11.02.2021

Herkules und die Hydra des Wettbewerbs

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Herkules und die Hydra des Wettbewerbs

Paris plant die Zerschlagung des staatlichen Stromversorgers EDF

von David Garcia und Anna Debrégeas

Rinko Kawauchi, ohne Titel, aus der Serie „Cui Cui“, 2005
Herkules und die Hydra des Wettbewerbs
Der Atomkraftdeal

Hinter dem Projektnamen „Hercule“ verbirgt sich die Umstrukturierung eines der weltweit größten staatlichen Stromerzeuger, der Électricité de France (EDF). Noch sind nicht alle Details des Projekts bekannt, aber der Widerstand der EDF-Beschäftigten wächst von Tag zu Tag.

Als die Fraktionsführerin der So­zia­listen, Valérie Rabault, in der parlamentarischen Fragestunde zu Hercule am 15. Dezember 2020 vom Premierminister wissen wollte, ob die Regierung plane, die EDF zu zerschlagen, antwortete Jean Castex: „Das Unternehmen wird ein staatlicher Konzern bleiben.“ Genau das Gleiche hatte am selben Ort auch der damalige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy im April 2004 behauptet: „Ich wiederhole: EDF und GDF werden nicht privatisiert.“1

Ein Jahr später wurde der Erdgaskonzern Gaz de France (GDF) teilprivatisiert, heute hält der französische Staat nur noch 24,1 Prozent der Anteile des Nachfolgekonzerns Engie SA. Mit dem Projekt Hercule will Frankreich auch den EU-Vorgaben zur Liberalisierung des Energiemarkts nachkommen: Dieser soll stärker für private Wettbewerber geöffnet und damit die marktbeherrschende Stellung der EDF eingeschränkt werden.

Zwar wurde auch die EDF bereits 2004 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und ging 2005 an die Börse. Allerdings befinden sich 84 Prozent der Anteile in staatlicher Hand. Es fragt sich nur, wie lange noch. Unter strikter Geheimhaltung verhandeln Frankreich und die EU schon seit Frühjahr 2019 über die Umstrukturierung des Stromkonzerns. Während Präsident Emmanuel Macron zum 75. Jahrestag der Befreiung im Mai 2020 die Wiederkehr der „glücklichen Tage“ pries – eine Referenz an das Programm des Nationalen Widerstandsrats von 1944 –, berieten sich seine Unterhändler in Brüssel just über die Zerstörung einer der zentralen Errungenschaften nach der Befreiung: die Verstaatlichung der Strom- und Gasversorgung.

Auch wenn es der EDF-Chef Jean-Bernard Lévy abstreitet: In Paris und Brüssel hat man sich offenbar schon längst über die Zerschlagung des staatlichen Energieversorgers geeinigt. Im Gegenzug soll der geregelte „Zugang zur historischen Kernenergie“ (Arenh) geändert werden (siehe nebenstehenden Kasten).

Einige Hercule-Papiere wurden bereits geleakt. Demzufolge soll die EDF in drei neue Unternehmen aufgeteilt werden: EDF Bleu für Atom- und Wärmekraftwerke plus den Übertragungsnetzbetreiber RTE; EDF Azur für die Wasserkraftwerke und EDF Vert für erneuerbare Energien plus den Niederspannungsnetzbetreiber Enedis. EDF Bleu und EDF Azur sollen zu 100 Prozent öffentlich bleiben, während EDF Vert an die Börse gehen soll – zunächst mit einem Drittel der Anteile, wie damals bei GDF, bevor der Gasversorger fast gänzlich privatisiert wurde.

