07.01.2021

Die Leute von Kabaria

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Die Leute von Kabaria

von Thierry Brésillon

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Enge Straßen, ausgetretene Gehwege, schmale, hohe Häuser, ein informeller Wochenmarkt auf der Hauptstraße und eine verbarrikadierte Polizeiwache: Willkommen in Kabaria, dem südlichsten Viertel im Armuts­gürtel rund um Tunis. Als am 14. Januar 2011 tausende Demonstranten vor das Innenministerium zogen und den Sturz von Staatspräsident Ben Ali forderten, war auch die Jugend von El Kabaria dabei.

Kurz darauf floh der Präsident nach Saudi-Arabien. Und weil auch die Ordnungskräfte entweder verschwanden oder mit gezielten Provokationen Unruhe und Chaos stifteten, gründeten die Bewohner des Viertels – wie überall im Land – zu ihrem eigenen Schutz Quar­tier­komi­tees. 39 Mitglieder einer geheimen Polizeieinheit hätten sie damals festgenommen und dem Militär übergeben, das sich geweigert hatte, auf die Demonstranten zu schießen, erinnert sich Abel M., ein junger Aktivist.

Zehn Jahre später ist der revolutionäre Elan verflogen. Die Armut ist noch schlimmer geworden und Korruption bestimmt wie früher den Alltag. Kabaria wird nur selten in den Nachrichten erwähnt, und wenn, dann sind sie durchweg negativ: Eine Frau wird wegen Drogenhandels verhaftet, bei Stark­regen verschwindet ein Auto in einem Krater im Asphalt, als Sanitäter verkleidete Gauner überfallen Passanten. Abgesehen von den Beschäftigten der umliegenden Fabriken und Büros verlässt praktisch niemand das Viertel. Und wenn die Jugendlichen aus Kabaria im Stadtzentrum oder in den reichen Vororten im Norden von der Polizei kontrolliert werden, wird ihnen unmissverständlich klargemacht, dass sie hier nichts zu suchen haben.

Einst war die Gegend von Kapernsträuchern überwuchert, die dem Viertel seinen Namen gaben, das 1955, wenige Monate vor der Unabhängigkeit Tunesiens, aus dem Boden gestampft wurde. Hier sollten die „Unerwünschten“ unterkommen, die Bauern und Beduinen, denen die Kolonisatoren ihr Land geraubt hatten und die in den 1930er Jahren während einer verheerenden Wirtschafts- und Agrarkrise in die Stadt geströmt waren und rings um die alte Medina in Elendsvierteln hausten. Nach der Unabhängigkeit wurde das Viertel erweitert, um Wohnraum für Staatsbeamte zu schaffen. Ab Ende der 1960er Jahre förderte das Regime von Habib Bourguiba den Erwerb von Grund und Boden, um die Lebensbedingungen für die Mittelschicht zu verbessern. Doch für die ärmeren Schichten gab es keinen Platz in der neuen Wohnungspolitik, erzählt der Stadtplaner Morched Chabbi.

Bald beherrschten private Akteure den Markt. Den Bewohnern von Kabaria wurden in den 1960er Jahren primitive Wohnungen zum Verkauf angeboten, die von Anhängern des Re­gimes mehr oder weniger illegal errichtet worden waren. Ein zwielichtiger Verwaltungschef veräußerte Baurechte an Zuwanderer aus dem Landesinneren – für Grundstücke, auf denen bereits Nomaden mit ihren Kamelen zelteten.

Die Polizei hat keinen guten Ruf im Viertel

Eine wilder architektonischer Mix prägt heute diesen Stadtteil von Tunis, an dessen Südspitze eine Siedlung liegt, die Hay Nour (Stadt des Lichts) heißt – wie das Viertel in der zentraltunesischen Stadt Kasserine, aus dem die meisten Anwohner einst kamen. Für Polizisten ist Hay Nour eine No-go-Area, eine Parallelwelt, in der Bestechung und Vetternwirtschaft herrschen.

Durch den Zuzug von Beamtenfamilien, den Bau zweier Metrolinien 2008 und die Industrie in den Nachbarvierteln hätte es in Kabaria aufwärtsgehen können. Doch es ging immer weiter bergab. Die Privatisierungspolitik seit den 1970er Jahren und die Strukturanpassungsmaßnahmen Mitte der 1980er Jahre führten zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst; gleichzeitig geriet der Industrialisierungsprozess ins Stocken.

