12.11.2020

Klimaschädlich und hochsubventioniert

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Klimaschädlich und hochsubventioniert

Warum Polen trotzdem an seiner teuren Kohle festhält

von Agathe Osinski und Matthias Petel

Bergmannskapelle in der historischen Zeche Guido in Zabrze (Schlesien) ARTUR WIDAK/picture alliance/NurPhoto
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Mehr als 63 Millionen Tonnen Steinkohle wurden 2018 in Polen abgebaut, das entspricht 86 Prozent der Gesamtproduktion der Europäischen Union. Seit 2012 hat sich die Förderung zwar um 20 Prozent verringert, doch der Rückgang ist vergleichsweise bescheiden: In Deutschland wurde der Kohleabbau im selben Zeitraum trotz größerer Vorkommen um 76 Prozent gesenkt.1 Dennoch war Deutschland 2019 noch immer der größte Kohlekonsument der Union, auf den 35 Prozent des EU-Gesamtverbrauchs entfielen; an zweiter Stelle lag Polen mit 23 Prozent.

Polen gilt schon deshalb als „rückständiges“ Land, weil große Teile der Bevölkerung an einem sehr konservativen Katholizismus festhalten. Zudem zählen die polnischen Bürgerinnen und Bürgern, glaubt man bestimmten Meinungsumfragen, zu den Europäern, die sich über den Klimawandel die wenigsten Sorgen machen.

Doch diese Einstellung beginnt sich zu verändern, wie neuere Studien, aber auch die massiven Klimademonstrationen vom Herbst 2019 in Warschau zeigen. Kurz vor der COP24-Klimakonferenz von Katowice 2018 erklärte fast ein Drittel der Befragten, der Klimawandel sei eine der größten Bedrohungen für die gegenwärtige Zivilisation. Dieser Meinung waren 2014 erst 18 Prozent und 2009 sogar lediglich 9 Prozent der Befragten.

Nach einer Studie der Europäischen Investitionsbank (EIB), ebenfalls von 2018, sind sich 75 Prozent der Polinnen und Polen der Gefahren des Klimawandels bewusst, was nahezu dem EU-Durchschnitt von 78 Prozent der Bevölkerung entspricht. „Der Diskurs hat sich deutlich verändert“, meint Kamila Proninska, Professorin an der Universität Warschau und Expertin für Energiesicherheit. „Immer weniger Menschen leugnen das Problem, das endlich auch in den Medien aufgegriffen wird.“

Der Übergang vom Kommunismus sowjetischer Prägung zum Kapitalismus war „aus soziologischer Sicht ein schwieriger und traumatischer Prozess“, meint Pawel Ruszkowski, Soziologieprofessor am Warschauer Collegium Civitas. Dieser jähe Epochenbruch hat Polen zutiefst geprägt. Der Eintritt in die globalisierte Weltwirtschaft hat zur sozialen Polarisierung in Gewinner und Verlierer geführt. Wer einen gutbezahlten Jobs in einem privaten Unternehmen gefunden hat, bekennt sich eher zu liberalen und wirtschaftsliberalen Werten; dagegen lehnt ein Großteil der konservativ-katholischen Landbevölkerung das westliche Modell ab und hält an den traditionellen Werten fest.

In Polen stehen sich heute – abweichend vom Links-rechts-Schema westeuropäischen Typs – zwei konservativ orientierte Parteien gegenüber: Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die auf nationalistische Parolen und ein soziales Programm setzt, das vor allem die „polnische Familie“ stärken soll; und die rechtsliberale Bürgerplattform (PO), die auf die EU und auf Freihandel schwört.

Die PiS, die 2015 zum zweiten Mal an die Regierung kam, sorgte als erste politische Partei seit der „Schocktherapie“ von 19892 für eine gewisse wirtschaftliche Umverteilung. Zugleich spielt sie auf der Klaviatur des Patriotismus – was gut ankommt in einem Land, das über Jahrhunderte einer Fremdherrschaft unterworfen war.3 Gegen diese PiS haben es die progressiven Kräfte schwer, zumal die linke Partei, als sie in den 1990er Jahren an der Macht war, das neoliberale Modelle adoptiert hatte.

Das flache Land unterstützt mit großer Mehrheit den nationalkonservativen Regierungsblock, der sich als Bollwerk gegen eine EU-Politik darstellt, die das polnische Volk erneut unter ein fremdes – jetzt deutsches – Joch zwingen will. In diesem Sinne gelten Klimaschutzmaßnahmen der EU als äußere Einmischung, die das polnische Wirtschaftswachstum behindern könnten. Die PiS-geführte Regierung weigert sich, das Land bis 2050 CO2-neutral zu machen, womit sie ihrer Wählerbasis versichert: „Wir werden vor Brüssel nicht einknicken.“ Aber letztlich sind das nur PR-Tricks, denn die europäischen Direktiven werden auch in Polen weiterhin angewandt.