Weiterhin ungewiss bleibt die Zukunft der Staudämme und Wasserkraftwerke, die offenbar noch Gegenstand harter Verhandlungen zwischen Frankreich und der EU sind. Wenn sie in einem staatlichen Unternehmen wie der geplanten EDF Azur aufgehen würden, wären sie nach Auslaufen der bisherigen Konzessionen vor Konkurrenz geschützt. Die Aussicht, dass solche strategisch wichtigen Anlagen, deren Sicherheit für das Land entscheidend ist, in private Hände übergehen könnten, sorgt seit Jahren für heftigen Widerstand von Gewerkschaften und Politikern aller Parteien.2

Diese verdeckte Privatisierung wird offenbar geplant, ohne eine Bestandsaufnahme darüber zu machen, was die Öffnung des Strommarkts für Firmen und Privatkunden vor mehr als 20 Jahren eigentlich gebracht hat.3 Die versprochenen Preissenkungen kamen jedenfalls nicht zustande, im Gegenteil: Die Tarife sind zwischen 2006 und 2020 für Privatkunden um 60 Prozent gestiegen, obwohl die Inflationsrate in dieser Zeit unter 20 Prozent blieb.4

Laut Europäischer Kommission liegt das aber nur am mangelnden Wettbewerb. „In manchen Mitgliedstaaten wurde der Liberalisierungsprozess nicht vollständig umgesetzt, da die Vorherrschaft der etablierten Anbieter auf den Erzeugungsmärkten (Großproduktion und -vertrieb) und/oder den Distributionsmärkten (Versorgung, vor allem durch Aufrechterhaltung regulierter Verkaufspreise) bestehen blieb“, erwidert die Generaldirektion Kommunikation der EU-Kommission auf unsere Anfrage. Aber auch Investitionen in den Netzausbau, Betriebsverlängerungen von AKWs und der Ausbau erneuerbarer Energien führten zu Preissteigerungen.

Man spricht von einem „natürlichen Monopol“, wenn der Anteil der Fixkosten bei der Erzeugung eines Gutes sehr hoch ist, die Grenzkosten niedrig sind und das Gut durch ein einzelnes großes Unternehmen sehr viel günstiger produziert werden kann als durch mehrere Anbieter. Wenn dieser Fall eintritt, soll das Unternehmen laut Präambel der französischen Verfassung dem Volk gehören – theoretisch, denn praktisch wurde dieses Gebot häufig umgangen.

Der Verbraucherverein Consommation Logement Cadre de Vie (CLCV), der grundsätzlich nichts gegen Privatisierungen hat, geht davon aus, dass die Deregulierung des Stromsektors in Frankreich „nicht machbar“ sei. „Die Produktion von Atomstrom unterliegt nach allgemeinem Konsens einem staatlichen Monopol“, schrieb der Verein am 19. Oktober 2020 an die EU-Energiekommissarin Kadri Simson. „Und da das Stromnetz ebenfalls ein natürliches Monopol bildet, können andere Betreiber weder bei der Erzeugung noch beim Netz wettbewerbsfähig sein, sondern nur bei der Vermarktung, die lediglich einen kleinen Teil des Gesamtpreises ausmacht.“

Geheimverhandlungen mit Brüssel

Marc Boudier, Vorsitzender des Unabhängigen französischen Vereins für Strom und Gas (Afieg), eines Lobbyverbands großer Privatunternehmen wie Total Direct Énergie, Gazprom und Endesa, hält dagegen: „Auch wenn Stromübertragung und Verteilung auf lokaler oder nationaler Ebene naturgemäß monopolistisch sind, rechtfertigt das nicht die Aufrechterhaltung eines staatlichen Monopols auf das gesamte Energiegeschäft.“ In Frankreich besitzt der Netzbetreiber Enedis ein Monopol auf 95 Prozent des Staatsgebiets. Anderswo, etwa in Deutschland, gibt es hingegen eine Vielzahl von lokalen Netzbetreibern, die aber nicht miteinander konkurrieren.

Für den Aufbau von Elektrizitätsnetzen, AKWs und Kapazitäten zur Ökostromerzeugung sind jedoch Großinvestitionen erforderlich, die sich erst über mehrere Jahrzehnte amortisieren, ganz gleich, wie viel Strom damit erzeugt und übertragen wird. Es wäre also pure Verschwendung und ökologischer Unsinn, nur um der Konkurrenz willen mehr Kraftwerke oder Netzkapazitäten aufzubauen als nötig. Außerdem habe sich gezeigt, dass alternative Anbieter praktisch keine Kapazitäten zur Energieproduktion aufgebaut haben, weder im konventionellen noch im erneuerbaren Bereich, gibt CLCV-Geschäftsführer François Carlier zu bedenken.

