11.02.2021

Milchbauern in Not

zurück

Milchbauern in Not

In Frankreich nimmt sich im Schnitt jeden Tag ein Landwirt das Leben. Seit dem Ende der EU-weiten Milchquote vor fast sechs Jahren bestimmen wenige Molkereikonzerne die Preise und treiben damit viele Bauern in die Verschuldung.

von Maëlle Mariette

Glückliche Kuh in Charroux JULIEN POUPART/picture alliance/abaca
Audio: Artikel vorlesen lassen

Diese Kühe werden niemals über eine Weide laufen. Während über ihren Köpfen die Ventilatoren leise rotieren, umkreisen sie in einem 5000 Qua­drat­me­ter großen Stall zu Hunderten vier riesige begehbare rote Melkroboter. Angelockt von dem Kraftfutter, das in kleinen Waggons auf Schienen angeliefert wird, können sie sich jederzeit melken lassen. Sobald eine Kuh den Roboter betreten hat, schließt sich ein Tor und ein voll automatisierter Prozess läuft ab: Zuerst wird die Kuh an ihrem elektronischen Halsband identifiziert. Dann sucht der Roboter mit einer 3-D-Kamera ihr Euter, das mit rotierenden Bürsten gereinigt und anschließend mit einem 3-D-Laser abgetastet wird, um die Position der Zitzen millimetergenau zu bestimmen. Schließlich setzt die Maschine die Melkbecher an, und das Melken kann beginnen.

Im September 2020 veranstaltete der Milchbetrieb Moulins de Kerollet im südbretonischen Arzal einen Tag der offenen Tür. Der Milchbauer Erwan Garrec kam extra von weit her, um sich den neuesten Melkroboter des Marktführers Lely anzusehen. Der „vorbildliche Mitarbeiter“ sei täglich 24 Stunden im Einsatz und steigere die Produktion um 10 bis 15 Prozent, verspricht die Werbebroschüre des Unternehmens. Und der Verkäufer im Stall sagt: „Sie werden von der Mühe des Melkens befreit. Bei der kleinsten Panne werden Sie sofort auf Ihrem Smartphone alarmiert.“ Garrec hat zwar kein Smartphone, aber er träumt von der Freiheit, die ihm das System verschaffen könnte. In seinem Ein-Mann-Betrieb mit rund hundert Milchkühen arbeitet er an 365 Tagen im Jahr täglich 15 Stunden. Doch die Freiheit hat ihren Preis: 150 000 Euro plus 12 000 Euro pro Jahr für die Wartung des Melkroboters. Hinzu kommen noch die Kosten für den Umbau seiner Stallungen. Und nach zehn Jahren muss die Anlage ausgewechselt werden. Da ein Melkroboter mit rund 60 Kühen ausgelastet ist, bräuchte Garrec zwei davon. Der Verkäufer beruhigt ihn: „Wegen eines Kredits finden wir schon eine Lösung. Die landwirtschaftliche Genossenschaftsbank rät ihren Kunden doch zu modernisieren. Wir stehen mit denen in engem Kontakt.“

Kredite hat Garrec schon mehrfach aufgenommen, das erste Mal für den Ausbau seines Betriebs. Um überleben zu können, musste er die Anzahl seiner Kühe verdoppeln, einen größeren Melkstand anschaffen und ein zweites Silo für das Futtergetreide. Der Mais stammt von seinen eigenen Feldern. Für die inzwischen doppelt so große Anbaufläche musste er sich neue Traktoren anschaffen. Heute produziert Garrec mit seinen hundert Kühen jährlich 1 Million Liter Milch, das Dreifache eines durchschnittlichen französischen Milchbauern.

