12.11.2020

Compagniegeschäft mit Karl

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Compagniegeschäft mit Karl

von Thomas Kuczynski

Engels-Denkmal im Stadtzentrum von Manchester ullstein bild
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Als er auf Bitten seines Freundes Karl Marx Mitte November 1849, kurz vor seinem 29. Geburtstag, in London ankam, ahnte Friedrich Engels nicht, dass er die „restlichen“ 46 Jahre seines Lebens im englischen Teil des Vereinigten Königreichs zubringen würde. Als Teilnehmer des gescheiterten badisch-pfälzischen Aufstands war er in die Schweiz entkommen, wo ihn der Brief von Marx1 erreichte, der gerade aus Frankreich ausgewiesen worden war. Da die französischen Behörden Engels die Durchreise verweigerten, fuhr er nach Genua, um von dort aus die fünfwöchige Schiffsreise nach London anzutreten.

Das erste Jahr war angefüllt mit politischen Aktivitäten im Rahmen des Bundes der Kommunisten und verschiedener Emigrantenorganisa­tio­nen sowie mit publizistischer Tätigkeit. Im Laufe dieses Jahres wurde Marx und Engels klar, dass in naher Zukunft mit dem Ausbruch einer Revolution auf dem Kontinent nicht zu rechnen sein würde. Also vereinbarten sie das, was Marx im Juli 1865 in dem Satz zusammenfasste, „dass wir zwei ein Compagniegeschäft“ betreiben, wobei „ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil“ des Geschäfts gebe und – diese Selbstverständlichkeit hat er jedoch nicht erwähnt – Engels die finanzielle Grundlage dafür zu liefern habe (MEW 31, S. 131).

Mitte November 1850 reiste Engels nach Manchester und arbeitete dann fast 20 Jahre lang in der Firma Ermen & Engels, zunächst als Handlungsgehilfe, dann als Prokurist, schließlich als Prinzipal und Teilhaber. Der Revolutionär und Publizist verschwand für zwei Jahrzehnte aus der öffentlichen Wahrnehmung.

Insgeheim aber begann er schon bald nach seiner Ankunft in Manchester mit systematischen Studien zum Militärwesen. Wie tief er sich in die Materie eingearbeitet hatte, belegt seine 1859 anonym erschienene Studie „Po und Rhein“, die großes Aufsehen erregte, weil zunächst angenommen wurde, ihr Verfasser sei ein Mitglied des preußischen Generalstabs. Im Unterschied zu vielen anderen Bereichen seines Wirkens war Engels als Autorität in Fragen des Militärwesens selbst zu Zeiten des Kalten Kriegs in Ost wie West unumstritten.

Die Studien waren ihm auch im Hinblick auf die künftige Revolution wichtig, denn schon im September 1851 meinte er: „Sind wir also einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorn anzufangen“ (MEW 8, S. 5). Der Satz stand in einer Artikelserie über „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, die ein Jahr lang in der New York Daily Tribune erschien, also auf Englisch, aber unterzeichnet von Marx. Denn auch das war ein Teil des Compagniegeschäfts: Marx hatte zwar das Angebot erhalten, für diese Zeitung zu schreiben, aber da er zu der Zeit noch nicht ausreichend Englisch konnte, schrieb Engels die Artikel, nach zehn- bis zwölfstündigem „Schanzen“ im Kontor.

Auch später half er dem Freund mit Artikeln aus, nicht zu reden von den Informationen, die er ihm zu Fabrikwesen und Geschäftsleben in Manchester sowie aus der eigenen Firma übermittelte. Aber Engels war nicht sein „Helfershelfer“, sondern nicht selten sein Vorreiter: „Du weißt, dass alles 1. bei mir zu spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußtapfen nachfolge“, schrieb Marx im Juli 1864 an Engels (MEW 30, S. 418). Das „immer“ bezog sich erstens auf Engels’ „geniale Skizze“ (MEW 13, S. 10) zur Kritik der Nationalökonomie von 1843 und zweitens auf die naturwissenschaftlichen Studien, denen Marx nachzueifern begann.

Engels führte also über 20 Jahre ein Doppelleben, zum einen als Junggeselle im „Scheißhandel“ (MEW 28, S. 23) mit einer dazu passenden Wohnung, zum anderen als Lebensgefährte von Mary Burns, einer irischen Proletarierin, die ihn seit 1843/44, ihrer ersten Begegnung, mit den Elendsvierteln Manchesters und irischer Lebensart vertraut gemacht hatte. Die beiden lebten in Wohnungen zusammen, die er unter wechselndem Namen mietete und in denen er des Nachts auch seine Studien betreiben und Artikel verfassen konnte.

