11.02.2021

Der verordnete Bankentod

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Der verordnete Bankentod

In der Ukraine wurden 2014 bei der Säuberung des Bankwesens mehr als hundert Institute abgewickelt. Was als Maßnahme gegen Korruption verkauft wurde, war auch ein Machtkampf unter Oligarchen. Dabei verloren viele Bankkunden die Ersparnisse eines ganzen Lebens.

von Laura Diab und Guillaume Ptak

Protest gegen Nationalbankchef Smolij, Kiew, 19. November 2019 picture alliance/photoshot
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Die 65-jährige Marija Klimenkowa ist verzweifelt „Wohin ist unser Geld verschwunden? Wo ist es gelandet?“ Die pensionierte Buchhalterin zählt zu den rund 160 000 Ukrainerinnen und Ukrainern, meist aus der gehobenen Mittelschicht, deren Ersparnisse sich mit der Säuberung des Bankensystems zwischen 2014 und 2017 in Luft aufgelöst haben.

Inspiriert wurde diese Reform durch die Nationalbank der Ukraine, die Zentralbank. Klimenkowa verlor vor fünf Jahren durch die Abwicklung der Bank „Finanz und Kredit“ ihre Ersparnisse im Wert von damals 58 000 Euro, was etwa zwölf Jahresgehältern entspricht.

Seit der Neuordnung des Finanzsystems nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion leidet der ukrainische Bankensektor unter Misswirtschaft und dubiosen Praktiken. Ständig gab es Berichte über suspekte Insolvenzen, undurchsichtige Eigentumsverhältnisse, Kredit an Kumpel und Verwandte und Manipulationen aller Art, gegen die weder die Bankaufsicht noch die Justiz einschritt.

2014 büßte die Ukraine durch den Krieg im Donbass und den Verlust der Krim 25 Prozent seiner Industriekapazität ein. Durch den Bruch mit Russland fiel auch noch der wichtigste Handelspartner weg. Die Landeswährung Hrywnja wurde dreimal abgewertet, und das angeschlagene Bankensystem drohte vollends zusammenzubrechen.

Auf Druck der westlichen Partner, von denen das Land finanziell abhängig ist, vollzog die 2014 gewählte Regierung Poroschenko eine radikale Säuberung des Bankensektors. Hunderte von Geschäftsbanken, mehr als die Hälfte der ukrainischen Finanzinstitute, wurden liquidiert.

Es traf vor allem drei Gruppen: erstens Briefkastenunternehmen, die der Geldwäsche von unrechtmäßig erzielten Gewinnen dienen; zweitens Institute, deren Bilanzen nur Verbindlichkeiten und keinerlei Vermögenswerte aufwiesen; drittens Banken, die mächtigen Geschäftsleuten gehörten.

Zur dritten Gruppe gehörten einige, die auf der Liste der finanzkräftigsten Institute ganz vorn lagen. Auf Platz 10 stand etwa die Finanz und Kredit, die dem Bergbau- und Metallurgiemagnaten Konstantin Zhewago gehörte; auf Platz 4 die Delta Bank von Mykola Lagun. Die Nadra Bank gehörte zum Reich des Oligarchen Dmytro Firtasch, der im Erdgashandel mit Russland ein riesiges Vermögen gemacht hatte.

Firtasch fiel nach 2014 auf der Liste der reichsten Ukrainer auf Rang 24 zurück, landete bei seinem Absturz also noch ziemlich komfortabel. Dagegen wurden viele ganz normale Leute in den Ruin getrieben. Der Staat garantiert lediglich maximal 200 000 Hryw­nja (rund 6000 Euro) der Bankeinlagen. Die Entschädigung der Sparer und die Versteigerung der Vermögenswerte liqui­dierter Banken erfolgt durch den ukrainischen Einlagensicherungsfonds. Die Teilentschädigung von rund 2 Millionen Bankkunden und die Refinanzierung einiger Banken, die mittels Insolvenzverfahren der Liquidierung entgingen, zehrte fast 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf. Rechnet man die Nettoverluste der Einzelsparer und der Unternehmen hinzu (16 Prozent des BIPs), erhöht sich die Verlustsumme auf fast 30 Prozent des BIPs.

Die Säuberung des Bankensystems ist mit einem Namen verbunden: Walerija Hontarewa stand von Juni 2014 bis Mai 2017 an der Spitze der Na­tio­nal­bank. Gegenüber der Financial Times (vom 26. März 2017) sprach sie von „unglaublichem Druck“, dem sie damals ausgesetzt war. Ein namentlich nicht genannter Oligarch habe ihr sogar körperliche Gewalt angedroht.1 Nach Hontarewa hatten die Banken „auf jede erdenkliche Weise, vor allem aber über Einlagen natürlicher Personen Geld eingesammelt, um es in ihre eigenen Unternehmen zu investieren“.

