10.12.2020

Teure Pillen

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Teure Pillen

von Séverine Chardon und Laurence Soustras

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Basisprodukte wie Paracetamol kosten in vielen Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen – insbesondere in Afrika – 20- bis 30-mal so viel, wie es dem internationale Referenzpreis für Generika entspräche.1 Die Gründe sind vielfältig: chaotische und ineffiziente Gesundheitssysteme, schlecht gesteuerte Nachfrage, mangelhafte Logistik, vor allem im ländlichen Raum, und natürlich die Preisgestaltung der Hersteller.

So kostet die sechsmonatige Therapie mit dem Arzneimittel Bedaquilin zur Behandlung der multiresistenten pulmonalen Tuberkulose 400 Dollar – „für 80 Prozent derjenigen, die auf das Mittel angewiesen sind, um am Leben zu bleiben, unerschwinglich“, schrieb die Organisation Ärzte ohne Grenzen im April 2019 und forderte vom Hersteller Johnson & Johnson eine Preissenkung auf einen Dollar am Tag.2 Im Preis müsse sich der Anteil der Subventionen für die Forschung und Entwicklung sowie die Rolle der wissenschaftlichen Community und der Organisationen abbilden, die sich gegen die Krankheit engagieren.

Der private Arzneimittelvertrieb, der in Ländern mit mittleren Einkommen 80 Prozent der Versorgung ausmacht, ist in den frankofonen und anglofonen Ländern Afrikas unterschiedlich organisiert. In Ersteren ist der Verkaufspreis staatlich festgelegt, und der Vertrieb läuft wie in Frankreich über Großhändler, die ihre Ware direkt von den Herstellern beziehen und den Apotheken das gesamte Spektrum der zugelassenen Arzneimittel liefern.

In den anglofonen Ländern haben die Hersteller hingegen einen Agenten, der als Einziger deren Medikamente importieren darf, die anschließend an viele verschiedene Firmen weiterverkauft werden. Diese Zwischenhändler verkaufen die Arzneimittel dann wiederum an den ­Einzelhandel, bei dem es sich nicht zwingend um Apotheken handeln muss.

„Im frankofonen Afrika zahlt man ebenso wie in Frankreich für eine verschriebene Arznei überall im Land den gleichen Preis. In den anglofonen Ländern gibt es keine Preisbindung“, erklärt Jean-Marc Leccia, Vorstandsvorsitzender des französischen Großhändlers Eurapharma, der inzwischen zum japanischen Toyota-Konzern gehört und 40 Prozent des westafrikanischen Vertriebs kontrolliert.

Die freien Preise wirken sich überall dort weniger stark aus, wo Geber die Hälfte aller staatlichen Gesundheitsausgaben übernehmen. Das trifft für die 24 Länder mit Niedrigeinkommen in Subsahara-Afrika zu. Der Globale Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria, der jedes Jahr für mindestens 1 Milliarde US-Dollar Gesundheitsprodukte einkauft, agiert wie eine zentrale Beschaffungsstelle und besitzt die nötige Verhandlungsmacht, um mit allen acht Lieferanten, die den Markt unter sich aufteilen, Abmachungen zu treffen.

Dennoch sind die Verhandlungen zwischen der Pharmaindustrie und den großen humanitären Organisationen im Allgemeinen oft schwierig, weil die Hersteller auf ihren Margen und Absatzmengen bestehen. Weniger nachgefragte Medikamente wie die Mittel zur Behandlung HIV-infizierter Kinder (deren Anzahl mit der Anzahl infizierter Mütter zurückgegangen ist) oder Kombinationspräparate des Malariamittels Artesunat mit Mefloquin, die nur im Mekongtal benötigt werden, sind für die Hersteller nur interessant, wenn die Preise hoch sind.

Doch auch wenn die Nachfrage vorhanden ist, wirkt sich das nicht zwangsläufig auf die Preise aus. „Die Logik, nach der die Industrie die Preise festsetzt, richtet sich nicht danach, wie viele Menschen das Mittel brauchen“, beklagt Gaëlle Krikorian, die bei Ärzte ohne Grenzen das Programm für den Zugang zu Arzneimitteln leitet. Die Hersteller würden ihre Preise eher nach der Höhe des Bevölkerungsanteils an relativ einkommensstarken potenziellen Kundinnen richten.

So beschloss der US-amerikanische Pharmariese Gilead durch geschicktes Jonglieren mit den Lizenzen, sein Hepatitis-C-Medikament in Ländern mit mittleren Einkommen wie Marokko für mehrere tausend Euro zu verkaufen – mit der Folge, dass es dort nur für einen Bruchteil der hunderttausenden von Erkrankten zugänglich ist.

Um ältere Präparate, die leicht zu produzieren sind und eine geringere Gewinnmarge erzielen, machen die Hersteller – auch die Generika­produzenten – einen Bogen: Das gilt für Penizillin, aber auch für Schmerzmittel, die in vielen der ärmsten Länder vollkommen vernachlässigt werden. So ist zum Beispiel das leicht herstellbare orale Morphin in zahlreichen afrikanischen Ländern so gut wie nicht aufzutreiben, während die teurere Injek­tions­variante als Importware auf dem privaten Markt erhältlich ist.

Im Mai 2019 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung eine Resolution, die für mehr Transparenz sorgen soll, sowohl bei den Preisen, die die Regierungen und die Einkäufer sanitärer Produkte zahlen, als auch bei den klinischen Studien.3 Laut Krikorian verdankt sich die Ini­tiative einem Bündnis von Ländern aus dem Norden und dem Süden, die wissen wollen, wer wie viel bezahlt und wie hoch die eigentlichen Kosten sind. Unterstützt durch Verbände und Organisationen, warben Südafrika und Uganda mit Kampagnen für die Resolution, während Deutschland, das sich vor allem dadurch hervortat, dass seine Delegation 25 Änderungsanträge einbrachte, und Großbritannien gegen die Transparenzresolution stimmten.⇥S. Ch., L. S.

1 Silverman, Keller, Glassman, Chalkidou, „Tackling the triple transition in global health procurement“, Center for Global Development, Washington, D. C., London, 17. Juni 2019.

2 www.aerzte-ohne-grenzen.de/medikamentenkampagne/tuberkulose.

3  „Ein wichtiger erster Schritt zu mehr Transparenz bei Medikamenten“, Public Eye, 28. Mai 2019.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Séverine Chardon und Laurence Soustras