„Die gute Ausbildung hat unseren Kindern überhaupt nichts gebracht“, klagt Abid Bouhrizi, ein pensionierter Polizeibeamter, der seit Ende der 1960er Jahre in Kabaria wohnt. „Um eine Stelle zu bekommen, brauchte man Beziehungen zur herrschenden Partei. Ben Ali und seine Clique haben unser Viertel korrumpiert. Sein Bruder Moncef Ben Ali hat hier den Drogenhandel kontrolliert.“

Mit dem Cannabishandel ging es in den 1980er Jahren los. Kleine Dealer stiegen auf, weil sie von der Polizei gedeckt wurden, deren Gewalt jeden treffen konnte. Alle im Viertel erinnern sich an willkürliche Verhaftungen, Erpressung und brutale Prügel. Manchmal schlugen die Jugendlichen auch zurück. Während des Aufstands im Januar 2011 entlud sich die Wut in einem grausamen Racheakt, als der Chef der Polizeiwache stellvertretend für die Handlanger des Regimes an einer Straßensperre aufgehängt wurde.

Wenn man sich auf Youtube „Seven Life“ der Rap-Band 7x7 Unity anhört, erfährt man, dass die Polizei bis heute keinen guten Ruf hat – wegen der folgenden Zeilen saß ein Mitglied der Band im November 2020 kurzzeitig ins Gefängnis: „Das Viertel ist schwarz vor Sirenen. Meine Freunde sind wie Taliban. Widerstand wie die Fellagha! Überall Heuchler und Verräter, die dich ans Messer liefern. Wir ziehen die Schwerter, der Krieg hört nicht auf, auch wenn alles im Arsch ist.“

Im vergangenen Jahr haben 800 Jugendliche aus drei Brennpunktvierteln in Tunis, darunter Kabaria, an einer Studie teilgenommen: 83,6 Prozent der Befragten sagen, dass die Gesellschaft „ungerecht“ sei, und 70,2 Prozent finden, dass „der Staat nicht für sie da ist“. Laut den Autoren der Studie hat „Ungleichheit nicht nur eine ökonomische oder soziale Dimension. Sie wird als politische, symbolische und moralische Ungerechtigkeit wahrgenommen.“1

In Kabaria gibt es weder ein Jugend- noch ein Kulturzentrum. 2017 stellte der Staat 120 000 Tunesische Dinar (ungefähr 36 000 Euro) für die Sanierung eines Sportplatzes zur Verfügung. Das Geld versickerte, das Fußballfeld ist immer noch eine steinige Wüste mit zwei Toren.

In Tunesien sind in den letzten zehn Jahren die Preise explodiert und die Arbeitslosenquote liegt bei 27 Prozent. Nach Schätzungen der Weltbank werden 53 Prozent des tunesischen Brut­to­inland­produkts in der Schattenökonomie erwirtschaftet. Viele halten sich mit Darlehen des Mikrofinanzinstituts Enda Tamweel über Wasser, das unter anderem von der Europäischen Investitionsbank (EIB) unterstützt wird.2 Enda Tamweel hat in Kabaria mehr als 5000 Kunden, die bei einer Bank keinen Kredit bekommen würden.

Ganz unten in der sozialen Hierarchie stehen die Müllsammler (Berbechas), die am frühen Morgen ausschwärmen und aus den Mülltonnen in den wohlhabenden Vierteln Plastikflaschen klauben, die sie für 300 Mil­limes (9 Eurocent) pro Kilo an Sammler in Hay Nour verkaufen. Andere verdienen sich mit dem kleinen Lebensmittelhandel im Hauseingang oder winzigen Garküchen an der Straßenecke etwas Geld. Bis 2011 betrieben viele Frauen einen sogenannten Kofferhandel mit allen möglichen Alltagsprodukten, die sie an der libyschen Grenze erwarben. Doch der Krieg im Nachbarland hat diese Einkommensquelle versiegen lassen. Der informelle Handel verlagerte sich in Richtung Türkei, mit der Coronapandemie hat sich auch diese Option erledigt.

Die Beamtenwitwe Fatouma C. kauft neuerdings auf dem Markt Bettwäsche und verkauft sie auf Kredit an die armen Leute im Viertel. Einer ihrer Söhne ertrank 2011 im Meer, als er die Überfahrt nach Italien wagte, wo ein weiterer Sohn gerade eine zehnjährige Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels verbüßt.

Italien ist für fast alle das Traumziel. Die jungen Leute hoffen mit dem in Italien verdienten Geld zu Hause ein Geschäft aufziehen zu können und damit ihre Familie zu unterstützen. Mit Drogenhandel wird man am schnellsten reich. Alle wissen, dass das neue, moderne Café gegenüber der Grundschule von Hay Nour auf diese Weise finanziert wurde.

Dann kam das Jahr 2012. Auf der Suche nach einem Lebenssinn in der ganzen Misere zogen viele junge Männer in den Dschihad. Die beiden größten Moscheen im Viertel wurden damals von Salafisten kontrolliert, von den älteren Gemeindemitglieder werden sie als „arrogante, dumme Jungs“ bezeichnet.

