Straßenrand, auf öffentlichen Plätzen vergewaltigte Priester.

Was ist nur aus Abiy geworden, der 2019 für die Aussöhnung mit Eritrea den Friedensnobelpreis erhalten hat? Jetzt ist er international isoliert und wird im eigenen Land bekämpft. Im April 2018 war er Nachfolger von Ministerpräsident Hailemariam Desalegn, geworden, der durch Massendemonstrationen der Oromo zum Rücktritt gezwungen worden war. Der junge engagierte Abgeordnete Abiy, der das von der TPLF dominierte Regierungsbündnis Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) nun führen sollte, hatte viele Trümpfe in der Hand. Als Sohn eines muslimischen Oromo und einer christlichen Amharin stellte Abiy beide Volksgruppen zufrieden und beendete die jahrzehntelange Hegemonie der Tigrer.

Er gilt als ein von den internationalen Finanzinstitutionen geschätzter Technokrat und war als Informatiker mit einem Master in Business Administration am Aufbau des äthiopischen Cyber-Geheimdienstes Insa beteiligt. Seine Frau und er, beide Angehörige einer Pfingstkirche, geben ein medientaugliches Paar ab, das Jugend und Tradition vereint.

Mit Abiy gab Äthiopien den Staats­interventionismus zugunsten des Wirtschaftsliberalismus auf. Das war die Voraussetzung für die Restrukturierung der gigantischen Schuldenlast des Landes: fast 28 Milliarden Dollar bei einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 96 Milliarden Dollar. Wegen der Freilassung von politischen Gefangenen wurde er zudem zum Fahnenträger der Menschenrechte auf dem Kontinent.

„Wir nannten ihn den afrikanischen Macron“, verrät uns ein US-amerikanischer Diplomat, der damals in Addis Abeba tätig war. „Wir fanden ihn charismatisch, businessfreundlich, er war für uns ein möglicher Verbündeter in der Region, vor den Toren des Sudan unter al-Bashir, der ein Paria auf der internationalen Bühne war, und Eritreas unter Afewerki, dem Privatrevier der Emirate.“ Und dann erhielt er auch noch den Friedensnobelpreis.

Nur wenigen schwante damals, dass der äthiopische Ministerpräsident bald auf der Liste derer landen würde, die von der schwedischen Auswahlkommission voreilig heiliggesprochen wurden. Dabei bewegte er sich zum Zeitpunkt der Verleihung schon deutlich in Richtung Vetternwirtschaft und Klientelismus. Und während die Regierungen ein Loblied auf ihn sangen, gab es schon damals erste warnende Stimmen. „Man hätte sich nur seine Reden genau ansehen müssen, anstatt seine schönen Worte auf Englisch zu verbreiten“, spottet ein afrikanischer Botschafter.

Abiy Ahmed hat alle enttäuscht

Drei Jahre nach dem, was die Medien den „äthiopischen Frühling“ nannten, verdüsterte sich der Horizont für Abiy. Die USA, die ihn bis dahin unterstützt hatten, schränkten im Mai ihre wirtschaftliche und sicherheitspolitische Unterstützung für Addis Abeba ein. Außerdem belegte Washington äthiopische und eritreische Regierungsmitglieder mit Visasanktionen.

Für deren Aufhebung gab es drei Bedingungen: unabhängiger humanitärer Zugang zur Region Tigray; Untersuchung der begangenen Verbrechen; Rückzug der eritreischen und amharischen Truppen. Der UN-Sicherheitsrat konnte sich allerdings nicht auf eine entsprechende Resolution einigen, da Russland und China den Konflikt als „innere Angelegenheit“ bewerten.

Die großen Pläne der Abiy-Regierung, ausländische Investoren in die „neue Werkstatt der Welt“ zu locken, sind mit dem unsicher gewordenen Geschäftsklima durch die ethnoregionalen Spannungen und die Coronapandemie ins Stocken geraten. Am Rand äthiopischer Städte wurde mit dem Bau von einem Dutzend Gewerbeparks begonnen. Dort sollen Fabriken von Textil- und Pharmaunternehmen der ganzen Welt entstehen, angelockt durch Steuerprivilegien. Aber zum größten Teil sind die Areale noch nicht einmal an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen.

Angesichts seiner geografischen Situation und Geschichte „hätte Äthio­pien zu einem unumgehbaren geostrategischen Akteur werden können“, meint der US-Diplomat. „Und dann hat es sich mit allen früheren Verbündeten verkracht.“ Inzwischen macht der eritreische Präsident Afewerki mit Unterstützung der VAE seine eigenen regionalen Ambitionen geltend.