Doch es ist ein täglicher Wettlauf gegen die Zeit. Jeden Morgen überquert Garrec im Laufschritt die 100 Meter Weide zwischen seinem Haus und dem Kuhstall. Im Overall, mit dem Eimer in der Hand, hetzt er durch das 2000 Qua­drat­meter große Gebäude, in dem es stark nach Maissilage riecht. Mit seinen exakten, immer gleichen Bewegungen spart er wertvolle Sekunden. Er schaut kurz auf die Uhr: „Alles klar, wir liegen im Plan!“

Die Kühe leisten viel mehr mit dem Kraftfutter aus Mais, erklärt er. Außerdem wäre es viel zu zeitaufwendig, alle auf die Weide zu führen. Aber das Futter ist teuer, es ist sogar sein größter Ausgabenposten: das Saatgut, der Dünger, die Pestizide, die Bewässerungsanlage und die Arbeit, die er aus Zeitgründen outgesourct hat.

Weil die Maissilage allein zu wenig Eiweiß enthält, müssen dem Futter genmanipuliertes Soja aus Südamerika sowie Mineralien und Spurenelemente beigemischt werden. Garrecs Kühe sind Prim’Holsteins, eine in Frankreich aus den Holstein-Rindern weitergezüchtete Rasse, die zwar als die produktivsten der Welt gelten, aber anscheinend auch ziemlich krankheitsanfällig sind. Garrec klagt jedenfalls über hohe Tierarztkosten. Mit Unterstützung einer Genossenschaft für Besamung und Tiergenetik konnte er dafür die Produktivität seiner Herde verbessern. Die Körper und Euter der neuen Kühe passen besser zu der Melkmaschine. Gleichwohl schickt er jedes Jahr ein Drittel seiner Tiere wegen ungeeigneter Euter zum Schlachthof. Dieser Anteil würde mit dem Melkroboter Lely Astronaut auf 50 Prozent steigen.

Zuchtkühe mit maschinengerechten Eutern

„Der Job ist zwar genauso monoton wie in einer Fabrik, aber wenigstens bin ich mein eigener Herr. Wir Bauern gehen Risiken ein, wir investieren und sorgen direkt oder indirekt für den Lebensunterhalt vieler Menschen“, meint Garrec, während er eine Kuh nach der anderen an die Melkmaschinen anschließt. Der größte Profiteur seiner Arbeit ist allerdings Lactalis, der interna­tio­nale Marktführer bei Milchprodukten, der seit den 1980er Jahren weltweit Molkereien aufkauft.

Garrec weiß noch nicht, was er in diesem Monat von Lactalis für seine Milch bekommen wird. In dieser Branche wird lediglich die Liefermenge vertraglich festgelegt, den Preis bestimmt jedoch der Abnehmer. So wird dem Erzeuger jeden Monat ein anderes Entgelt gezahlt.

Es ist ein Uhr nachts, als Garrec endlich Feierabend machen kann. Nach dem abendlichen Melken schaltet er die Beleuchtung im Stall aus und geht im Dunkeln im Lichtschein seines Handys über die Weide zurück ins Haus, in der Hand zwei Flaschen mit noch warmer Milch. Vor dem Schlafengehen macht er sich noch schnell einen mit heißer Schokolade angerührten Grießbrei. In ein paar Stunden fängt alles wieder von vorne an.

Wie die meisten Milchbauern in seiner Gegend weiß Garrec nicht, was aus den Früchten seiner Arbeit wird: „Vielleicht Mozzarella oder Milchpulver?“ Es kommt jedoch kein kritisches Wort über irgendwelche Produkte und schon gar nicht über das Unternehmen selbst – auch wenn es den Milchbauern Bedingungen aufzwingt, die ihnen kaum das Überleben ermöglichen. Der Landwirt Bernard Le Bihan, der kurz vor dem Rentenalter steht, erzählt, dass in dem Vertrag zwischen den Erzeugern und Lactalis eine Klausel steht, die eine Imageschädigung des Unternehmens oder seiner Produkte verbietet. Niemand kann es sich leisten, mit einem Unternehmen zu brechen, das jährlich allein in Frankreich aus mehr als 5 Milliarden Litern Milch (hauptsächlich Kuh-, aber auch Schafsmilch) Produkte herstellt, die die Supermarktregale überschwemmen: vom Camembert „Président“ über den Roquefort „Société“ bis hin zu Galbanis Mozzarella und dem Pseudo-Schafskäse von Salakis.

