11.02.2021

Das Herz von Kairo

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Das Herz von Kairo

Tahrir-Platz – vom Ort des Aufbruchs und der Hoffnung zum Freilichtmuseum

von Martin Roux

Der ganze Platz eine Baustelle, März 2020 NARIMAN EL-MOFTY/picture alliance/ap
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Jedes Mal, wenn Nader Fahmi1 den Tahrir-Platz im Zentrum Kairos überquert, beginnt sein Herz schneller zu schlagen. Nicht die Erinnerung an die Revolution von 2011 und die mit ihr verbundene Hoffnung und Leidenschaft sind der Grund dafür, sondern die Angst. „Wenn mich die Polizei anhält und verlangt, dass ich mein Handy entsperre, besteht die Gefahr, dass ich verhaftet werde“, sagt der Menschenrechtsaktivist. 2011, als Zwanzigjähriger, war er an dem Aufstand beteiligt, der am 25. Januar begann und am 11. Februar zum Rücktritt von Präsident Husni Mubarak führte.

Er erinnert sich an die dicht gedrängten Demonstranten, die in Endlosschleife skandierten Slogans „As-shaab yurid isqat al-nizam“ (Das Volk will den Sturz des Regimes) oder „Irhal!“ (Hau ab!) und an die Diskussionen, die sich überall auf dem Platz spontan entwickelten. Heute weiß er, dass er sich beim geringsten Verdacht gegen ihn zu den 60 000 bis 100 000 politischen Gefangenen gesellen wird, die nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen derzeit in ägyptischen Gefängnissen sitzen.2

In der Umgebung des Tahrir-Platzes sind willkürliche Polizeikontrollen an der Tagesordnung, nachdem im September 2019 wieder Menschen im Zentrum Kairos und an anderen Orten gegen das Regime Präsident al-Sisis auf die Straße gingen. Der seit 2014 amtierende General al-Sisi kam durch einen Putsch gegen seinen islamistischen Vorgänger Mohammed Mursi an die Macht und duldet keinen Protest. In den zwei Wochen nach den Demons­trationen wurden 4400 Menschen verhaftet, etwa 900 davon in Kairo.3 Der Tahrir-Platz gleiche inzwischen einer streng bewachten Militärgarnison, sagt Nader Fahmi. „Es gibt hier mehr Zivilpolizisten als Passanten. Man erkennt sie sofort an ihren Schnurrbärten und ihren blank geputzten Schuhen. Es ist eine permanente Einschüchterung.“

Die allgegenwärtige Kontrolle, die mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“ und der „Sicherung der Stabilität“ begründet wird, betrifft auch das äußere Erscheinungsbild des Tahrir-Platzes. Im Oktober 2019 wurde mit seiner Umgestaltung begonnen. Der symbolträchtige 7,5 Hektar große Straßenstern wurde nach den Wünschen der Regierung in ein Freilichtmuseum für das Ägypten der Pharaonen verwandelt, 8 Millionen Euro hat das Al-Sisi-Regime dafür investiert.

Ein 17 Meter hoher Obelisk aus der Zeit von Ramses II. thront nun im Zentrum des von Autoverkehr umtosten Platzes. Umrahmt wird er von vier Widdersphinxen, die aus dem Kar­nak­tempel in Luxor nach Kairo gebracht wurden. Eine Tafel am Fuß der Säule erzählt die moderne Geschichte Ägyptens anhand von vier Revolutionen: der von 1919, die von Saad Zaghlul angeführt wurde und zur Unabhängigkeit des Landes führte; dem Putsch der Freien Offiziere 1952, durch den Ägypten zur Republik wurde; der Revolution von 2011, die das Ende der Mubarak-Herrschaft besiegelte; und schließlich der vom 30. Juni 2013, als die Armee Mohammed Mursi, den ersten zivilen und demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens, absetzte. Dieses letzte Ereignis mache, so ist zu lesen, den Tahrir-Platz zu einem „Symbol für die Freiheit der Ägypter“.