Für den Diktator in Asmara war die Entwicklung der letzten Jahre ein Geschenk des Himmels: Er musste sein Land nicht einmal auf den Weg der Demokratisierung bringen, um der diplomatischen Isolation zu entkommen. Addis Abeba scheint sich mit dem Frieden ohne Forderungen an den Nachbarn zu begnügen. „Die Äthiopier haben nicht einmal den Hafen von Assab am Roten Meer zurückverlangt, der seit 1998 der Zankapfel zwischen Äthiopien und Eritrea ist, obwohl der Zugang zum Meer die wichtigste Friedensdividende sein müsste“, wundert sich der Regionalexperte Marchal.

Eine dauerhafte Lösung für Tigray wird langfristig kaum ohne den Sudan möglich sein. Diplomatische Quellen bestätigen die Anwesenheit tigrischer Militärchefs in Khartum. Die sudanische Regierung ist froh, ein Druckmittel in den bilateralen Streitigkeiten mit Äthiopien in der Hand zu haben, und hütet sich, solche Meldungen zu dementieren.

Zu den Konflikten zwischen beiden Ländern gehören der Grenzstreit im Fashaga-Dreieck und der Grand-Ethio­pian-­Renaissance-Staudamm, ein von Addis Abeba mit Nachdruck vorangetriebenes Projekt pharaonischen Ausmaßes.7 Sudan und Ägypten werfen dem Nachbarn nilaufwärts vor, ihnen das Wasser buchstäblich abzugraben.

Nach dem jüngsten Vormarsch der TPLF besteht nach Einschätzung von Beobachtern nun zudem die Gefahr, dass ihre Truppen auch die Grenze zu Eritrea überschreiten – wodurch auch das nördliche Nachbarland wieder destabilisiert werden könnte.

1 „UN agencies scale-up response to address looming famine 'catastrophe’ in Tigray“, UN News, 10. Juni.

2 Siehe Jean-Louis Peninou, „Ein Grenzkrieg wird zur Strafaktion“, LMd, Juli 2000.

3 Siehe Gérard Prunier, „Hoffnung am Horn“, LMd, November 2018.

4 Brief der Botschafterin Eritreas an die UNO, 18. April 2021.

5 Siehe Länderblatt der Weltbank.

6 „Ethiopia: Eritrean troops’ massacre of hundreds of Axum civilians may amount to crime against humanity“, Amnesty International, 26. Februar 2021.

7 Siehe Habib Ayeb, „Wem gehört der Fluss?“, LMd, Juli 2013.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Laura-Maï Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin sind Journalisten.

Einheit versus Autonomie

Seit dem Sturz von Kaiser Haile Selassie im Jahr 1974 stehen sich zwei nationale Visionen gegenüber. Auf der einen Seite die Verfechter der Ethiopia-Andinet (Äthio­pische Einheit). Auf der anderen die Verteidiger einer dezentralen Föderation, in der die Anerkennung des ethnischen und linguistischen Partikularismus als Rechtsrahmen gilt. Die Ablehnung der von Nationalismus genährten Ethiopia-Andinet durch Tigray hat auch mit der Geschichte der Amharen zu tun, der zweitgrößten Ethnie des Landes mit ungefähr 23 Millionen Angehörigen. Die Amharen sind Erben des goldenen Zeitalters Abessiniens, sie haben Äthiopien geformt, vor allem in den Eroberungskriegen Kaiser Meneliks im 19. Jahrhundert auf Kosten der Bevölkerung im Süden und in Tigray.

Die Verfassung von 1995 etablierte einen ethnischen Föderalismus, der auf dem Prinzip „eine Ethnie, eine Region“ beruht. Die Präambel, in der es heißt, dass die Verfassung „die historischen Ungerechtigkeiten korrigieren muss“, zielt unausgesprochen auf die jahrhundertelange Dominanz der Amharen und maskiert die faktische Vormachtstellung der Tigrer an den Hebeln der Macht. Das National Move­ment of Amhara (Nama) sieht darin eine gegen die Amharen gerichtete, falsche Sicht auf die Geschichte. Das erklärt auch, warum die äthiopischen Streitkräfte heute von amharischen Milizen gegen die Bewohner von Tigray unterstützt werden.

Der Föderalismus war nicht imstande, dauerhaft die alten ethnoterritorialen Forderungen unter der Decke zu ­halten. Mit dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in der „neuen Werkstatt der Welt“ und der ungleichen Verteilung seiner Früchte nehmen die identitären Bestrebungen und die Frustrationen an den Rändern des einstigen Kaiserreichs zu. Die Autonomieforderungen werden lauter.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Laura-Maï Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin