13.05.2021

Der sizilianische Chronist

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Der sizilianische Chronist

von Antony Burlaud

Leonardo Sciascia, 1921–1989 picture alliance/Leemage/Maxppp
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Auf seinen Grabstein ließ der 1989 verstorbene Leonardo Sciascia ein Zitat des französischen Schriftstellers Auguste de Villiers de l’Isle-Adam eingravieren: „Wir werden uns an diesen Planeten erinnern.“ Doch erinnert sich der Planet 30 Jahre nach dessen Tod noch an Sciascia? Am 8. Januar 2021 wäre der sizilianische Autor 100 Jahre alt geworden. In Italien würdigte man das Jubiläum mit Sondersendungen und Symposien. In Deutschland und Frankreich erschienen jeweils zwei neue Bände, ansonsten verstrich das Datum weitgehend unbemerkt.1

Dabei war Sciascia zu Lebzeiten insbesondere in Frankreich populär. Vor allem Verleger Maurice Nadeau ist es zu verdanken, dass seine Texte früh ins Französische übersetzt wurden. Ende der 1970er Jahre erwog Sciascia sogar, sich jenseits der Alpen niederzulassen. Französische Autoren wie Vol­taire, Paul-Louis Courier, Stendhal waren wichtige Vorbilder für ihn. Denn Sciascia war ein großer Leser – ein Wiederkäuer von Texten, ein Sammler von Zitaten, ein Philologe und Hobbyredakteur. Ein Buch stellte für ihn „eine Form der Annäherung an das Glück“ dar, eine Bibliothek war lebenswichtige Ressource und Inspirationsquelle.

Seinen Vorbildern verdankt er die Vorliebe für kleine Formen. Er schrieb schlanke Romane, Essays, Erzählungen, Kolumnen, Artikel. Sein Stil war knapp und – zumindest dem Anschein nach – schlicht: Für seine Romane wählte er das eher unedle Genre des Krimis; seine Kolumnen kreisten um Alltagsbeobachtungen; seine Essays waren oft pointierte Kommentare zu Texten anderer Autoren.

Wie seine französischen Idole stand Sciascia in der Tradition des Rationalismus, mit der er in seiner Heimat Sizilien – und in Italien, diesem „Land ohne Wahrheit“, wie er schrieb – keinen leichten Stand hatte. Sciascia bewunderte die Vordenker der Aufklärung: von der Kirche verfolgte Ketzer, Illuministen und jakobinische Reformer, die sich gegen das Ancien Régime stellten.

In seinen Geschichten schildert er den Kampf um die Vernunft und das Ringen um verborgene Wahrheiten. Stets gibt es ein Knäuel zu entwirren, ein Versäumnis wiedergutzumachen; manchmal müssen dafür Archive durchstöbert, manchmal kleinste Zeichen richtig gedeutet werden. Wenn Sciascia mehr als einmal die Form des Giallo – des Kriminalromans – gewählt hat, dann deshalb, weil für ihn die Wirklichkeit wie ein verworrener Text ist, den es detektivisch zu entschlüsseln gilt. Ermitteln wird zur – wenn auch vergeblichen – Lebensaufgabe.

Am Ende müssen sich seine Pro­ta­go­nis­ten geschlagen geben oder werden einfach um die Ecke gebracht; Staat oder Kirche behalten mit ihren Lügen die Oberhand. Alle seine Bücher erzählen „die Geschichte einer kontinuierlichen Niederlage der Vernunft und all derjenigen […], die in diese Niederlage persönlich hineingerissen und durch sie vernichtet wurden“.2 Mit der Zeit wurde Sciascia immer pessimistischer: Seinem Tagebuch der Jahre 1969 bis 1979 gab er den Titel „Nero su nero“, mit „schwarzer Schrift“ sei es auf der „schwarzen Seite der Realität“ verfasst; und eines seiner letzten Bücher, die Aufsatzsammlung „A futura memoria“ („Dem zukünftigen Gedächtnis“) von 1989 trägt den besorgten Untertitel „se la memoria ha un futuro“ („wenn das Gedächtnis eine Zukunft hat“).