Für Passanten ist es unmöglich, die Inschrift auf dem Sockel des Obelisken zu fotografieren oder sich ihr nur zu nähern, und sie können sich auch nicht auf die kürzlich aufgestellten Bänke setzen. Im vergangenen Mai betrauten die Behörden die Sicherheitsgesellschaft Falcon mit dem Schutz der Gedenkstätte. Die dem militärischen Geheimdienst angeschlossene Firma4 hatte 2014 auch den Auftrag ausgeführt, mehrere staatliche Universitäten zu „sichern“, in denen damals Proteste gegen das Regime aufgeflammt waren.

„Der Tahrir ist wie eine Festung in einem Krieg. Wer ihn einnimmt und unter seiner Kontrolle behält, der hat gewonnen“, erklärt Galila El Kadi. Die Architektin und Stadtplanerin sieht in der Umgestaltung des Platzes vor allem eines: den Ausdruck der Angst seitens der Machthaber, die Ägypter könnten sich hier erneut zu einer Revolution versammeln.

Die politische Bedeutung des Platzes reicht weit bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Damals hieß er noch Ismailia-Platz. Unter dem Einfluss der Unabhängigkeitspartei Wafd entwickelte er sich ab 1930 zur wichtigsten „Stätte des Zorns, der Freiheit und der Veränderung“.5

Seit 1952 jedoch, als der Platz seinen aktuellen Namen „Tahrir“ (Platz der Befreiung), erhielt, wurde er nur für die vom Regime inszenierten Aufmärsche genutzt. Die einzigen Ausnahmen waren die Studentendemonstra­tio­nen von 1972 und die „Brotunruhen“ von 1977. Die Bewegung „Kifaja“ (Es reicht!) beispielsweise, die sich in den Jahren vor der Revolution von 2011 für eine Demokratisierung des Landes einsetzte, demonstrierte auf anderen Plätzen der Stadt. „Die Revolution hat den Tahrir-Platz befreit“, sagt Elham Aida­ros, eine politische Aktivistin, die im Vorfeld des 25. Januar an der Bildung der Sozialistischen Volksallianz beteiligt war.

Die Ägypter haben die Intensität und Leidenschaft dieser Zeit nicht vergessen. Die in den sozialen Medien verbreiteten Szenen vom Mut der Demonstranten vor der Brutalität der Sicherheitskräfte während der achtzehn Tage auf dem Tahrir trugen erheblich dazu bei, dass der Mythos von der Allmacht der Polizei6 unhaltbar wurde. Es gab Szenen, in denen ein unbewaffneter Mann ein Panzerfahrzeug nur mit der Kraft seiner Arme aufzuhalten versuchte, und solche, in denen die demons­trie­renden jungen Leute den massiven Angriffen der vom Regime herbeigerufenen baltagiyas (Schläger) standhielten und nicht zurückwichen.

Danach, als die Militärmacht beim politischen Übergang die Führung übernahm und sich mit den Muslimbrüdern auf einen Wahlprozess einließ, wurde der Platz für die revolutionären Kräfte ein wichtiger Ort, um die Mobilisierung aufrechtzuerhalten.7 „Es war ein politischer Raum, um gegen die Herrschenden zu protestieren, erst gegen den Obersten Rat der Streitkräfte und später gegen Mohammed Mursi“, erklärt Elham Aidaros.

Doch die zivilgesellschaftliche Aneignung des Tahrir, an dem sich die großen Verkehrsadern Kairos treffen, war nicht von Dauer. Die Architektin Galila El Kadi träumt davon, durch eine Umgestaltung des Platzes die Erfahrung der Revolution an diesem öffentlichen Ort zu bewahren. Sie würde den Tahrir gern zu einer Fußgängerzone machen und die Autos an den Rand verbannen. Stattdessen aber wurde unter al-Sisi der Bau einer Tiefgarage, der durch die Revolution unterbrochen worden war, nun fertiggestellt. Auf fast der Hälfte der Fläche verunstalten nun große Lüftungshauben den Platz.