Jenny Marx hatte ihm schon zu Beginn seiner Tätigkeit vorausgesagt, dass er „trotz Cotton trade und Alledem der alte Fritze bleiben“ werde (MEW 27, S. 152). Aber spurlos ging das alles nicht an ihm vorbei. Zu Beginn der Wirtschaftskrise von 1857/58, als Vorbote der sehnlich erwarteten Revolution gefeiert, fühlte er sich „enorm fidel“: „Der bürgerliche Dreck der letzten sieben Jahre hatte sich doch einigermaßen an mich gehängt, jetzt wird er abgewaschen, ich werde wieder ein andrer Kerl“ (MEW 29, S. 211/12).

Knapp zehn Jahre später, Ende April 1867, klang das ganz anders: „Ich sehne mich nach nichts mehr, als nach Erlösung von diesem hündischen Commerce, der mich mit seiner Zeitverschwendung vollständig demoralisiert. Solange ich da drin bin, bin ich zu nichts fähig, besonders seitdem ich Prinzipal bin, ist das viel schlimmer geworden, wegen der größeren Verantwortlichkeit“ (MEW 31, S. 293).

Wenige Wochen danach hat Marx dem Freund im Vorwort zum „Kapital“ ein ebenso verhülltes wie treffendes Denkmal gesetzt: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt … den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag“ (MEW 23, S. 16).

Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Business blieb Engels seinem sozialen Status nach Bourgeois und war, nunmehr als Rentier, weiterhin erfolgreich (nach heutigen Maßstäben gemessen am Ende seines Lebens sogar Multimillionär). Wie pragmatisch er seine soziale Rolle sah, zeigt ein Brief an Eduard Bernstein vom Februar 1883: „Man kann auch ganz gut selbst Börsianer und zu gleicher Zeit Sozialist sein und deshalb die Klasse der Börsianer hassen … wenn ich sicher wäre, an der Börse morgen eine Mil­lion profitieren zu können und damit der Partei in Europa und Amerika Mittel in großem Maß zur Verfügung zu stellen, ich ging sofort an die Börse“ (MEW 35, S. 444).

Im September 1870 zog er mit seiner Lebensgefährtin nach London – seit Marys Tod 1864 lebte er mit deren Schwester Lizzy zusammen – und stürzte sich wieder in die Arbeit, nun aber freie, nur dem eignen Zwang und Drang unterworfne Arbeit. Er wurde, erstens, in den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) kooptiert, schrieb, zweitens, regelmäßig für die sozialistische Presse und arbeitete, drittens, an einer Dialektik der Natur.

Auf dem ersten Tätigkeitsfeld war er nur kurzzeitig tätig, da die schon vor seinem Eintritt wieder aufgebrochenen Auseinandersetzungen mit den Anarchisten zu keinem guten Ende geführt werden konnten und der von ihm initiierte Ausweg, den Sitz des Generalrats in die USA zu verlegen, sich als Sackgasse erwies, an deren Ende die Selbstauflösung der IAA stand. Seine internationalistische Arbeit setzte er auch unter den neuen Bedingungen fort, vor allem mittels einer ausgedehnten Korrespondenz und persönlichen Gesprächen. Erst 1889 gelang es unter seiner tätigen Mithilfe, die II. Internationale zu begründen, nunmehr als Vereinigung national organisierter Arbeiterparteien.

Auf dem zweiten Feld entstanden viele Artikel und Artikelserien, die häufig auch in broschierter Form verbreitet wurden. Die umfangreichste Serie, eine Auseinandersetzung mit den Anschauungen Eugen Dührings, wurde unter dem Kurztitel „Anti-Dühring“ sein berühmtestes Werk, das ihm hundert Jahre später den zweifelhaften Ruf einbrachte, der „Erfinder“ des Marxismus gewesen zu sein.

Die Etikettierung war vor allem der Tatsache geschuldet, dass er in der Schrift, dem von Dühring vorgegebenen Themenspektrum entsprechend, Grundfragen aus den Bereichen Philosophie, politische Ökonomie und Sozialismus zusammenfassend und in einer dem breiten Lesepublikum verständlichen Sprache dargelegt hatte. Dass eine Serie von Zeitungsartikeln nicht in dieselben Tiefen vorstoßen kann wie ein Werk, an dessen Thematik der Verfasser über Jahrzehnte gearbeitet hatte, war Engels voll bewusst, weshalb er von vornherein klarstellte, dass er dem Düh­ring’schen „System“ kein eigenes entgegenstellen wolle. Beides sahen die meisten seiner Adepten anders und gebaren auf diese Weise den „Marxismus“.

Die ihm wichtigsten Teile des „Anti-Dühring“ hat Engels unter dem Titel „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ herausgegeben, zunächst auf Französisch, sodann auf Deutsch. Marx hat diese Schrift eine „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“ genannt (MEW 19, S. 185).