Wie die internationalen Geldgeber, deren Empfehlungen sie umsetzte, hielt Hontarewa die Maßnahmen für eine notwendige und gerechtfertigte Operation am offenen Herzen. Genauso argumentiert Sofia Lobozynska, Wirtschaftsprofessorin an der Iwan-Franko-Universität Lwiw: „Wenn sich der Patient nur so retten lässt, muss man unverzüglich handeln.“

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) unterstützte den ukrainischen Einlagensicherungsfonds technisch und finanziell. Ihr Vertreter Alexander Pawlow erklärte, die Bevölkerung müsse einen Teil der Verantwortung übernehmen. Denn sie habe sich – wie zuvor die Griechen – vom schnellen Geld verleiten lassen, ohne sich über die zweifelhaften Konditionen der Kreditinstitute zu informieren: „Wenn man Ihnen ein Darlehen zu einem Zinssatz von 25 Prozent anbietet, müssen Sie doch merken, dass mit dem Geschäftsgebaren der Bank etwas nicht stimmen kann. Wenn dann Ihr Haus abbrennt, können Sie nicht die Feuerwehr dafür verantwortlich machen.“

Allerdings stellen mittlerweile selbst einige Vertreter der Nationalbank die Entscheidung von 2014 infrage. Im Oktober 2016 wurde Bohdan Danilischin von Präsident Poroschenko zum Vorsitzenden des Rats der Nationalbank ernannt, eines internen Kon­trollorgans, dessen Vorsitz in den ersten beiden entscheidenden Jahren der Reform vakant geblieben war.

„Zahlreiche Banken waren nicht durch Machenschaften ihrer Eigentümer in Schwierigkeiten geraten, sondern aufgrund der enormen wirtschaftlichen Probleme, die der Krieg und die Abwertung der Hrywnja mit sich brachten“, erläutert Danilischin, ehemals auch ukrainischer Wirtschaftsminister. Man hätte ihnen besser Zeit zur Erholung lassen sollen – zumal es der Regierung offenbar nicht gelang, die nach Ankündigung der Bankenabwicklungen einsetzende Kapitalflucht aufzuhalten. „Kurz davor haben zahlreiche Bankeigentümer ihre Gelder abgezogen“, sagt Wiktor Nowikow vom ukrainischen Einlagensicherungsfonds.

Selbsthilfeverein für ruinierte Sparer

Viele unserer Gesprächspartner bezweifeln, dass die Nationalbank bei der Auswahl der zu liquidierenden Banken neutral vorgegangen ist. „Gewisse Institute, nicht viele, wurden aus politischen Gründen geschlossen. Die Nationalbank machte kein Geheimnis daraus, dass diese Banken aufgrund ihrer Nähe zum früheren Regime vom Markt genommen wurden“, schrieb Andrej Blinkow, Chefökonom bei der Nationalbank.1

Auch als 2016 die PrivatBank verstaatlicht wurde, die als größtes Fi­nanz­institut der Ukraine zu wichtig war, um liquidiert zu werden, spielten politische Motive eine Rolle. Damals lag der einflussreiche Milliardär und Pri­vat­Bank-­Eigner Igor Kolomoisky mit Poroschenko über Kreuz.

Dass der Verkauf der Vermögenswerte der liquidierten Banken ordnungsgemäß verlaufen ist, wird auch von Insidern angezweifelt. So berichtet Danilischin, der Fonds habe die Vermögenswerte einem kleinen Kreis von Finanzgesellschaften für nur 1 bis 5 Prozent ihres Nominalwerts – von vor der Krise – verkauft und sie zu einem 50 bis 80 Prozent höheren Preis weiterveräußert.“ Diese Zahlen zeigen für Danilischin, dass die Behörden die Vermögenswerte verschleudert haben. Diesen Vorwurf weist Wiktor Nowikow vom Einlagensicherungsfonds mit dem Argument zurück: „Leider haben wir die Banken in schlechter finanzieller Verfassung übernommen, zum Beispiel was die Aktiva betrifft.“

In einem lärmerfüllten Einkaufszentrum in einem Kiewer Vorort erzählt uns der 47-jährige Oleg Doroschenko mit müder Stimme seine Geschichte. Als Kunden der Finanz und Kredit haben er und seine Familie bei der Abwicklung der Bank 363 000 Euro verloren. Im September 2015 gründete der Ingenieur den Verein der Einleger ukrainischer Banken, die den geschädigten Kunden eine Stimme verleihen und Entschädigungszahlungen durchsetzen soll. Mittlerweile gehören dem Verein 140 000 Mitglieder an, darunter auch Marija Klimenkowa.

Doroschenko verbrachte seine ganze Zeit mit Gerichtsverhandlungen, Beratungen mit Vereinsmitgliedern und der Eingabe von Petitionen. Seine Bemühungen führten 2018 zu einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs: Der erklärte die Nationalbank für schuldig, die „Finanz und Kredit“ in den Konkurs getrieben zu haben. Ihr Geld erhielten die Einleger trotzdem nicht zurück. 38 Menschen, die damit alles verloren hatten, begingen Suizid.