Gekämpft hat Sciascia trotzdem. Von Voltaire und Courier hatte er sich die Mittel der publizistischen Intervention abgeschaut. Für ihn brauchte Engagement keinerlei Theorie, er liebte die Polemik und machte jedes seiner Bücher zu einem politischen Akt. 1950 veröffentlichte er in „Le favole della dittature“ 27 kurze Prosatexte über den Faschismus und seinen fortwährenden Einfluss. 1956 folgte „Le parrocchie di Regalpetra“ („Die Pfarreien von Regalpetra“), ein Zeugnis des Elends in der vom Schwefelabbau geprägten Region um Agrigent, in der er aufgewachsen war und später als Lehrer arbeitete.

Die Mafia thematisierte er erstmals 1961 in dem Krimi „Il giorno della civetta“ („Der Tag der Eule“), mit dem er berühmt wurde. Mit „Il consiglio d’Egit­to“ („Der ägyptische Konzil“) legte er 1963 einen historischen Roman über die konservative und verschlagene sizilianische Aristokratie vor, den die Kritik sofort als Antwort auf das große Sizi­lien-­Epos „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa deutete. Auch in der Erzählungssammlung „Gli zii di Sicilia“ („Sizilianische Verwandtschaft“) von 1958 beschäftigt er sich mit der Geschichte Siziliens und prangert den ewigen „trasformismo“ der Eliten und die Macht ihrer Propaganda über die kleinen Leute an.

Krimiautor und Parlamentarier

Doch dabei blieb Sciascia nicht stehen: In „Todo modo“ („Todo modo oder das Spiel der Macht“) und „Dalla parte degli infedeli“ („Der Titularerzbischof“) nimmt er in den 1970er Jahren die Kirche und ihre Unterstützung für die korrupte Führung der Democrazia Cristiana (DC) ins Visier. Die geheimen Manöver der Eliten in den anni di piom­bo, der „bleiernen Zeit“ des Linksterrorismus, beschwört er in „Il contesto“ (1971).

Auf Deutsch zunächst unter dem Titel „Tote Richter reden nicht“ (1974); später als „Der Zusammenhang“ (2001) erschienen, nimmt dieser düstere Roman die Verrenkungen vorweg, die mit dem „historischen Kompromiss“ zwischen DC und Kommunistischer Partei (PCI) einhergingen. Darin erklärt ein Minister mit unverhohlenem Zynismus: „Meine Partei, die dieses Land seit dreißig Jahren schlecht regiert, hat plötzlich erkannt, dass sie es gemeinsam mit der Internationalen Revolutionspartei besser schlecht regieren kann.“3

Sein Engagement führte Sciascia auch auf die politische Bühne. Als Unabhängiger auf der Liste des PCI wird er 1975 in den Stadtrat von Palermo gewählt. Bei aller Kritik an der stalinistischen Bigotterie des PCI und dem historischen Kompromiss mit den Christdemokraten fühlte er sich ihm doch näher als irgendeiner anderen Partei.

Nach 18 Monaten im Amt trat er wieder zurück. Offiziell, weil er die endlosen Sitzungen leid war, in Wirklichkeit aus Protest gegen das Arrangement der Kommunisten mit der christdemokratischen Mehrheit. In „Candido, ovvero un sogno fatto in Sicilia“ („Candido oder ein Traum in Sizilien“, 1977) rechnete er mit dem PCI ab. In Anlehnung an Voltaires Satire „Candide oder der Optimismus“ (1759) erzählt das Buch die heiter-ironische Geschichte eines sizilianischen Candides und seiner politischen Rückschläge.

Sciascia war definitiv kein Parteisoldat. Dennoch ließ er sich 1979 über die Liste des kleinen Partito Radicale in die italienische Abgeordnetenkammer wählen. Ans Rednerpult trat er in den folgenden vier Jahren nur ein Dutzend Mal. Viel energischer brachte er sich im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aldo-Moro-Affäre ein.

Wie viele in Italien hatte ihn die Entführung und Ermordung des DC-Vorsitzenden und ehemaligen Ministerpräsidenten durch die Roten Brigaden 1978 erschüttert. Er schrieb ein kurzes, aber durchschlagendes Buch darüber: In „L’affaire Moro“ („Die Affäre Moro“, 1978) versammelte er Moros Briefe aus der Geiselhaft, die Erklärungen der Roten Brigaden, Presseartikel und Behördenschreiben und versah sie mit eigenen Kommentaren.