„Sie machen Gewinn, und ihre Produkte sind gefragt“, lobt Garrec seine Vertragspartner. „Sie sind innovativ und zukunftsorientiert und entwickeln sich ständig weiter. Auch dieses Jahr haben sie wieder mehrere Molkereien dazugekauft.“ Die Fachleute von Lactalis, die in regelmäßigen Abständen Garrecs Hof kontrollieren, sehen das ähnlich. Sie sollen „ein Auge auf die Produzenten haben“, erklärt der Molkereifachmann Nicolas Huet: „Wenn der Stall zum Beispiel sehr schmutzig ist, fordern wir sie auf, ein bisschen sauberzumachen, denn als Weltmarktführer haben wir ein Image zu verteidigen.“ Und wenn es Probleme mit der Milchqualität gibt, wird den Bauern empfohlen, einen Milchkontrolleur zu engagieren, sonst könne es nämlich passieren, dass der Konzern ihnen die Milch nicht mehr abnimmt. Für diese Leistung stellen Agrarberater rund 12 000 Euro pro Jahr in Rechnung.

Diese Berater sind nicht die einzigen Dienstleister, die ständig um die Landwirte herumwuseln. „Wenn wir zu den Bauern gehen, sollen wir auch Produkte verkaufen: einen Wassertank, damit die Kühe mehr trinken, Euterhygieneprodukte, Konservierungsmittel für die Silage und so weiter“, erzählt Huet. „Das ist natürlich auch heikel, weil wir den Erzeugern nicht sehr viel für ihre Milch zahlen. Wenn wir ihnen dann noch etwas verkaufen wollen, kommt das oft nicht so gut an. Ich weiß, wie das ist, weil meine Eltern auch Milchbauern sind; mir ist das manchmal unangenehm. Aber um bei Lactalis zu punkten, muss man verkaufen. Und wir haben den großen Vorteil, dass wir als Vertragspartner wissen, was auf den Höfen gebraucht wird und was man noch verbessern kann.“

Durch die regelmäßigen Besuche entsteht oft eine persönlichere Beziehung: „Wir gehören zu den Leuten, die sie am häufigsten sehen. Da unterhält man sich dann auch über Dinge, die einen belasten. Ich bin schon mal in einen Stall gekommen und hab die Leute weinen sehen.“ Natürlich weiß auch Garrec, dass es bei den vielen „tollen Supermitteln, von denen eines revolutionärer ist das andere“, vor allem darum geht, „einem so viel Zeug wie möglich anzudrehen“. Lactalis hat aber einen gewissen Heimvorteil. Der Konzern verkauft diese Produkte auch an hochverschuldete Landwirte, weil er den Kaufpreis direkt vom Milchgeld abziehen kann. So bekommt er also garantiert sein Geld, im Gegensatz zu den anderen Lieferanten, die davor zurückschrecken, einem mit Schulden belasteten Bauern etwas zu verkaufen.

Weil viele Landwirte bei ihrem Molkereikonzern in der Kreide stehen, können sie nicht zu einem anderen Abnehmer wechseln. Den größten Teil der Schulden nehmen Viehzüchter jedoch bei Banken auf. Die haben die Schleusen für Kredite geöffnet und finanzieren die Investitionen, zu denen die Landwirte von allen Seiten genötigt werden. Landmaschinenhändler werben schon weniger für ihre Maschinen als vielmehr für die von den Beratern angepriesenen Steuerermäßigungen bei Investitionen. „Sie sagten mir: ‚Du musst investieren, damit dein Hof nicht an Wert verliert und damit du weniger Abgaben und Steuern zahlst‘ “, erzählt ein Landwirt.