Die Arbeit auf dem dritten Feld, der Dialektik der Natur, brach Engels nach Marx’ Tod ab, denn nun sah er sich in der Pflicht, die Manuskript gebliebenen Teile des „Kapitals“ so zu ordnen und ergänzen, dass sie publiziert werden konnten. Dieses Vorgehen stieß, insbesondere nach Erscheinen von Band III (1894), auf Kritik – zunächst, weil er nicht den originalen Text ediert hatte (der allerdings in weiten Teilen fragmentarisch und, da stellenweise nur mehr zur Selbstverständigung geschrieben, sehr schwer verständlich war), später, nach Kenntnisnahme der originalen Texte, weil Engels das Manuskript gar nicht verstanden habe oder verflacht oder gar verfälscht. Allerdings hat bislang kein einziger dieser Fundamentalkritiker auch nur versucht, auf der Basis der Originale eine Neuedition der Bücher II und III vorzulegen.

Engels war bekanntlich der Meinung, er habe im Duo Marx/Engels die zweite Violine gespielt (MEW 36, S. 218). Es ist sein geradezu verdoppeltes Pech, dass die seit 100 Jahren über ihn gefällten Urteile zumeist fernab von seinem eigenen liegen. Die einen sahen Marx/Engels als intellektuell und politisch monumental-monolithisches Gebilde, ununterscheidbar voneinander, womit man Engels alle Eigenständigkeit genommen und ihn von der zweiten Violine zum bloßen Echo der ersten degradiert hat. Die anderen hingegen sprechen ihm zwar Eigenständigkeit zu, aber nur um festzustellen, er sei nicht einmal Echo gewesen, sondern bloßer Ideologe.

Nun ist nicht zu leugnen, dass auf Marx und Engels bis 1989 ein Wort zutraf, das früher auf ein anderes deutsches Klassikerpaar bezogen worden war: Goethe wird gerühmt, aber Schiller wird gelesen. Wer sich nicht mit dem „Kapital“ herumquälen wollte, griff zum „Anti-Dühring“, wem „Die deutsche Ideologie“ zu schwer war, nahm sich den „Feuerbach“. Nur war den so Vorgehenden zumeist nicht bewusst, dass Marx an den ökonomischen Teilen des „Anti-Dühring“ mitgeschrieben und Engels sich im Manuskript der „Ideologie“ nicht nur mit Karikaturen verewigt hat.

Franz Mehring zufolge schrieb Engels, anders als Marx, „leicht und licht, so durchsichtig und klar, dass man dem Strom seiner bewegten Rede stets bis auf den Grund blicken kann“.2 Vor allem deshalb wurde Engels gelesen und weniger Marx. Und weil Engels’ unmittelbare Wirkung auf die Bewusstseinsprozesse in den sozialistischen und kommunistischen Parteien und Bewegungen eine so viel größere war, meinen einige, dass das, was über 100 Jahre unter dem Namen „Marxismus“ firmierte, eigentlich „Engelsismus“ heißen müsse. Damit avancierte der Jubilar zwar im Nachhinein zur ersten Violine, aber im falschen Orchester, denn Marx zählt nicht zu dessen Mitgliedern, ist aus jeder realen politischen Bewegung herausgehoben und damit bloße Inkarna­tion des reinen Gelehrten. Die ideologische Zwecksetzung solcher Zuordnungen ist überdeutlich.

Dass Engels so „durchsichtig und klar“ schrieb, war auch in anderer Hinsicht nicht von Vorteil: Als Albert Einstein eine 1916 publizierte Broschüre über die Relativitätstheorie mit dem Untertitel „Gemeinverständlich“ versah, konnte sich niemand ernsthaft einbilden, nach deren Lektüre die Theorie weiterentwickeln (oder auch widerlegen) zu können. Ganz anders im kanonisierten „Marxismus“, und Engels war sich dieser Gefahr sehr bewusst. So schrieb er im September 1890 Joseph Bloch, es geschehe „leider nur zu häufig, dass man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren ‚Marxisten‘ nicht ersparen, und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden“(MEW 37, S. 465).

Überhaupt zeigt sich Engels auch in seinen viel zu wenig gelesenen „Altersbriefen“ als ein quicklebendiger Geist, der immer wieder „auf allerhand Allotria“ gekommen ist (MEW 39, S. 100).

1 Vgl. Marx/Engels, Werke, Bd. 1 ff., Berlin 1956 ff. (im Folgenden: MEW, gefolgt von der Angabe des Bands und der Seitenzahl), hier: MEW 27, S. 142.

2 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Berlin 1964, S. 235.

Thomas Kuczynski war der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1992 ist er freischaffend tätig in Forschung und Publizistik. 2017 hat er eine neue Textausgabe des „Kapitals“ herausgegeben: Karl Marx, „Das Kapital“, Buch I: „Der Produktionsprozess des Kapitals“, Hamburg (VSA).

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Thomas Kuczynski