Da sich kein Wettbewerb um Netze und Stromerzeugung etabliert hat, wichen die Marktapologeten auf den Vertrieb aus, der allerdings lediglich 4 Prozent der Gesamtkosten ausmacht.5 Die „Versorgung“ besteht dabei vor allem aus der Gewinnung neuer Kunden, der Erstellung komplexer Angebote und Werbung. Heute tummeln sich fast 50 Anbieter auf diesem Segment: Stromunternehmen aus dem Ausland, Mineralöl- und Gaskonzerne, Start-ups und große Handelsketten, die mit ihren vielfältigen Angeboten der EDF ihr angestammtes Monopol streitig machen. Der Staatskonzern verliert dadurch jeden Monat fast 100 000 Kundinnen und Kunden. Innerhalb von zwei Jahren konnte Total Direct Énergie die Zahl seiner Stromkunden um 51 Prozent steigern, die italienische ENI sogar um 156 Prozent.6

Die Preise werden dadurch aber nicht sinken. Der moderne Vertrieb verursacht nämlich vor allem zusätzliche Kosten, denn jeder Anbieter muss seine eigene Mannschaft zusammenstellen, für das Marketing, den Aufbau von Datenbanken und den Support.

Wegen der stärkeren Konkurrenz müssen die Anbieter umso aggressiver Werbung machen. Die Zahl der Rechtsstreitigkeiten wegen unlauterer Haustürgeschäfte hat in Frankreich ein Rekordhoch erreicht: 2019 waren es fast 2000 Fälle, eine Steigerung um 65 Prozent innerhalb von drei Jahren, berichtet der Ombudsmann für Energiefragen Olivier Challan Belval: „Manche Verkäufer geben sich als Enedis-Vertreter aus, andere behaupten, sie wollten die Stromrechnung kontrollieren, oder sie nutzen die Hilflosigkeit älterer Menschen aus.“

Der Ombudsmann würde das Haustürgeschäft am liebsten ganz verbieten oder zumindest stark regulieren. Laut Belval würden auch immer mehr Lieferanten beim geringsten Zahlungsverzug die Stromzufuhr kappen. 2019 waren davon 672 400 Haushalte betroffen, 100 000 mehr als im Vorjahr.

Zu Beginn der Deregulierung mussten die Lieferanten an den Strombörsen zu stark schwankenden Preisen einkaufen. Sie standen einem etablierten Versorger gegenüber, der Strom zu gleichbleibend niedrigen Kosten produzierte und auf der Basis staatlich regulierter Tarife (TRV) günstig war. In dieser Situation konnten private Anbieter kaum Marktanteile gewinnen. Die EU-Kommission half nach und forderte in einem Beschluss vom 12. Juni 2012 die Abschaffung der Tarife, um einen effektiven Wettbewerb zu ermöglichen. 2015 wurde der TRV erst für größere, 2019 auch für kleinere Unternehmen abgeschafft.

Für Privatkunden wurde auf Druck der alternativen Anbieter eine neue TRV-Berechnungsmethode eingeführt, welche die staatlichen Tarife aushöhlte. Ursprünglich sollten die staatlich regulierten Tarife die realen Kosten der Elektrizitätserzeugung in Frankreich widerspiegeln. Jetzt sollen die durchschnittlichen Beschaffungskosten eines alternativen Lieferanten als Grundlage dienen. Diese sind aber von den schwankenden Weltmarktpreisen für Kohle und Gas abhängig, die außerhalb der Kontrolle des Staats liegen.