In den ersten fünf Jahre nach dem Ende des polnischen Realsozialismus wurden drei Viertel der 8000 staatlichen Betriebe privatisiert, und zwar durch Verkauf an meist ausländische Investoren. Nur die Energiebranche war als strategischer Sektor von der Privatisierung ausgenommen. Heute gibt es – nach mehreren Fusionen – vier staatliche Energieversorger: Polska Grupa Energetyczna (PGE), Enea, Energa und Tauron. Das Management dieser Unternehmen wird vom Industrieministerium bestellt. Bei jedem Machtwechsel gehen die leitenden Manager in die Privatwirtschaft und werden durch Anhänger der neuen Regierungspartei ersetzt. So hat es auch die PiS gehandhabt, also sie 2005 und 2015 an die Macht kam.

Addiert man die Belegschaften der vier staatlichen Energieversorger, der Bergbauindustrie und ihrer Lieferanten, so beschäftigt die gesamte Branche etwa eine halbe Million Menschen. In Polen gab es 2019 insgesamt 18 Millio­nen Erwerbstätige (bei 38 Millionen Einwohnern). Obwohl es nur 80 000 Bergleute gibt, macht die Gesamtheit der direkt und indirekt Beschäftigten eine wichtige Wählergruppe aus. Deren Macht wird noch durch den hohen gewerkschaftliche Organisationsgrad verstärkt. In der Energiebranche sind deutlich mehr Beschäftigte organisiert als im Durchschnitt aller Branchen (15 Prozent), in manchen Zechen sind es bis zu 100 Prozent.4

Die Bergleute verfügen außerdem über beträchtliches symbolisches Kapital, wie Bela Galgoczi vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut erklärt: „In Belgien und im Ruhrgebiet in Deutschland galten Bergleute als Helden. Das ist in Polen noch heute so. Der Lohn der Bergleute liegt doppelt so hoch wie der Durchschnittslohn, und sie genießen hohe soziale Anerkennung.“

All das erklärt, warum die Branche die Energiewende blockieren oder bremsen kann. Ob und wann diese Wende gelingt, bleibt ungewiss. Dabei zerstört die Kohleförderung nicht nur die Umwelt, sondern auch die Wirtschaft. Allein 2016 bis 2018 wurden die vier staatlichen Versorger mit mehr als 4 Milliarden Złoty (knapp 1 Milliarde Euro) aus dem Haushalt bezuschusst.5 Obwohl sie bereits stark subventioniert werden, können sie nur durch Kredite staatlicher Banken überleben. Einzig die sind noch bereit, das chronische Defizit einer unrentablen Branche auszugleichen, für die sich kein privater Investor interessiert. „Derzeit ist es teurer, Strom aus Kohle herzustellen als zum Beispiel mit Windrädern“, erläutert Ilona Jedrasik von der NGO Client­Earth.

Die letzten Regierungen waren sich durchaus bewusst, dass das Goldene Zeitalter der Kohle vorbei ist. Dennoch hielten sie die Industrie künstlich am Leben, um soziale Proteste und eine Wahlniederlage zu verhindern. Die Angst vor neuen Streiks ist seit dem Aufstand von 2015 in Schlesien durchaus berechtigt. Aktuell kommt das Beispiel Frankreich hinzu: In den Medien wird regelmäßig vor einem „Gelbwesten“-Szenario gewarnt. Aber alle wissen, dass die Kohle als Energieträger – auch ohne den Klimawandel – überholt ist. Und so kam es am 25. September zu einer Vereinbarung zwischen Regierung und Gewerkschaften über das Ende des polnischen Kohlebergbaus – im Jahr 2049.

Für ein Land, das jahrhundertelang von seinen Nachbarstaaten besetzt war, hat die Sicherung der Energiesouveränität höchste Priorität. Seit 30 Jahren hat das Land versucht, seine Energiequellen zu diversifizieren, um sich von Russland unabhängig zu machen. Von dort kamen 2004, dem Jahr des EU-Beitritts, noch 90 Prozent der polnischen Öl- und Gasimporte.

Seitdem wurden große Anstrengungen in Richtung Energieunabhängigkeit unternommen. Gasleitungsnetze wurden aufgebaut, Raffinerien wurden umgestellt, und an der Ostsee entstand in Świnoujście (Swinemünde) ein Terminal für Flüssiggas (LNG), der noch weiter ausgebaut wird. Demnächst soll norwegisches Gas über Dänemark nach Polen gelangen, wofür eine neue Pipeline verlegt wird, die sich mit den Pipelines Nord Stream 1 und 2 kreuzen wird, durch die russisches Gas nach Deutschland gelangt.

Nach dem Plan der PiS-Regierung soll Polen 2022 vollkommen unabhängig vom „großen Bruder“ sein. „Wir wollen zeigen, dass wir das russische Gas nicht brauchen“, erläutert Proninska. „Wir sehen Russland nicht als verlässlichen Lieferanten, weil das Land seine Gaslieferungen als Waffe einsetzt.“

Mit diesem Argument haben frühere Regierungen den Kohleabbau als Schlüsselfaktor der Energiesouveränität dargestellt. „Es gibt eine echte geopolitische Angst, ob begründet oder nicht, die Polen davon abhält, sich von der Kohle zu verabschieden“, sagt der Gewerkschafter Galgoczi. Doch genau das produziert einen absurden Widerspruch: Um die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Inlandsproduktion auszugleichen, muss Polen rund 40 Prozent seiner Kohle importieren. Und woher? Aus Russland! Dank der russischen Importe können die Zechen billiger produzieren und länger überleben. Aber die Energiewende wird damit noch weiter aufgeschoben.