Das Problem dabei ist aber, dass die Betriebe auf diese Weise in die roten Zahlen rutschen und sich Zinsen und Gebühren anhäufen. Patrick Danzé, pensionierter Dozent einer bretonischen Landwirtschaftsschule, erklärt: „Am Ende arbeitet man nur noch für die Banken. Hier in der Bretagne beläuft sich die durchschnittliche Verschuldung der Milchviehbetriebe bei Banken und Lieferanten auf rund 70 Prozent des Anlagevermögens. Das macht sie extrem verwundbar. Bei der ersten Gesundheits-, Klima- oder Wirtschaftskrise gerät alles ins Wanken.“

Ein weiterer Grund für die Schuldenkrise ist der Milchpreis. Er hat sich seit 30 Jahren nicht verändert und ist sogar gesunken, während alles andere teurer geworden ist: Futtermittel, Maschinen, diverse Gebühren, die Sozialversicherung und die Anpassung an neue Standards. In Frankreich lebt mehr als ein Viertel der Bauern unterhalb der Armutsgrenze, mit einem Einkommen, das oft noch unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Sie sind die am stärksten von Armut betroffene Berufsgruppe. 2017 meldeten fast 20 Prozent der Landwirte ein Betriebseinkommen von null oder ein Defizit.1

Emmanuel Besnier, Enkel des Firmengründers André, Hauptaktionär und Boss von Lactalis, besuchte im Juni 2020 in Saint-Faron eine der kleinsten Molkereien seines Imperiums. Hier werden der Brie de Meaux und der Brie de Melun noch „nach historischen Rezepten geschöpft“. Dort verkündete er auch, dass Lactalis bereits 2019 einen Umsatz von 20 Milliarden Euro gehabt habe, „ein Jahr vor dem selbst gesteckten Ziel“. In jenem „historischen“ Jahr erzielte Lactalis die bislang höchste Wachstumsrate, was vor allem mit neun Firmenübernahmen zusammenhing.

Auf der anschließenden Pressekonferenz in Saint-Faron kündigte Besnier aber auch eine weitere Milchpreissenkung an, um in Zeiten der Coronapandemie „den Herausforderungen zu begegnen, die sich im Milchsektor abzeichnen“.2 „Die Unternehmen senken den Preis um die Wette“, sagt der Landwirt Le Bihan. „Sie drücken die Preise, um höhere Gewinne zu erzielen und wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Ob Lactalis oder So­diaal, die fünftgrößte Molkereigenossenschaft der Welt – „es ist bei allen das Gleiche“.

Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden die Preise über Milchquoten reguliert. Das System war 1984 als Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union eingeführt worden. Jedem Agrarbetrieb wurde ein Produktionskontingent zugeteilt, bei dessen Überschreitung finanzielle Sanktionen drohten. Durch die Mengenbegrenzung garantierte das System den Landwirten relativ hohe Preise. Zugleich sollten damit die Überschüsse der Massenproduktion eingedämmt werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg politisch gefördert worden war, um Europas Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern. 2015 beschloss die EU, diese Marktregulierung abzuschaffen, mit der Begründung, sie sei zu schwerfällig und kostspielig. Dieser Rückzug des Staats entsprach der nun vorherrschenden marktliberalen Ideologie.

Die Landwirte standen vor einer neuen Si­tua­tion mit ungeschützten Märkten, schwankenden Preisen und zunehmender Abhängigkeit von immer weniger Molkereikonzernen. Von den 20 Weltmarktführern der Branche sind allein fünf französisch: Lactalis, Danone, Savencia, Bel und So­diaal. Die Molkereibranche ist die größte lebensmittelverarbeitende Industrie Frankreichs, mit einem Marktvolumen von jährlich 29 Mil­liar­den Euro.