Nach Vorgaben der französischen Energieregulierungsbehörde sollen die Tarife nach dem Kriterium der „Marktzugänglichkeit“ gestaltet sein, und die wird bestimmt durch „die Fähigkeit eines bestehenden oder neu am Stromversorgungsmarkt auftretenden EDF-Konkurrenten, zu gleichen oder niedrigeren Preisen anzubieten“.7

Aufgrund dieser Vorgabe liegen die TRV über den Angeboten der alternativen Stromanbieter. Das französische Kartellamt hatte sich gegen die neue Berechnungsgrundlage ausgesprochen, da sie „für 28 Millionen Kunden mit geregelten Tarifen ungünstig“ sei. In seiner Stellungnahme schrieb das Kartellamt: „Die Anwendung dieser Methode würde zu einer grundlegenden Änderung der staatlich regulierten Stromtarife in Frankreich führen und sie in einen ‚Höchstpreis‘ auf dem Endkundenmarkt umwandeln, das heißt einen Preis, der den Kosten der Lieferanten entspricht, die am unwirtschaftlichsten arbeiten.“8

Die alternativen Stromanbieter und ihre Förderer verweisen indes auf eine Studie des World Energy Markets Observatory, die zeigt, dass Verbraucher durch einen Anbieterwechsel ganze 44 Euro pro Jahr sparen können.9 Dies ist jedoch allein das Ergebnis der Erhöhung der TRV, um die privaten Versorger zufriedenzustellen. Die Jahresumfrage 2020 von Ombudsmann Belval erweckt zunächst den Eindruck, dass der Wettbewerb auf dem Strommarkt mehrheitlich befürwortet wird: 73 Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass die Öffnung des Markts „eine gute Sache“ sei.10 Allerdings glaubten nur 14 Prozent, dass die Privatisierung die Dienstleistungen verbessert habe, und sogar nur 31 Prozent, dass die Preise gesunken seien.

„Der Preis ist nicht der einzige Faktor, der für den Kunden zählt. Er wünscht sich auch einen umfassenden, guten Service“, meint Lobbyist Boudier. Der Verband der großen industriellen Energieverbraucher (Uniden) ist angesichts der bisherigen Ergebnisse indes nur mäßig begeistert. Die Öffnung für den Wettbewerb begünstige kurzfristige wirtschaftliche und finanzielle Entscheidungen, kritisiert der Uniden-Vorsitzende Nicolas de Warren. „Sie laufen der Stabilität und Verlässlichkeit zuwider, die für Industrieproduzenten oder Großverbraucher unabdingbar sind.“

Die Stabilität des Preises ist sowohl für private Haushalte als auch für die Industrie ein wichtiger Faktor. Trotz aller Erhöhungen beziehen weiterhin 70 Prozent der Endverbraucher ihren Strom zu den geregelten Tarifen. Weil diese vom Staat überwacht werden, bleiben sie im Verhältnis zu den Marktpreisen relativ stabil. Ihre Abschaffung würde die Kundinnen und Kunden im Dschungel der undurchsichtigen Angebote und Haustürgeschäfte im Stich lassen. Es wäre auch das Ende der Gleichbehandlung aller Verbraucher.

Eine komplette Privatisierung der EDF könnte zudem die Stabilität der Stromversorgung gefährden. Der Netzbetreiber muss dafür sorgen, dass zu jedem Zeitpunkt ein perfektes Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Produktion herrscht, damit es nicht zu Unterbrechungen oder gar Blackouts kommt wie Anfang der nuller Jahre in Kalifornien, als hunderttausenden Haushalten der Strom abgeschaltet werden musste – auch dies eine Folge der Marktliberalisierung.

Da es kaum Möglichkeiten gibt, Elektrizität zu speichern, und man für zahlreiche, vor allem meteorologische Unwägbarkeiten vorsorgen muss, ist die Aufgabe sehr komplex. Die wachsende Zahl von Akteuren – Erzeugern wie Lieferanten –, die sich über den Markt abstimmen müssen, bringt nicht nur neue Kostensteigerungen mit sich: Sie schwächt auch das Gleichgewicht bei der Kraftwerksauslastung.