In Oberschlesien gibt es Gemeinden, die nur vom Bergbau leben. Für die Menschen dort ist die Schließung ihrer Kohlegrube ein soziales Drama. Manche von ihnen sichern sich nach Schließung der Stollen ihr Überleben durch die – heimliche – Ausbeutung dieser „Armengruben“. Da dies gefährlich ist, wird es von offizieller Seite bekämpft.

Die Bergleute fürchten den Abstieg von gefeierten Helden des Industriezeitalters zu Verlierern der ökologischen Gesellschaft. Die Arbeiter und ihre Familien misstrauen einer aus Brüssel gesteuerten Energiewende, die offenbar wenig Rücksicht auf ihre Interessen nimmt. Nur eine ehrgeizige politische Reform, die soziale Gerechtigkeit und ökologische Ziele verbindet, könnte diese verfahrene Situation aufbrechen.

Der 2019 beschlossene europäische Green Deal könnte in dieser Hinsicht einiges verändern. Zu den geplanten Maßnahmen zählt die Gründung eines „Fonds für einen gerechten Übergang“. Der soll mit erheblichen Summen den Strukturwandel von Regionen finanzieren, die von umweltbelastenden Industrien abhängig sind. Allerdings gibt es hier noch viele Fragezeichen. Zwar wurde die Summe von zunächst 7,5 Mil­liar­den Euro zwischenzeitlich auf fast 40 Milliarden aufgestockt, dann aber wieder reduziert: In den Verhandlungen über das Konjunkturprogramm im Juli 2020 bot der Europäische Rat nur noch 17,5 Milliarden Euro.

Das reicht nach Ansicht der polnischen Regierung bei weitem nicht aus. Doch ohne eine angemessene Finanzierung wird die polnische Energiewende nicht stattfinden, meint der Klima-Staatssekretär Adam Guibourgé-Czetwertyński: „Es bringt nichts, von den Klimazielen für 2050 zu reden, ohne über die Finanzierung zu sprechen. Die Europäische Kommission schätzt, dass man pro Jahr in der gesamten ­Union über 300 Milliarden Euro brauchen wird, um die Ziele für 2030 zu erreichen. Und Polen braucht diese Mittel besonders dringend, denn wir konnten nicht wie andere Länder über mehrere Generationen hinweg Kapital akkumulieren.“

Allerdings würde eine Erhöhung der Mittel des „Fonds für einen gerechten Übergang“ voraussichtlich zulasten der Strukturbeihilfen gehen, die die Mitgliedsländer im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik beziehen. Und vor allem zulasten des Kohäsionsfonds, aus dem Mitgliedsländer wie Polen unterstützt werden, deren Bruttoinlandsprodukt unter dem EU-Durchschnitt liegt.6 „Die Ankündigung der Aufstockung des Fonds ist uns willkommen“, meint Galgoczi, „aber wir müssen sicher sein, dass sie die jetzigen Ko­häsionsgelder ergänzt und nicht ersetzt.“

Obwohl der Fonds eigentlich dazu da ist, die Beschäftigten in der fossilen Rohstoffindustrie zu unterstützen und ihnen andere Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, dient er derzeit eher der direkten Subventionierung von Ländern, die sich dem grünen New Deal am hartnäckigsten widersetzen. So sieht es jedenfalls Pawel Wargan, der die Kampagne „Green New Deal for Europe“ koordiniert: „Der Fonds überprüft in keiner Weise, ob das Geld wirklich bei den Menschen ankommt, die es am nötigsten brauchen oder am stärksten von der Energiewende betroffen sind.“

1 „Coal production and consumption statistics“, Eurostat, Juni 2019.

2 Siehe Julien Vercueil, „Zwei Wege in den Kapitalismus“, LMd, Juni 2020.

3 Thibault Deleixhe, „Dans les coulisses de la Pologne de Kaczynski“, Politique, 13. Dezember 2019.

4 Aleksander Szpor, „The changing role of coal in the Polish economy“, in: Bela Galgoczi (Hg.), „Towards a just transition: coal, cars and the world of work“, Brüssel, European Trade Union Institute 2019.

5 Siehe auch: Hubert Beyerle und Marcus Welsch, „Polen zahlt für seine Zechen“, LMd, Juni 2015.

6 Simone Bennazzo, „Un vent de l’Est contre le Green Deal de la Commission européenne“, Courrier international, Paris, 28. Juni 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Agathe Osinski und Matthias Petel sind Doktoranden an der Katholischen Universität Leuven (Löwen).

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Agathe Osinski und Matthias Petel