11.02.2021

Postwachstum als Illusion

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Postwachstum als Illusion

von Leigh Phillips

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Unter der Bezeichnung Degrowth oder Postwachstum fordern Teile der Umweltbewegung seit Jahren eine „Wachstumsrücknahme“. Dabei machen sie für die wachsenden Umweltprobleme nicht einfach nur die marktwirtschaftliche Produktionsweise, sondern wirtschaftliches Wachstum schlechthin verantwortlich, weil es die Nachfrage nach Energie antreibe und die Dekarbonisierung der Wirtschaft be- oder gar verhindere.1 Ein reduzierter Materialeinsatz werde dagegen die Energienachfrage senken, weshalb man die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten zurückfahren müsse.

Was der Begriff Degrowth jedoch von vornherein ausschließt, ist die Möglichkeit sozialistischen Wachstums: eine grenzenlose, aber genau geplante Steigerung der Wertschöpfung, die das Ökosystem eben nicht zerstört. Diese Absage an sozialistisches Wirtschaftswachstum enthält drei folgenschwere Fehler.

Erstens werden die tatsächlichen Verursacher der Umweltprobleme aus der Verantwortung entlassen. Zweitens wird unabsichtlich eine Sparpolitik begünstigt, die die Arbeiterklasse der Industrieländer in einer Weise belasten würde, wie sie sich selbst Margaret Thatcher nicht erträumt hätte. Und drittens ist es ein Angriff gegen den Fortschritt als stetige Ausweitung der Freiheit für die gesamte Menschheit.

Der erstgenannte Fehler dieses Konzepts offenbart sich, wenn man frühere ökologische Herausforderungen und deren Bewältigung in den Blick nimmt: vom sauren Regen über die Wasser- und Luftverschmutzung bis hin zum größten umweltpolitischen Erfolg, der Erholung der Ozonschicht.

In den 1980er Jahren war der Abbau des atmosphärischen Ozons in der Tat eine existenziell bedrohliche Umweltkrise, die aus anthropogenen Emissionen resultierte, in diesem Fall der in Kühlschränken, Isolierschaum und Spraydosen enthaltenen Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW).

Damals habe ich meine Mutter gedrängt, kein Haarspray mehr zu kaufen. Sie hat meinen Rat nicht befolgt – und die Politik zum Glück auch nicht. Stattdessen kam es zum Montreal-Protokoll von 1987, einem Meilenstein im Umweltvölkerrecht. Es verpflichtete die Unterzeichnerstaaten, den Einsatz von Ozonkillern zulasten der betroffenen Industrien zu reduzieren und letztlich zu verbieten, wobei je nach dem Entwicklungsstand der Länder unterschiedliche Fristen galten. Diese Vereinbarung, die schrittweise verschärft wurde, führte zu einer Verringerung der schädlichen Stoffe um 98 Prozent.2

Nach dem Konzept der Wachstumsrücknahme hätte man damals versucht, die Produktion von Kühlschränken weltweit zu beschränken statt durch Regulierung einen Technologiewechsel zu erzwingen. Die Folgen wären desaströs gewesen, da die Emissionen nicht gestoppt, sondern nur reduziert worden wären.3 Dafür gibt es heute mehr Kühlschränke als je zuvor – nicht zuletzt in den Entwicklungsländern, wo sie die Ernährungslage deutlich verbessert haben.

Diese einzigartige Fähigkeit des Menschen, seine Lebensweise zu verändern, gibt uns die Antwort auf die Frage, warum sich die Vorhersagen der Malthusianer und ihrer modernen Nachfahren, vom Club of Rome bis zu den heutigen Theoretikern und Aktivisten der Degrowth-Bewegung, wiederholt als falsch erwiesen haben.

Als durchschnittlicher Konsument verbraucht der Mensch nicht konstant Ressourcen. Durch technologische Innovation und politischen Wandel können wir die gleiche Wertschöpfung mit absolut wie relativ weniger Ressourcen erzielen. Und wenn wir an natürliche Grenzen stoßen, können wir die Bedingungen verändern, um diese Grenzen zu überwinden. Die Menschheitsgeschichte ist im Grunde eine Geschichte der Überwindung natürlicher Grenzen.