In einem Bericht vom November 2019 wies der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) unmissverständlich darauf hin, dass der Markt für die wachsenden Netzschwankungen verantwortlich sei, die im Januar und September 2019 in Frankreich bereits zu zwei Stromausfällen geführt haben.11

Kommunalpolitiker fürchten, dass sich die EDF-Privatisierung auch auf die Versorgung ländlicher Regionen auswirken wird. Derzeit gehört der äußerst rentable Verteilungsnetzbetreiber Enedis noch zu 100 Prozent zur EDF und garantiert die Versorgung des gesamten Staatsgebiets zum gleichen Preis. Zukünftig soll Enedis jedoch EDF Vert gehören, der „grünen Sparte“, und an die Börse gehen. Verlustreichen Investitionen in ländlichen Gegenden würden Privataktionäre in Zukunft vielleicht nicht mehr zustimmen.

Stromversorgung in Gefahr

Parallel zum Hercule-Projekt zieht sich der Staat auch beim Ausbau von Sonnen- und Windkraft zurück. Dabei wären gerade in diesem Bereich große öffentliche Investitionen nötig. Zumal die Allgemeinheit die erneuerbaren Energien mit garantierten Einspeisevergütungen unterstützt: Die meist privaten Investoren bauen die Anlagen auf und erhalten im Gegenzug eine feste Vergütung für deren gesamte geschätzte Lebensdauer. Der Effekt ist ähnlich wie bei den privatisierten Auto­bah­nen Die von den Investoren verlangte Vergütung hat höhere Kosten für den Verbraucher zur Folge.

Da es sich um langfristige In­vesti­tio­nen handelt, sind die Kredit­kon­di­tio­nen entscheidend. In dieser Hinsicht verfügen die staatlichen Monopolisten über unschlagbare Bedingungen, wie die Energieexperten François Dauphin und Basile Bouquet anlässlich der geplanten Erweiterung des britischen AKWs Hinkley Point schreiben: „In einer Studie von 2017 schätzte der englische Rechnungshof die Gesamtkosten auf 100 Euro/MWh bei einem Zinssatz von 9 Prozent (dem Mindestsatz für ein börsennotiertes Unternehmen) und auf nur 30 Euro/MWh im Falle von Zinskosten in Höhe von 2 Prozent. Das ist der Prozentsatz, zu dem sich der französische Staat auf den Kreditmärkten derzeit Geld für eine auf 50 Jahre angelegte Investition leihen könnte.“12

Angesichts der fortschreitenden Erd­erwärmung muss Frankreich auf die Nutzung fossiler Energieträger letztlich ganz verzichten und diese durch Strom aus erneuerbaren Quellen ersetzt. Auch der AKW-Park soll nach und nach verkleinert werden und irgendwann verschwinden.

Die Strombranche wird in den nächsten Jahrzehnten also einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen, der massive Investitionen erfordert. Diese Energiewende wird jedoch durch die Priorisierung privater Anbieter ausgebremst, kritisiert das Französische Ins­ti­tut für internationale Beziehungen (­Ifri): „Die Politik der Europäischen Union setzt auf die Zerschlagung staatlicher Konzerne, um den Wettbewerb zu stärken und die Märkte zu öffnen, was aber zulasten der angestrebten Führungsposition im Technologiebereich geht.“13

In Frankreich wurde das Staatsmonopol auf Elektrizität durch 20 Jahre Deregulierung immer weiter geschwächt. „In der heutigen Situation sind wir zum ersten Mal in unserer Geschichte nicht mehr Vorreiter auf diesen Gebieten, ja wir können noch nicht einmal mehr unsere traditionellen Geschäftsbereiche wie Atomkraft, Wasserkraft oder die Stromnetze ausbauen“, heißt es in einem internen EDF-Memo vom Dezember 2020.14

„Die Zukunft der Stromversorgung – und damit der EDF – hängt in erster Linie von der Rückkehr zu einer Wirtschaftspolitik ab, die sich an der öffentlichen Daseinsvorsorge orientiert“, schreiben die Gewerkschaften der Energiebranche in einem Brief vom 7. Januar 2021, in dem sie Präsident Macron dazu auffordern, Hercule zu stoppen: „Eine Zukunft für die EDF bedeutet auch, dass im kommenden Jahrzehnt massiv investiert wird, um die Sicherheit der Stromversorgung des Landes zu garantieren.“