Sein Ziel war es, neues Licht auf einen Fall zu werfen, den alle schnell wieder vergessen wollten, und zu zeigen, dass man mit den Entführern hätte verhandeln müssen. Moros Parteifreunden, der Kirche und der politischen Klasse warf er vor, Moro im Stich gelassen – und ihn damit zum Tode verurteilt – zu haben. Sciascia formulierte bohrende Fragen, mit denen er jedoch ebenso wenig Licht ins Dunkel bringen konnte wie mit dem Bericht, den er als Mitglied des Untersuchungsausschusses später verfasste.

Nach dem Ende seiner Zeit als Abgeordneter 1983 waren vor allem seine Stellungnahmen zur Mafia gefragt. Seit der Veröffentlichung von „Der Tag der Eule“ hatte er „die ehrenwerte Gesellschaft“ scharf kritisiert. Er hatte ihre Verwandlungen, ihren Wechsel vom Land in die Stadt und ihre Entwicklung zu einer internationalen Verbrecherorganisation verfolgt; er wurde auch nicht müde, auf die Verstrickungen der Bürokratie und der Staatsmacht hinzuweisen, die vorgaben, die Mafia zu bekämpfen, sie in Wahrheit aber gewähren ließen.

Die 1980er Jahre brachten eine Justizoffensive gegen die Mafia: In Palermo fand 1986/87 ein „Maxi-Prozess“ gegen die sizilianische Cosa Nostra statt. Zum allgemeinen Erstaunen setzte sich Scia­scia damals für den Showmaster Enzo Tortora ein, der beschuldigt wurde, Camorra-Mitglied zu sein – zu Unrecht, wie ein neapolitanisches Gericht 1986 feststellte. 1987 löste Sciascia einen Skandal aus, nachdem der Corriere della Sera seine Kritik an der Anti-Mafia-Bewegung veröffentlicht hatte.

Doch Sciascia hatte nicht die Seiten gewechselt. Vielmehr war er beunruhigt angesichts der staatlichen Methoden der Mafiabekämpfung und der damit einhergehenden Beschneidung von Grundrechten. Auch den Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, und den Richter im Maxi-Prozess, Paolo Borsellino, kritisierte er scharf und warf den beiden vor, mit ihrem Engagement gegen die Mafia lediglich die eigene Karriere voranbringen zu wollen.

Sciascia war ein unermüdlicher Chronist Siziliens, seiner Geschichte und seiner Geschichten. Aber er blickte darüber hinaus. Er warnte vor der „ewigen Möglichkeit der Rückkehr des Faschismus“, kritisierte die Kirche für ihre „alte heuchlerische Sprache“ und die Verfolgung Andersdenkender. Er wetterte gegen die Klüngeleien der Mächtigen und die Unmöglichkeit eines wirklichen Machtwechsels. Und das Volk? „Dem Volk hat man damals Hörner aufgesetzt und setzt ihm heute Hörner auf“, heißt es in „Der Tag der Eule“. Wenn „das Gedächtnis eine Zukunft hat“, dann sollten wir uns noch lange an Leonardo Sciascia erinnern.

1 Auf Deutsch neu erschienen: „Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Essayistische Erzählungen“, aus dem Ita­lie­nischen von Monika Lustig, Bad Herrenalb (Edition Converso) 2021; „Einmal in Sizilien“, aus dem Italienischen von Sigrid Vagt, Berlin (Klaus Wagenbach) 2021.

2 Siehe Leonardo Sciascia, „Salz, Brot und Messer“, Wien (Paul Zsolnay) 2002.

3 Siehe „Der Zusammenhang“, aus dem Italienischen von Helene Moser, Berlin (Klaus Wagenbach) 2014; zuerst 1974 unter dem Titel „Tote Richter reden nicht“, (Benziger Verlag) Zürich.

Aus dem Französischen von Anna Lerch

Antony Burlaud ist Publizist, Autor und Übersetzer.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Antony Burlaud