Allerdings besteht auch die Gefahr, dass sich die ruinierten Einleger in ihrer Wut von Akteuren mit dubiosen Absichten manipulieren lassen. Auch Oleg Doroschenko gibt zu, finanzielle und logistische Unterstützung von Julia Timoschenko, der früheren Ministerpräsidentin, erhalten zu haben. Nachdem die bei den Präsidentschaftswahlen 2019 nur auf Platz drei gelandet war, nahm sie sich der Sache der geprellten Bankkunden an.

Heute fordert Timoschenko die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Auch auf Alexander Dubinsky kann der Verein von Oleg Doroschenko zählen. Der Blogger und Journalist hatte sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben, bevor er für die Partei „Diener des Volkes“ von Präsident Selenski ins Parlament einzog. Doch der medienerfahrene Kritiker der Nationalbank handelt womöglich nicht uneigennützig. Sein früherer Arbeitgeber, dem er angeblich noch immer sehr nahesteht, ist Igor Kolomoisky, der neuerdings dafür kämpft, die Kontrolle über die PrivatBank zurückzuerlangen.

Seit Mai 2020 verbietet das sogenannte Kolomoisky-Gesetz die Rückgabe verstaatlichter Banken an ihre früheren Eigentümer. Darüber hinaus macht es das Gesetz auch viel schwerer, Widerspruch gegen Entscheidungen der Nationalbank einzulegen. Angeblich soll die Institution damit vor der korruptionsanfälligen Justiz geschützt werden. Tatsächlich macht das Gesetz die Nationalbank nur noch unantastbarer – und zugleich alle Hoffnungen von Sparern zunichte, die wie Marija Klimenkowa und Oleg Doroschenko versuchen, Entschädigungszahlungen auf gerichtlichem Wege durchzusetzen.

Die Verabschiedung des Gesetzes war eine der Bedingungen für die Freigabe der ersten Tranche eines IWF-Kredits in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar (4,45 Milliarden Euro) im Juni 2020. Angesichts der Verzweiflung der geschädigten Sparer forderte der Finanzstabilitätsrat der Nationalbank im September 2020 die Verdreifachung der Garantie-Obergrenze von 200 000 auf 600 000 Hrywnja. Der IWF handelte diese Summe auf 300 000 Hrywnja (8800 Euro) herunter.2

In welchen Taschen die Vermögenswerte der liquidierten Banken gelandet sind, ist wegen der zahlreichen Fi­nanz­intermediäre schwer zu ermitteln. Klar zu erkennen ist dagegen, wozu die Säuberung des Bankensystems geführt hat: zu einer Konzentration des ganzen Sektors. Der nämlich ist inzwischen zu einem Oligopol geworden, sagt Bohdan Danilischin.

Für die Banken hat sich die Marge zwischen den Kredit- und den Einlagenzinsen erheblich vergrößert. Die lag zwischen 2012 und 2014 noch bei 4,5 Prozent im Jahr, bis 2019 stieg sie auf 6 Prozent und 2020 aufgrund der Coronakrise auf den Rekordwert von 8 Prozent. Zum Vergleich: Im Nachbarland Polen lag diese Marge 2020 bei 3,5 Prozent.3 Die Profiteure waren die öffentlichen Banken (die vier größten im Land), aber auch die ausländischen Institute, deren Zahl seit 2014 von 19 auf 22 gestiegen ist. Im selben Zeitraum ging die Gesamtzahl der Banken von 180 auf 74 zurück.

Marija Klimenkowa sitzt im kümmerlichen Licht der Küche einer Jugendherberge im Zentrum Kiews. Seit dem Verlust ihrer Ersparnisse muss sie von einer Rente von 2600 Hrywnja (rund 80 Euro) im Monat leben, klagt sie. Heute ist sie auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. „Die zweigen Geld für uns ab und machen uns Geschenke. Habe ich ein Glück, so gute Kinder zu haben“, sagt sie gerührt. Als wir uns an der Tür verabschieden, dreht sie sich noch einmal um: „Wer gibt uns unser Geld zurück? Und wer wird für den Diebstahl bestraft?“ Auf diese Frage gibt es noch immer keine Antwort.

1 In der ukrainischen Online-Wirtschaftszeitung UBR, 3. August 2020, www.ubr.ua.

2 Erklärung von Andrej Olenschik, stellvertretender Generaldirektor des ukrainischen Einlagensicherungsfonds, anlässlich eines am 27. Oktober von der Zeitung Financial Club organisierten virtuellen Runden Tischs, Kiew, 27. Oktober 2020, www.finclub.net.

3 Bohdan Danilischin, „15 Fakten über die Bankenreform“ (auf Russisch), DS News, 16. Oktober 2020, www.dsnews.ua.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Laura Diab und Guillaume Ptak sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Laura Diab und Guillaume Ptak