Nach dem Wahlsieg der islamistischen Ennahda im Oktober 2011 waren viele radikale Prediger aus Ägypten und den Golfstaaten ins Land gekommen. Ihre vermeintlich karitativen Vereine lockten mit sicheren Arbeitsverträgen in türkischen oder libyschen Kampfverbänden. Jeder in Kabaria kennt mindestens eine Person, die zum IS nach Syrien ging.

2014 übernahm dann wieder der Staat die Kontrolle über die Mo­scheen. Die Tarnorganisationen wurden geschlossen und die Polizei überwacht seitdem alle, die in salafistischen Kreisen verkehrt haben.

Trotz der europäischen Abschottungspolitik gilt die Flucht über das Meer mehr denn je als Ausweg. „Im Vergleich zu den 100 000 Dinar, die ein Hausbau kostet, oder den 15 000 Dinar für eine Hochzeit gilt eine garantierte Überfahrt für 12 000 bis 24 000 Dinar als vernünftige Investition“, erklärt der junge Philosophielehrer Ahmed Sassi, der 2013 den Verein „Génération anti­marginalisation“ (GAM) mitgegründet hat.

Jeder kennt einen, der zum IS nach Syrien ging

GAM versucht durch Projekte vor Ort zu erreichen, was in zehn Jahren Demokratie versäumt wurde. „Die Politiker erinnern sich nur vor den Wahlen an uns. Sie haben die Revolution benutzt, alle“, schimpft das GAM-Mitglied Ibrahim Ferchihi. Direkt nach der Revolution hatte die der Ennahda nahestehende „Liga zum Schutz der Revolution“ die Büros der im März 2011 aufgelösten Ben-Ali-Partei Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) besetzt. Die Liga ist zwar seit 2014 von der Bildfläche verschwunden, doch bis heute „findet man garantiert eine Arbeit, wenn man der Ennahda nahesteht, weil sie die Stadt regiert“, erklärt der Ex-Polizist Bouhrizi.

Die Mitglieder von GAM stehen für eine neue Generation von Aktivisten. Sassi war bis 2012 Mitglied der Kommunistischen Arbeiterpartei Tune­siens (PCOT): „Außer Parolen hatte sie keine Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Die in den 1970er Jahren sozialisierten Linken glauben, dass man eine Schocktherapie braucht, um die konservative Mentalität zu verändern. Sie haben aber den Kontakt zur Gesellschaft verloren.“

GAM will keine finanziellen Mittel aus dem Ausland annehmen, die seit 2011 ins Land strömen.3 „Zu viel Geld würde eine Kluft zu den Leuten im Viertel schaffen“, erklärt Sassi. Und Menel Chlibi, die für die Projekte des Vereins zuständig ist, bestätigt: „Wenn wir uns den Bedingungen der Geldgeber beugen, müssten wir komplett sinnlose Projekte fördern, die nichts ändern!“

Der Verein ist im Viertel hochangesehen, vor allem wegen der kostenlosen Nachhilfe, die ansonsten ein lukratives Zubrot für Lehrer ist, und wegen der vielfältigen kulturellen Angebote, wie Film- und Theatervorführungen, Tanzkurse und Literaturzirkel. Sogar einen kleinen Park haben Sassi und seine Mitstreiterinnen angelegt. Und juristische Beratung gibt es auch. So klärt der Verein über die neuen Vorschriften in der Untersuchungshaft auf, wie das Recht auf einen Anwalt.

Sie sprechen mit den Jugendlichen auch über den internationalen Dschihad, „damit sie begreifen, dass sie manipuliert werden“, erklärt Sassi. Und es gibt Selbstverteidigungskurse für Frauen. „GAM ist der einzige Ort im Viertel, wo Mädchen und Jungen bis spät in die Nacht in geschlossenen Räumen zusammen sein können“, erzählt das Vereinsmitglied Maryem Jeniti stolz.

Während des ersten pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 hat GAM mit Unterstützung lokaler Händler eine „solidarische Küche“ organisiert. Das Modell fand überall im Land Nachahmer. „Wir wollen nicht die Rolle des Staats übernehmen“, sagt Sassi. „Aber er kann eine aktive Gesellschaft auch nicht ersetzen.“

Thierry Brésillon

1 Siehe Rim Ben Ismail (Hg.), „Pensée sociale et résonances avec l'extremisme violent“, Forum tunisien pour les droits économiques et sociaux et Avocats sanas frontières, Tunis, November 2020.

2 Im September 2019 unterzeichnete die EIB einen Finanzierungsvertrag über ein Darlehen von 8,5 Mil­lio­nen Dinar mit Enda Tamweel.

3 Siehe Hèla Yousfi, „Faut-il encenser la „société civile“ en Tunisie?“, Orient XXI, 24. Januar 2017.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Thierry Brésillon ist Journalist in Tunis.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Thierry Brésillon