13.05.2021

Afrikanisches Schweigen

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Afrikanisches Schweigen

Viele Regierungen auf dem Kontinent sahen damals weg

von Boubacar Boris Diop

Fotografien von Opfern im Kigali Genocide Memorial BEN CURTIS/picture alliance/ap
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Warum ist die Menschheit 1994 den Tutsi in Ruanda nicht zur Hilfe gekommen, obwohl der Massenmord von unerträglicher Grausam­keit vor aller Augen stattfand? Vor allem die UNO muss sich diesen Vorwurf immer wieder anhören. Zu Recht.

Anfang 1994 erhielt der militärische Leiter der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Ruanda (Una­mir), der kanadische Generalmajor Roméo Dallaire, Informationen von einem Deserteur der extremistischen Bewegung Hutu Power und bat daraufhin um eine Verstärkung von 5000 Blauhelmen, um die geplanten Massaker zu verhindern. Die Verstärkung blieb aus, und nach dem Ausbruch der Gewalt im April wurde stattdessen beschlossen, die Truppenstärke von 2300 Soldaten auf 270 unbewaffnete Beobachter zu reduzieren.

Heute wird häufig vergessen, dass die UNO, die die Opfer ihren Schlächtern ausgeliefert hat, damals von zwei Afrikanern geführt wurde: Generalsekretär war der Ägypter Boutros Boutros-Ghali, stellvertretender Generalsekretär und verantwortlich für friedenserhaltende Missionen der Ghanaer Kofi Annan. Sie konnten zwar allein keine Entscheidungen treffen, aber in den Berichten über intensive Gespräche mit ihren Vertretern in Ruanda deutet nichts darauf hin, dass sie erfasst hätten, was sich dort abspielte, oder dass sie versucht hätten, die Geschehnisse vor Ort zu beeinflussen.

Auch die afrikanischen Staatschefs und Meinungsführer zeigten kein Mitgefühl für diejenigen, die in Butare, ­Kibuye, Gitarama und anderswo wie Vieh abgeschlachtet wurden. Diese Blindheit lässt sich nicht entschuldigen. Vielleicht hätte sie sich erklären lassen, wenn die Katastrophe in einem sehr kurzen Zeitraum stattgefunden hätte. Doch wegen ihrer Dauer – von Anfang April bis Mitte Juli – spricht man in Bezug auf den Völkermord an den Tutsi von den „hundert Tagen von Ruanda“.

Wenn also die Staatschefs in Maputo, Abidjan oder Abuja überrascht wurden, hätten sie mehr als drei Monate Zeit gehabt, sich zu besinnen. Sie haben es nicht getan. Im Juni 1994, dem mörderischsten Monat, hielt die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ihr jährliches Gipfeltreffen in Tunis ab, ohne die Situation im „Land der tausend Hügel“ auch nur auf die Tagesordnung zu setzen. Die Ruandische Übergangsregierung (GIR), die zu diesem Zeitpunkt beinahe 1 Million Tutsi ermordet hatte, nahm ganz normal daran teil.

Gerade hatte in Südafrika die Apartheid offiziell geendet. In dem langen Kampf hatte die OAU eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Sieg und sein Held, Nelson Mandela, sollten in Tunis ungestört gefeiert werden. Doch gerade er, der erste demokratisch gewählte Präsident Südafrikas, rettete die Ehre des Kontinents, indem er das Thema ansprach und klare Worte fand: „Was in Ruanda geschieht, ist eine Schande für uns alle. Wir müssen mit konkreten Taten unseren Willen bekunden, dem ein Ende zu setzen.“

Der Historiker Gérard Prunier, der diesen Auftritt schildert,1 berichtet auch von dem Schock, den diese Erklärung in Paris auslöste, wo François Mitterrand in etwa so reagierte: „Mandela hin oder her, wir lassen nicht zu, dass die Engländer ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken!“

Prunier war damals Mitglied des internationalen Sekretariats der Sozialistischen Partei (PS), saß also in vorderster Reihe und gab sogar Ratschläge, als die in trauriger Erinnerung gebliebene französische Militäroperation „Tur­quoise“ in eine Katastrophe umschlug.

Er sah sehr deutlich, dass es der französischen Regierung vor allem darum ging, einer Entsendung südafrikanischer Truppen zuvorzukommen. Paris wollte seiner militärisch-humanitären Expedition den Anschein eines multilateralen Einsatzes geben, aber diesmal gelang es nicht, die Armeen der „pays de champs“2 in seine Manöver hineinzuziehen. Selbst Senegal, gehorsamer Partner und afrikanischer Rekordhalter bei UN-Militärmissionen, beschränkte sich auf den Mindesteinsatz: knapp 30 Männer für Logistikaufgaben.