El Kadi war nach der Revolution bis 2017 Beraterin des Gouverneurs von Kairo und musste mitansehen, wie die Entscheidungen über den Umbau des Platzes an der Stadtverwaltung vorbei getroffen wurden. Die höchste Regierungsebene riss die Zügel an sich, die Gestaltung des Tahrir wurde zur Chefsache erklärt. Wenige Tage vor dem Sturz Mursis hatte sich die Armee den Platz ausgesucht, um ihre Pläne im Vorfeld zu legitimieren. Zwischen Panzern strömten am 30. Juni 2013 hunderttausende Menschen zum Tahrir-Platz, um gegen die Präsidentschaft Mursis zu demonstrieren.8

Diese Vereinnahmung setzte sich weiterhin fort: Im Oktober 2013 fanden auf dem Tahrir die offiziellen Feier­lichkeiten zum „Sieg“ Ägyptens über Israel im Jom-Kippur-Krieg 1973 statt. „Das war wie ein Copy-and-­Paste der Veranstaltungen aus der Mubarak-Zeit“, erinnert sich Elham Aidaros. „Da brachte sich eine neue Diktatur in Stellung, angeführt von al-Sisi und General Mohammed Tantawi, dem Vorsitzenden des Obersten Militärrats. Die Macht nahm den Tahrir in Besitz und demonstrierte so, dass sie den ganzen öffentlichen Raum unter Kontrolle hatte.“

Einen Monat später wurden nichtoffizielle Demonstrationen verboten. Im November 2013 weihte eine Handvoll Amtsträger auf einer abgeriegelten Stelle des Platzes das in nur wenigen Tagen errichtete Denkmal „für die Märtyrer der beiden Revolutionen“ ein. Ein paar Kilometer weiter östlich, am Rabaa-al-Adawiya-Platz, wo am 14. August 2013 (laut Human Rights Watch) fast tausend Anhänger Mursis der brutalen Gewalt der Sicherheitskräfte zum Opfer fielen, gibt es dagegen keine Tafel zu deren Gedenken.

Für Ammar Abu Bakr ist das Denkmal auf dem Tahrir Ausdruck von Heuchelei. Der Künstler ist einer der Urheber der berühmten Graffiti in der Mohamed-Mahmoud-Straße in der Nähe des Platzes. Er hat den Alltag der Revolution und die Gesichter ihrer Toten gemalt, jener Hunderten von ermordeten Demonstranten, denen immer noch keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Um dagegen zu protestieren, dass sich das Regime die Erinnerung an die Revolution aneignet, hat er die „Märtyrerwand“ mit einer Farbschicht bedeckt, die an die Tarnkleidung des Militärs erinnert.

Dass die Revolutionäre die Macht über die Symbolik des Tahrir verloren hatten, wurde am dritten Jahrestag der Revolution deutlich. Am 25. Januar 2014 feierte eine handverlesene, vom Militär flankierte Menge dort sowohl den Jahrestag der Revolution als auch das Fest der Polizei.9 Im darauffolgenden Jahr war es nur noch ein kleines Häuflein Aktivisten der Sozialistischen Volksallianz, die versuchten, der Revolution am Ort des Geschehens zu gedenken. Während des friedlichen Demonstrationszugs tötete ein Polizist die Künstlerin Shaima Sabbagh mit einem Schrotgewehr. „Sie kam noch nicht mal bis zum Tahrir“, erzählt Elham Aidaros. „Die Botschaft des Regimes war sehr klar: Niemand sollte sich dem Platz nähern und auch nicht versuchen zu demonstrieren. Es ist aus damit.“

Einen Monat nach diesem Mord wurde ein hoher Mast mit der ägyptischen Flagge in der Mitte des Platzes aufgestellt. Die Ehemaligen vom Tahrir nannten ihn sofort spöttisch den „Pfahl der Revolution“. Im September riss die benachbarte Amerikanische Universität von Kairo eine ihrer Umgebungsmauern ab und zerstörte damit fast alle Graffiti von Ammar-Abu Bakr in der Mohamed-Mahmoud-Straße. So werden nach und nach die sichtbaren Spuren der Revolution getilgt.