Als Hauptabnehmer können die Konzerne den 80 000 Milchbauern in Frankreich ihre Regeln aufzwingen. Das unterste und schwächste Glied in der Kette hat keine andere Wahl, als die Bedingungen der Molkereiunternehmen zu akzeptieren. „Ich bin bei Sodiaal und mein Nachbar bei Lactalis, aber unsere Milch wird von demselben Tankwagen abgeholt“, erzählt Michel Corlay. „Sie regeln das unter sich. Also ein Wettbewerb ist das nicht. Auch ihre Preise sind auf den Cent genau die gleichen.“ Trotzdem sollte man sich unbedingt davor hüten, die Molkerei zu wechseln, warnt Corlay: „Das ist total gefährlich, denn keine andere würde dich dann mehr aufnehmen.“ Die Konzerne ziehen da an einem Strang, um sich einen kostspieligen Konkurrenzkampf zu ersparen. So sind Garrec und Mahé wie schon ihre Väter „bei Lactalis“ und Corlay und Éric Jégo „bei Sodiaal“, ebenfalls wie ihre Väter. „Wenn man einen Hof übernimmt, übernimmt man auch die Quoten und die Molkerei“, erklärt Mahé.

Als die Abschaffung der Milchquoten angekündigt wurde, sei den Bauern gesagt worden, dass das doch eine Chance für sie sei. Die globale Nachfrage würde steigen und der Weltmarkt uns zu Füßen liegen, erzählt Corlay. Im damaligen Überschwang entschieden sich viele Milchbauern für dieselbe Strategie: In Erwartung steigender Preise steigerten sie die Produktion und investierten in eine bessere Ausstattung. Wie viele andere auch haben Ronan Mahé und seine Frau Sylvie ihren Hof ausgebaut. Das Ende der Milchquote führte zu einer explosionsartigen Ausweitung der Produktion, was – kombiniert mit Schwankungen der globalen Nachfrage – einen Preissturz zur Folge hatte.

Damals gründeten die Landwirte, die an dieselbe Molkerei liefern, Erzeugergemeinschaften. Die handeln zum Beispiel für die Bauern die Verträge aus. Als Leiter einer der 20 Vereine, die mit Lactalis verhandeln, erklärt Le Bihan, dass das gar nicht so einfach sei mit einem multinationalen Unternehmen: „Das Kräfteverhältnis ist viel zu unausgewogen.“ Alle zwei Monate verlässt er seinen Familienbetrieb mit 150 Milchkühen, um mit den Lactalis-Managern zu verhandeln: „Unterhändler ist ein richtiger Beruf. Man muss die Sollbruchstellen kennen, die Grenzen, die man nicht überschreiten kann, die Schläge, die man einstecken muss. Ein paar von uns haben dafür extra eine Schulung in Paris gemacht. In zehn Jahren haben wir viel gelernt und sind in einigen kleinen Punkten weitergekommen. Aber bei den Milchpreisen haben wir nichts erreicht.“

Die Viehhalter kämpfen vor allem darum, „die Produktionskosten in die Berechnung des Milchpreises einzubeziehen, denn unsere Kosten steigen ständig“, sagt Le Bihan. „Ein paar Jahre lang konnten wir das durch die Steigerung der Produktion und durch die Automatisierung ein Stück weit ausgleichen, aber das hat seine Grenzen. Mit technologischen Lösungen lässt sich die Produktionsmenge pro Person erhöhen, aber der Tag hat immer noch nur 24 Stunden. Die körperliche und geistige Hochleistung, um für diesen Preis produzieren zu können, zehrt an den Kräften … irgendwann kommt der Punkt, an dem es nicht mehr geht.“ Die Molkereien müssten sich daher „Sorgen machen, dass ihnen die Milch ausgeht. Wenn viele Leute wegen mangelnder Rentabilität den Laden dichtmachen müssen, dann hat das auch für die Konzerne Konsequenzen.“

Deshalb sollen die überlebenden Betriebe dazu gebracht werden, ihre Produktion weiter zu erhöhen. Fabien Choiseau, Leiter der Milchbeschaffung bei Lactalis und zuständig für die Verhandlungen mit den Erzeugern, erklärt das so: „Da es eine ständige Umstrukturierung gibt, bei der zahlreiche Produzenten aufhören, ist es unser Ziel, den Strukturwandel zu begleiten und den Produzenten feste Liefermengen anzubieten, um die Versorgung von Lactalis zu gewährleisten. Wir unterstützen sie bei ihrer Entwicklung. Wir sind für die Produzenten da.“ Garrec sieht die Sache naturgemäß ganz anders: „Sie erhöhen nie den Milchpreis, aber um sich nicht allzu unbeliebt zu machen und die Leute ruhigzustellen, erhöhen sie die Abnahmemengen. Und dann müssen wir jedes Jahr ein bisschen mehr produzieren, bloß um das Gleiche zu verdienen, weil gleichzeitig die Kosten steigen. Wir brauchen immer größere Kontingente, und sie nutzen das aus.“