Kann der Widerstand gegen Her­cule, der sich auf eine starke Mobilisierung aller Gewerkschaften stützt, die Regierung zum Einlenken bewegen? Am 15. Dezember kündigte die sozialistische Fraktion einen Vorschlag für ein vom Parlament initiiertes Referendum an. Es müsste von der gesamten Linken und einem Teil der konservativen Abgeordneten unterstützt werden.

Kürzlich hatte eine ähnliche, parteiübergreifende Initiative gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen trotz zahlreicher praktischer Hürden über 1 Million Unterschriften sammeln können. Obwohl für eine solche Volksabstimmung 4,7 Millionen Unterschriften nötig gewesen wären, führte der breite Protest dazu, dass Macron die Privatisierungspläne aufgab, die sich durch den Einbruch des Flugverkehrs infolge der Coronapandemie sowieso erledigt hatten.15

Nach der Bürgerbefragung, dem Grand Débat National, die zwischen Januar und März 2019 in Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste stattfand, hatte sich der Präsident dazu verpflichtet, die Schwelle zur Durchführung eines solchen Referendums künftig auf 1 Million Unterschriften zu senken. Dieses Reformversprechen wurde zwar noch nicht umgesetzt, doch daran könnte die Opposition bei der geplanten Volksabstimmung über Hercule anknüpfen. Im besten Fall entsteht daraus eine öffentliche Debatte über die Rolle, die ein staatlicher Energieversorger im Klimanotstand spielen sollte.

1 „Quand Sarkozy promettait de ne pas privatiser GDF“, L’Obs, Paris, 3. Oktober 2006.

2 Siehe David Garcia, „Wasserkraft voraus!“, LMd, Juni 2019.

3 Vgl. „Hercule, un pas de plus dans l’impasse des marchés de l’électricité“, Verbund Sud-Énergie, Dezember 2020.

4 „Les dépenses des Français en électricité depuis 1960“, Insee Première, Nr. 1746, Französisches Institut für Statistik und Wirtschaftsforschung (Insee), Paris, April 2019; „Prix de l’électricité en France et dans l’Union européenne en 2019“, Datalab, Ministerium für die ökologische Wende, Paris, Juni 2020.

5 RTE, Arbeitsgruppe „Kostenabschätzung“, im Rahmen der wirtschaftlichen Evaluation langfristiger Szenarien, Februar 2020.

6 „Le fonctionnement des marchés de détail français de l’électricité et du gaz naturel. Rapport 2018–2019“, Französische Energieregulierungsbehörde (CRE), Paris, 23. November 2020.

7 Französische Energieregulierungsbehörde (CRE), Beschluss vom 25. Juni 2019.

8 „Avis 19-A-07 du 25 mars 2019 relatif à la fixation des tarifs réglementés de vente d’électricité“, Kartellamt (Autorité de la concurrence), Paris, 25. März 2019.

9 „22nd Edition World Energy Markets Observatory“, Capgemini, November 2020.

10 Vom 2. bis 16. September 2020 haben 1998 französische Haushalte an der Onlinebefragung teilgenommen.

11 „Report on deterministic frequency deviations“, ­ENTSO-­E, 4. November 2019.

12 Basile Bouquet und François Dauphin, „Nucléaire et libéralisation: une équation insoluble?„, Les Échos, 24. Juli 2019.

13 Marc-Antoine Eyl-Mazzega und Carole Mathieu, „La dimension stratégique de la transition énergétique“, Études de l’IFRI, Paris, April 2019; Basile Bouquet und François Dauphin, „Nucléaire et libéralisation: une équation insoluble?“, Les Échos, 24. Juli 2019.

14 „Neuf questions sur le projet Hercule“, Interne Mitteilung, EDF, Paris, Dezember 2020.