Die Erinnerung an die Revolution schwindet auch, weil der Sitz wichtiger Regierungsinstitutionen aus dem Stadtzentrum an die Peripherie verlegt wird. 2016 wurde das gefürchtete Innenministerium vom Tahrir-Platz in die neue Hauptstadt verlegt, das Vorzeigeprojekt von Präsident al-Sisi, das gerade im Osten Kairos entsteht. 2021 sollen weitere Behörden umziehen. Gegenüber des zukünftigen Präsidentenpalasts lässt die Regierung einen neuen Platz anlegen – ohne jede revolutionäre Symbolik. „Auf dem ‚Platz des Volkes‘ werden Trauerfeiern mit militärischen Ehren stattfinden“, verkündet Hicham Naguib, der Pressesprecher des neuen Hauptstadtprojekts. Ohne seine Regierungsgebäude werde das historische Stadtzentrum bedeutungslos, meint Galila El Kadi. Denn die haben, ebenso wie die Universität von Kairo am gegenüberliegenden Ufer des Nils, dem Tahrir-Platz erst Bedeutung als zentralem Protestort verliehen.

Ammar Abu Bakr bedauert nicht, dass seine Graffiti verschwunden sind. „Sie waren Teil einer Bewegung. Wenn die zu Ende ist, gibt es auch keinen Grund mehr, dass sie erhalten bleiben.“ Andere Aktivisten wollen das Andenken an den Ort trotzdem bewahren. Über 800 Stunden Filmmaterial hat das Kollektiv Mosireen zwischen 2011 und 2014 gedreht und als „Archiv des Widerstands“10 ins Netz gestellt. „Dabei geht es um mehr als Erinnerung, es geht auch um Verfügbarkeit. Es ist nicht nur ein Archiv, sondern auch ein Arsenal“, sagt ein Mitglied von Mosi­reen.

Obwohl der Tahrir-Platz mehr und mehr seines politischen und revo­lu­tio­nä­ren Gedächtnisses beraubt wird, ist er noch immer der Ort für vereinzelte symbolische Aktionen. So wie im November 2020, als ein Mann sich aus Protest gegen die Korruption der Regierung selbst verbrannte. Auch wenn das Regime verbissen versucht, die Geschichte des Tahrir auszulöschen – er wird weiterhin als Platz des Protests gelten.

1 Name geändert.

2 Karine G. Barzegar, „‚Jamais l’Égypte n’a connu de période plus noire pour les droits humains‘“, TV5 ­Monde, 8. Dezember 2020.

3 Siehe den Bericht auf der Internetseite der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten (auf Arabisch).

4 Siehe Yezid Sayigh, „Owners of the Republic: An anatomy of Egypt’s military economy“, Carnegie Middle East Center, Beirut, 18. November 2019.

5 Galila El Kadi, „Die Plätze des Zorns und der Veränderung“ (auf Arabisch), Amkenah, Nr. 11, Alexandria, Oktober 2014.

6 „Défier l’autorité. L’homme face au blindé“, in: Leyla Dakhli (Hg.), „L’Esprit de la révolte. Archives et actualité des révolutions arabes“, Paris (Seuil) 2020.

7 Mona Abaza, „Post January Revolution Cairo: Urban wars and the reshaping of public space“, Theo­ry, Culture and Society, Bd. 31, Nr. 7–8, London, 30. September 2014.

8 Siehe Alain Gresh, „An der Hand der Armee“, LMd, August 2013.

9 Siehe Céline Lebrun, „La révolution égyptienne au prisme de ses commémorations (2011–2016)“, hg. von Assia Boutaleb und Choukri Hmed, Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, Juni 2017.

10 Zugänglich unter 858.ma.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Martin Roux ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Martin Roux