Wachstumskritiker reagieren gereizt, wenn man sie als Neo-Malthusianer bezeichnet. Schließlich haben sich die meisten von ihnen vor allem aus Empörung über die durch Umweltprobleme verursachte soziale Ungerechtigkeit der Degrowth-Bewegung angeschlossen. Im Gegensatz zu dem britischen Ökonomen Thomas Malthus (1766–1834), der vor einer globalen Überbevölkerung warnte, haben Wachstumskritiker damit nichts im Sinn. Sie wollen nur das Wachstum der Wirtschaft, nicht aber das der Bevölkerung begrenzen.

Allerdings bringt uns Malthus’ Theo­rie auf folgende Frage: Was würde passieren, wenn man die Degrowth-Vision bei unbegrenztem Bevölkerungswachstum verwirklichen würde?

Globale Gleichheit mit 5500 Dollar im Jahr?

Angenommen, wir haben eine maximale Produktion von „Zeug“ identifiziert, jenseits derer die ökologische Katastrophe droht. Unterstellen wir weiter eine vollkommen gleichmäßige Verteilung dieses Zeugs unter der Weltbevölkerung, und zwar ohne Beschränkung des Bevölkerungswachstums. Was wird passieren?

Bei weiterhin gleicher Verteilung muss jeder Mensch mit weniger vorliebnehmen. Einige Wachstumskritiker räumen ein, dass eine Politik der „Öko-Austerität“ in den entwickelten Natio­nen auch die Arbeiterklasse treffen müsse.4 Andere wie der Wirtschaftsethnologe Jason Hickel betonen, Degrowth bedeute keineswegs eine Politik der Sparsamkeit oder Knappheit, sondern eine des Überflusses. In den reichen Ländern sei eine geplante Reduktion des Materialdurchsatzes bei gleichem oder gar höherem Lebensstandard durchaus möglich, etwa durch Umverteilung des vorhandenen Einkommens, durch Arbeitszeitverkürzung und einen Mindestlohn, vor allem aber durch erweiterten Zugang zu öffentlichen Gütern.

Nun gibt es allerdings konkrete Zahlen, die uns der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanović dankenswerterweise vor Augen führt.5 Seine Modellrechnung unterstellt die Senkung des Einkommens auf den Mittelwert für diejenigen, die darüber liegen, und eine entsprechende Anhebung für alle darunter.

Der Mittelwert im Jahr 2018, von dem Milanović ausging, lag bei 5500 Dollar. Eine egalitäre Welt ohne weiteres Wirtschaftswachstum würde also ein Einkommen von 5500 Dollar für alle bedeuten. In den Industrieländern haben heute fast alle Menschen mehr. Wie würde Ihr Leben aussehen mit 5500 Dollar pro Jahr?

In den Industrieländern würden die Senkung des Lebensstandards und die Lohnkürzungen für die Arbeitnehmer weit drastischer ausfallen als während der neoliberalen Strukturreformen der 1980er Jahre oder in der letzten Finanzmarktkrise. Die Schätzung von Mi­la­no­vić skizziert zwar nur recht grob, was globale Gleichheit ohne weiteres Wirtschaftswachstum bedeuten würde, aber sie macht uns doch die Größenordnung klar.

Demnach würde sich für die 27 Prozent der Weltbevölkerung, die über dem mittleren Einkommen liegen, das Gesamteinkommen um zwei Drittel verringern. Diese Verringerung soll nach Ansicht der meisten Degrowth-Anhänger nicht durch finanzielle Transfers vom Globalen Norden in den Globalen Süden erfolgen. Der Effekt würde vielmehr dadurch erzielt, dass der Globale Süden seine Produktion ausweitet, während die Produktion des Globalen Nordens zurückgeht.