Wenn es um die Interessen der Milchbauern geht, sei es besser, sich auf die Erzeugergemeinschaften zu verlassen als auf die Gewerkschaften, meint Garrec: „Ich hänge mich da nicht zu sehr rein, man hat sonst schnell einen schlechten Ruf weg und wird sogar bestraft.“ Und Le Bihan fügt hinzu: „Solange wir verhandeln, gehen wir nicht auf die Straße.“ Seit der Gründung der Erzeugergemeinschaften gibt es tatsächlich deutlich weniger Demos. Lactalis weiß das zu schätzen, agiert aber trotzdem weiter nach dem Muster „Teile und herrsche“, indem „er mal den einen, mal den anderen etwas gibt“.

Dass die Forderung der Landwirte nach einer Milchpreiserhöhung erfolglos bleibt, liegt vielleicht auch daran, dass der Nationale Bauernverband (FNSEA) mehrheitlich nichts zu beanstanden hat: „Meiner Meinung nach müssen wir aufhören, von einem Milchpreis von 400 Euro pro 1000 Liter zu fantasieren. Wir sind Teil einer globalen Wirtschaft und können diese Realität nicht einfach ignorieren“, sagt Bruno Calle, FNSEA-Vorstand und Betriebsleiter von Moulins de Kerollet.

Nicht jeder sei ein geborener Unternehmer, stellt Calle fest: „Irgendwann muss man sich das eingestehen, auf den Rat des Buchhalters oder der Bank hören und aufhören zu jammern. So wie unser Buchhalter mir das erzählt, dass ein Bauer einschläft, während er ihm Jahresbilanz macht, oder einfach sagt, ‚du hast eine Stunde, keine Minute mehr, dann muss ich wieder an die Arbeit‘ – so geht es jedenfalls nicht.“ Man müsse sich auch „die richtigen Fragen stellen, zum Beispiel: ‚Wie kann ich mein Geschäft diversifizieren?‘ Handeln statt immer nur jammern. In unserem Metier muss man Entscheidungsträger sein. Man muss sich nur trauen.“

Mitte September 2020, als Besnier im Urlaub auf der Île de Ré mit Frau und drei Kindern seinen Geburtstag und die Gewinne von Lactalis als „beinahe perfektes Beispiel für die Erfolge des französischen Familienkapitalismus“3 feierte, saß Garrec in seinem kahlen Wohnzimmer und erzählte von seinem Traum. Er möchte auch eine Familie gründen. „Als Junggeselle mit 43 Jahren sollte man da wohl besser nicht länger warten“, sagte er mit einem sorgenvollen Seufzer. Aber dann müsste er auch Zeit für seine Familie haben, was wiederum bedeuten würde, „entweder einen Angestellten einzustellen oder einen Roboter anzuschaffen“ wie den Lely Astronaut, dessen Vorführung er sich ein paar Tage zuvor genau angesehen hatte. In jedem Fall würde das bedeuten, „mehr zu produzieren, um die höheren Ausgaben zu decken“. Der höllische Wettlauf gegen die Zeit ginge also weiter.

1 „Les revenus d’activité des non-salariés en 2017“, Insee Première, Nr. 1781, Institut national de la statistique et des études économiques (Insee), Paris, 7. November 2019.

2 Marie-Josée Cougard, „Le géant du lait Lactalis touche la barre des 20 milliards d’euros“, Les Échos, 4. Juni 2020.

3 Charles Jaigu, „Le triomphe modeste d’Emmanuel Besnier“, Le Figaro Magazine, 31. Juli 2020.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Maëlle Mariette ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Maëlle Mariette