Die OAU versuchte später ihr Versagen aufzuarbeiten, indem sie 1998 bei einer Gruppe aus bekannten Persönlichkeiten einen Untersuchungsbericht in Auftrag gab. Zu dieser Kommission, die vom früheren Präsidenten Botswanas, Ketumile Masire, geleitet wurde, gehörten unter anderem Ellen Johnson-Sirleaf, damals die Leiterin des UN-Entwicklungsprogramms für Afrika ­(UNDP) und später Präsidentin Liberias, Lisbet Palme, Präsidentin des schwedischen Unicef-Komitees, der stellvertretender Unicef-Direktor Stephen Lewis aus Kanada und der malische General Amadou Toumani Touré, später Präsident Malis.

Ihr Bericht – zweifellos einer der besten über dieses dunkle Kapitel der afrikanischen Geschichte – wurde im Juli 2000 abgeschlossen und trug den Titel „Ruanda: Der Völkermord, der hätte verhindert werden können“.3 Darin findet sich das anonyme Eingeständnis eines hohen Funktionärs der OAU: „Als Afrikaner wird uns unser Scheitern in Ruanda immer schmerzen, und auch die internationale Gemeinschaft sollte es schmerzen.“

Das war echte Selbstkritik, und als solche verdient sie Respekt, auch wenn das alles letztlich lächerlich bleibt angesichts des unermesslichen Verlustes: In jenen einhundert Tagen kostete jeder Tag, an dem die OAU schwieg, zehntausend Unschuldige das Leben.

Die einzelnen afrikanischen Staaten fühlten sich durch die Schlussfolgerungen des Berichts allerdings nicht direkt angesprochen. Bis heute verschließen sie die Augen davor, dass Planer und Vollstrecker des Völkermords in ihren Ländern Zuflucht gefunden haben. Eine Kartografie der Diaspora würde zeigen, dass die Mörder nicht nur nach Belgien und Frankreich geflohen sind. Viele potenzielle Angeklagte der internationalen Justiz leben bis heute überall auf dem Kontinent, in Südafrika, Kenia, Simbabwe und in der Demokratischen Republik Kongo.

Dort fühlen sich die Täter zum Teil so sicher, dass sie es nicht einmal für nötig halten, ihre Identität zu verheimlichen. Félicien Kabuga etwa, der „Finanzier des Völkermords“, wurde lange von den Regierungen Simbabwes und Kenias geschützt, bis er seine Familie in Frankreich besuchte und dort im Mai 2020 in der Pariser Banlieue ­Asnières-sur-Seine verhaftet wurde.

Aus offensichtlichen politischen Gründen sind die früheren französischen Kolonien die erste Wahl der flüchtigen Mörder. Besonders willkommen sind sie in Gabun und Kamerun. In der kamerunischen Hauptstadt Yaoun­dé wurde im März 1996 Oberst Theo­neste Bagosora gefasst, der als „Gehirn des Völkermords“ galt. 2008 wurde er vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (Tribunal pénal international pour le Rwanda, TPIR) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.

In N’Djamena, wo ich im Jahr 2000 an einer Literaturveranstaltung mit dem Titel „Ruanda: Schreiben als Pflicht zur Erinnerung“ teilnahm, erfuhr ich am Ende der Diskussion, dass einer der Anwesenden vom TPIR gesucht wurde. Und in Thiès, einer kleinen senegalesischen Stadt etwa 60 Kilometer von Dakar entfernt, wurde im November 2001 Oberst Aloys Simba, der „Schlächter von Murambi“, verhaftet.

Er lebte dort unter dem diskreten Schutz der Nationalen Organisation für Menschenrechte, die zur Internationalen Föderation der Menschenrechtsligen (FIDH) gehört. Ohne die ausdrückliche und, wie es heißt, energische Forderung von Chefanklägerin Carla Del Ponte wäre er wohl nie an den Strafgerichtshof ausgeliefert worden.

Das totale politische und moralische Versagen der afrikanischen Staaten im Hinblick auf den Völkermord in Ruanda besteht also bis heute fort. Und es lässt sich sicher nicht allein zynischen Staatsoberhäuptern in die Schuhe schieben, die – im Falle der frankofonen Länder – Paris nicht verärgern wollten. Es lässt sich auch kein pauschales Urteil über ganz Afrika fällen. Festhalten lässt sich aber, dass der Völkermord in Ruanda in den afrikanischen Staaten nicht für größere Unruhe gesorgt hat.

Dabei geschah er zu einem Moment, als nach dem Ende des Kalten Kriegs in den meisten afrikanischen Ländern der Weg für einen demokratischen Übergang offenstand. Der Aufstieg neuer Kräfte sorgte für Redefreiheit, und man hätte von einer besser informierten Öffentlichkeit ein klareres Verständnis vom Ausmaß der Katastrophe erwarten können.