Das läuft auf ein Schrumpfen der Wirtschaft in den entwickelten Ländern um zwei Drittel hinaus. Allerdings verweisen die Wachstumskritiker darauf, dass ja keineswegs alle Wirtschaftsbereiche linear schrumpfen müssten. Stattdessen solle die gesellschaftlich nützliche Produktion weiterlaufen und nur die gesellschaftlich unnötige eingestellt werden. Das gilt vor allem für ökologisch zerstörerische und gesellschaftlich nutzlose Tätigkeiten, wie die der Werbeindus­trie, und schädliche Produkte, von SUVs oder Einwegplastik bis hin zu fossilen Brennstoffen.

Glückliche Freizeit ohne Emissionen?

Nun mag die Herstellung vieler Dinge irrational sein. Aber das heißt noch nicht, dass volle zwei Drittel der Wirtschaft in den Industrieländern überflüssig sind und nur Plunder produzieren, den niemand braucht. Nehmen wir das Beispiel fossile Brennstoffe. Es ist doch keineswegs so, dass die keinen gesellschaftlichen Nutzen bringen. Ihre Energiedichte und vielfältige Verwendbarkeit hat die Menschheit von den Launen der Natur befreit und die Grundlagen der modernen Welt geschaffen. Ein ökologisches Problem stellen sie deshalb dar, weil ihrem unbestreitbar großen sozialen Nutzen der Schaden gegenübersteht, den sie mit der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts anrichten.

Aber lassen wir dahingestellt, was gesellschaftlich notwendig ist. Wie immer man die gesellschaftlich unnützen Produktions- und Dienstleistungsbereiche definiert, auf keinen Fall machen sie in den Industrieländern zwei Drittel der Gesamtwirtschaft aus. Betrachten wir die anderen Mechanismen, die angeblich den Lebensstandard wahren oder sogar verbessern könnten, ohne dass das globale Bruttoinlandsprodukt wächst. Was die Verkürzung der Arbeitszeit oder eine großzügige Ausweitung der sozialen Dienste betrifft, so sind solche Ideen für die Linke selbstverständlich unterstützenswert. Doch wie damit die Reduzierung der Einkommen auf 5500 Dollar ausgeglichen werden soll, ist nicht ersichtlich.

Viel Freizeit macht ja extreme Armut keineswegs wett, und niemand würde sich Freizeit durch Armut erkaufen wollen. Das wusste schon der alte marxistische Witz, wonach im Kapitalismus nur eines schlimmer ist, als ausgebeutet zu werden, nämlich nicht ausgebeutet zu werden.

Zudem sind Freizeit und soziale Dienstleistungen keineswegs emis­sions­neutral. Sie verbrauchen zwar weniger Rohstoffe und Energie, kommen aber auch nicht ohne Gegenstände aus: Musikinstrumente werden aus Metall, Holz und Kunststoff hergestellt. Krankenhäuser sind voll mit Geräten, in denen alle möglichen Minerale stecken, einschließlich Erdöl, das zu Kunststoffen verarbeitet wird. Und auch Kajaks und Fahrräder kommen letztlich aus der Tiefe der Erde.

Nichts gegen den Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen, aber unser Leben wird nicht nur durch den Wohlfahrtsstaat reicher, sondern auch durch Turnschuhe, Lego-Sets, Waffeleisen, ja selbst Flachbildfernseher und X-Boxen. Zur Erinnerung: In der alten Sowjetunion war die Klage allgegenwärtig, wie grau doch das Leben ohne Jeans, Elvis-Platten oder Ananas sei.

Ja, wir wollen Brot, aber wir wollen Rosen dazu.

1 Siehe etwa „Economics and the Ecosystem“, Real-World Economics Review, Nr. 87, 19. März 2019.

2 Siehe Ferdinand Moeck, „Die Rettung der Ozonschicht“, LMd, November 2015.

3 „The Antarctic Ozone Hole Will Recover“, Nasa, 4. Juni 2015.

4 Troy Vettese, „To freeze the Thames“, New Left Review, Nr. 111, London, Mai/Juni 2018.

5 Branko Milanović, „The illusion of ‚degrowth‘ in a poor and unequal world“, Global Inequality, 18. November 2017.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Leigh Phillips ist Journalist und Autor von „Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts: A Defence of Growth, Progress, Industry and Stuff“, Alresford (Zero Books) 2015.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Leigh Phillips