15 Siehe Philippe Descamps, „Luftfahrt in Turbulenzen“, LMd, Juli 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Anne Debrégeas ist Forschungsingenieurin beim staatlichen Stromversorger Électricité de France und Sprecherin des Verbunds Sud-Énergie. David Garcia ist Journalist.

Der Atomkraftdeal

Der wichtigste Grund, den die französische Regierung zur Rechtfertigung ihres Hercule-Projekts anführt, ist der umstrittene „Zugang zur historischen Kernenergie“ (Arenh) für alternative Stromanbieter. Dieser sogenannte Arenh-Mechanismus, der am 1. Juli 2011 eingeführt wurde und 2025 auslaufen soll, verpflichtet den Staatskonzern Électricité de France (EDF) dazu, etwa ein Viertel seiner Atomstromproduktion der privaten Konkurrenz zu überlassen – zum festgesetzten Preis von 42 Euro pro Megawattstunde oder zum Großhandelspreis, wenn dieser für die privaten Anbieter günstiger ist.

Die Erfinder von Arenh geben zu, man habe nicht daran gedacht, dass der Großhandelspreis dauerhaft unter 42 Euro sinken könnte. Genau das geschah jedoch mehrfach 2016 und 2017 sowie über einen Zeitraum von neun Monaten im vergangenen Jahr.

So führte der Arenh-Mechanismus dazu, dass der französische Staatskonzern gezwungen war, Verluste zu machen, und heute akute Finanzprobleme hat. Wenn der Marktpreis wieder über 42 Euro steigt, hat EDF nämlich nichts davon. Henri Proglio, der EDF-Chef zur Zeit der Arenh-Einführung, vergleicht den Mechanismus mit „einem Roulettetisch, wo EDF die Bank hält und alle Gewinne auszahlt, aber die Einsätze der Verlierer niemals einkassiert“.

Zudem wurde der Arenh-Preis seit 2012 nicht mehr neu geschätzt, so dass weder die Inflation noch die erhöhten Kosten für den Weiterbetrieb der AKWs einberechnet sind, obwohl im Energiegesetz eigentlich eine jährliche Anpassung vorgesehen war.

„Diese vollkommen unlogische und komplizierte Mechanismus hat in den letzten 15 Jahren nicht dazu geführt, dass echte alternative Anbieter aufgetaucht sind, sondern nur Wiederverkäufer, die sich bei der EDF bedient haben, wenn die Großhandelspreise hoch waren“, beschwerte sich Julien Aubert, Abgeordneter der rechtsliberalen Partei Les Républicains, im vergangenen Dezember in einem Aufruf, der von 32 konser­vativen Abgeordneten unterzeichnet wurde.

Die französische Linke sieht das ähnlich. Und auch der französische Rechnungshof kritisierte schon 2017 den Status quo. Alle sind sich also einig, dass Arenh reformiert werden muss.

Die Hercule-Reformer schlagen daher einen erhöhten Festpreis vor, der aber im Gegensatz zu früher von der Preisentwicklung auf den Strommärkten ­komplett entkoppelt werden soll. Weil die Atomkraftwerke damit eine ­„Dienst­leistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (Dawi) zur ­Verfügung stellen würden, stünde deren Bewirtschaftung durch einen staatlichen Monopolisten wie EDF Bleu nichts mehr im Weg. Die Verstaatlichung des AKW-Parks würde auch den Zugang zu ­günstigen öffentlichen Krediten erleichtern.

Nun macht Brüssel diesem Plan aber einen Strich durch die Rechnung. Unter dem Vorwand, Quersubventionierung zu verhindern, soll das staatliche Atommonopol von den anderen Geschäftsbereichen der EDF getrennt werden. Beim Betreiber der Hochspannungsleitungen RTE (Réseau de transport et de distribution d’électricité) und dem Netzbetreiber Enedis ist das schon geschehen. So wird ein öffentliches Unternehmen in drei Sparten zerschlagen und werden essenzielle Bereiche wie das Stromnetz und die Versorgung durch erneuerbare Energien privatisiert.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von David Garcia und Anna Debrégeas