Doch so war es nicht: Die Presse wurde zwar freier, wagte sich thematisch aber kaum über die nationalen Grenzen hinaus. Bei allem, was nicht zur Lokalpolitik gehört, werden bis heute stumpfsinnig die Meldungen von AFP, Reuters oder Associated Press abgeschrieben. In den Fernsehnachrichten gibt es höchstens am Ende ein paar Bilder und Kommentare von TF1 oder France 2. Da private Radiosender damals wie heute kein Wort über den Völkermord in Ruanda verlieren, bleiben BBC, Radio France International und Voice of America die einzigen – teilweise jedoch recht tendenziösen – Informationsquellen.

Trotzdem kann sich heute niemand mehr mit Unwissenheit herausreden. Wenige Tragödien unserer Zeit, in Afrika oder anderswo, wurden so gründlich untersucht wie der Völkermord an den Tutsi in Ruanda. Es gibt unzählige Publikationen von Historikerinnen und Journalisten, außerdem Filme, literarische Werke und Theaterstücke. Einen großen Beitrag leisten auch die sozialen Medien.

Also muss man die Gründe für 27 lange Jahre afrikanischer Apathie woanders suchen. In Dakar, Nairobi und Maputo wurden die Ereignisse in Ruanda vor allem als unangenehmes Gemetzel zwischen zwei Ethnien wahrgenommen, das der Weltsicht der Rassisten recht zu geben schien. Die Bilder von hunderttausenden Leichen, die in der Sonne faulten oder in den Nyabarongofluss geworfen wurden, von aufgeschlitzten Frauen und lebendig in Latrinen ertränkten Babys oder Hunden, die sich an den Körpern sattfraßen, waren fast surreal, und so ist es in gewisser Hinsicht verständlich, dass Afrika voller Scham den Blick abgewendet hat.

Diese Haltung hat vielleicht vor allem mit dem zu tun, was die ruandische Schriftstellerin Yolande Mukagasana die „Angst, zu wissen“4 nennt. Die ließ sich bei allen schweren Konflikten beobachten, die in Afrika stattfanden, vom Bürgerkrieg in Liberia bis zu den aktuellen Unruhen in Äthiopien und Mali. Auf die Dauer und ohne es zu merken sind die afrikanischen Staaten einander sehr fremd geworden.

Die Grenzen in den Köpfen sind aus der Kolonialzeit geerbt und diese geistige Verwirrung behindert einen klaren Blick auf die Dinge. So wird bei vielen afrikanischen Intellektuellen die Sicht auf den Völkermord an den Tutsi bis heute durch die dumpfe Feindschaft gegen den aktuellen Präsident Paul Kagame verstellt.

„In Ruanda töten die Hutus die Tutsis, und die Tutsis töten die Hutus.“ Diesen Satz sagte Boutros-Ghali auf dem Höhepunkt des Gemetzels. Und auf einer Pressekonferenz während des ersten Frankreich-Afrika-Gipfels nach dem Völkermord gab Mitterrand zu Protokoll: „In Wahrheit gibt es, wie Sie wissen, keine internationale Versicherungspolice, die ein Volk daran hindern könnte, sich selbst zugrunde zu richten. Und auch von der internationalen Gemeinschaft, geschweige denn von Frankreich als einzelnem Land, kann man das Unmögliche verlangen, wenn afrikanische Anführer sich dafür entscheiden, ihre Probleme mit der Machete zu lösen.“

Diese Äußerungen eines UN-Generalsekretärs und eines französischen Staatspräsidenten sind zwei denkwürdige rassistische Dummheiten. Aber sie sprechen nur aus, was man überall, auch in Afrika selbst, heimlich über Afrika denkt. Diese vorurteilsbeladene Wahrnehmung eines ganzen Kontinents hat die Planung des letzten Völkermords des 20. Jahrhunderts und seine Durchführung über drei Monate hinweg möglich gemacht.

Und diese Wahrnehmung hindert Afrika auch fast 30 Jahre später daran, die Vorgänge von damals zu durchschauen und einzusehen, dass hinter diesen hundert Tagen des Grauens nicht der Ausbruch eines irrationalen und willkürlichen Hasses steckt, sondern – wie man es so oft in der jüngsten Geschichte erlebt hat – ein klassischer Kampf um Macht, der gänzlich außer Kontrolle geriet.

1 Gérard Prunier, „Rwanda: le génocide“, Paris (Dagorno) 1998.

2 Wörtlich „Feldländer“ – neokolonialistischer Begriff für das Einflussgebiet Frankreichs.

3 „Le génocide qu’on aurait pu stopper“, online auf der Website der Commission d’enquête citoyenne, cec.rwanda.free.fr.

4 Siehe Yolande Mukagasana, „N’aie pas peur de savoir“, Paris (Robert Laffont) 1999.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Boubacar Boris Diop ist ein senegalesischer Schriftsteller. Auf Deutsch erschien von ihm ein Roman über den Völkermord in Ruanda: „Murambi: das Buch der Gebeine“, übersetzt von Sahbi Thabet, Leipzig (Edition Hamouda) 2010.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Boubacar Boris Diop