08.10.2020

Mut und Fahnen in Belarus

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Mut und Fahnen in Belarus

von Loïc Ramirez

Demonstration gegen Lukaschenko, Minsk, 23. September 2020 picture alliance/dpa
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Mitte August 2020. Die Bilder von den Demonstrationen laufen in Dauerschleife im Fernsehen. „Das wird bald vorbei sein“, meint Stas L. Er sitzt mit dem Rücken zum Fernseher in einer Bar in der Ortschaft Brahin im Süden von Belarus und unterhält sich mit seinen Freunden, alle um die dreißig. Auf dem Tisch steht eine Wodkaflasche.

Vor fünf Tagen hat die bisher größte Protestwelle das Land erschüttert. Der Fortgang der Ereignisse wird Stas’ Vorhersage jedoch widerlegen: Die Proteste gingen weiter, vor allem an den Universitäten, in der Hauptstadt und bei den Märschen in anderen Großstädten des Landes, bei denen sich stets tausende Menschen versammeln.

Die Proteste nach der von Manipulationen überschatteten Wahl vom 9. August, bei der Präsident Alexander Lukaschenko nach offiziellen Angaben 80,23 Prozent der Stimmen gewonnen haben soll, haben Belarus ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Am 23. September wurde der Präsident in einer geheim gehaltenen Zeremonie vereidigt, zum 6. Mal seit seinem Machtantritt 1994.

Seine wichtigste Gegnerin Swetlana Tichanowskaja hatte bei der Wahl anstelle ihres Mannes kandidiert, nachdem dieser im Mai wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ verhaftet worden war. Sie wurde von den Teams der beiden weiteren Kandidatinnen unterstützt: Für den nach Moskau geflohenen Waleri Zepkalo trat dessen Frau Weronika an, der verhaftete Wiktor ­Babariko wurde von seiner inzwischen ebenfalls verhafteten Kampagnenleiterin Maria Kolesnikowa vertreten.

In den Nächten nach der Wahl gab es Auseinandersetzungen zwischen jungen Demonstrierenden und Ordnungskräften. Das Internet blieb drei Tage lang abgeschaltet. Tausende Verhaftungen und zahlreiche Berichte von Folter und Schlägen in den Kommissariaten befeuerten noch den Widerstand gegen einen Präsidenten, der das Ausmaß seiner Einschüchterungen noch einmal steigerte: Schon nach der Präsidentschaftswahl von 2010 gab es hunderte Verhaftungen, die Oppositionsführer wurden in den folgenden Monaten vor Gericht abgeurteilt.

Selbst hier, im kleinen Brahin, spürt man die Nervosität der Ordnungskräfte. Nach Einbruch der Nacht patrouillieren Polizisten auf dem Dorfplatz, während eines ihrer Fahrzeuge die Hauptstraße überwacht. Dieser Aufwand erscheint übertrieben für einen Ort, der nur etwa 3000 Einwohner zählt. Ist es die Nähe zur Ukraine – Kiew liegt nur drei Autostunden entfernt –, oder befürchtet man, dass die Demonstrationen aus der etwa 100 Kilometer entfernten Bezirkshauptstadt Gomel bis hier herüberschwappen könnten?

Stas arbeitet im Straßenbau und hat nie einen anderen Präsidenten als Lukaschenko erlebt. „Ich habe für Tichanowskaja gestimmt“, erzählt er, „aber ich gehe nicht demonstrieren! Für uns in Belarus ist Ruhe das Wichtigste, keiner hier will einen Maidan.“ Damit meint der junge Mann den Aufstand in der Ukraine im Winter 2013/14, der zum Sturz von Präsident Wiktor Janukowitsch führte und schließlich einen Bürgerkrieg nach sich zog.1

Dieses abschreckende Beispiel, das die belarussische Regierung gern bemüht, stützt sich auf echte Ängste in der Bevölkerung. Auch von Stas’ Freunden haben einige für Tichanowskaja gestimmt, andere einen ungültigen Stimmzettel abgegeben. „Ich habe für Lukaschenko gestimmt“, sagt einer der Anwesenden. Die anderen sind überrascht: „Wirklich? Du hast ihn gewählt?“ – „Ja natürlich.“ Weitere Erklärungen oder eine Diskussion gibt es nicht, man leert die Gläser und setzt die übliche Unterhaltung fort.

Wie weit Lukaschenkos Wahlergebnis tatsächlich durch Fälschungen aufgebläht ist, lässt sich schwer überprüfen; kühne Oppositionelle hatten im Wahlkampf erklärt, er verfüge lediglich über eine Zustimmung von 3 Prozent. „Soziologischen Studien zufolge liegt sein Stimmenanteil bei etwa 60 Prozent, natürlich bedeutend niedriger in der Hauptstadt, wo die Opposition schon immer ihren harten Kern hatte“, erklärt der Historiker Bruno Dwreski, der am französischen Studienzentrum für östliche Sprachen und Kulturen (Inal­co) lehrt.

Einer, allerdings schon fünfzehn Jahre alten Studie der Forscher Stephen White und Elena Korosteleva zufolge ist der typische Lukaschenko-Wähler „über 60 Jahre alt, eher wenig gebildet“ und lebt auf dem Land.2 Umgekehrt seien die Oppositionellen eher „jung“, „im Privatsektor tätig“, „mit gutem Bildungsniveau“ und „in den großen Städten ansässig“. Es geht also auch um einen Generationenkonflikt, verbunden mit der Differenz zwischen Stadt und Land. Der regierungsnahe Politologe Alexei Dzermant meint, „die Stammwähler des Präsidenten finden sich vor allem bei den Beamten, den Staatsbediensteten und in der Arbeiterklasse“.

Tichanowskaja hätte vermutlich gewonnen

Doch offenbar ist die Zustimmung zu Lukaschenko selbst in den Schichten eingebrochen, die ihm traditionell wohlgesinnt waren. Eine Studie auf der Basis von von Hand ausgezählten Stimmen der jüngsten Wahl kommt auf 45 Prozent für Tichanowskaja und 43 Prozent für Lukaschenko.3 Auch andere Schätzungen gelangen zu dem Ergebnis, dass der Wahlausgang sehr viel knapper war als von der zentralen Wahlkommission angegeben.

„Ja, ich habe früher für ihn gestimmt, aber jetzt geht das nicht mehr“, erklärt der fünfzigjährige Wiktor, der in einer Schule in Gomel Französisch unterrichtet. „Man darf nichts gegen die Regierung sagen, sonst bekommt man am Arbeitsplatz Probleme, das schnürt einem die Luft ab; ich will gar nicht bestreiten, dass er viel erreicht hat, aber das Land hat sich verändert, und er ist immer noch derselbe.“

Lukaschenko pflegt das Image des strafenden Übervaters, das in der belarussischen Gesellschaft lange Zeit auf Zustimmung stieß. Doch inzwischen sind viele genervt. Seine Äußerungen im Wahlkampf, eine Frau könne das Land nicht regieren, oder seine Beschimpfungen und seine Drohungen gegen die Opposition fielen auf ihn selbst zurück und machten ihn in den Augen vieler schlicht lächerlich.

Im Augenblick verfügen die Protestierenden noch nicht über ein klares politisches und wirtschaftliches Programm. Auf den Demonstrationen hat man sich im Allgemeinen auf ein paar einfache Forderungen geeinigt: Befreiung der politischen Gefangenen, Neuwahlen und – unabdingbar – der Rücktritt Lukaschenkos.

Swetlana Tichanowskaja befindet sich im Exil in Litauen und hat von dort aus Mitte August einen Koordinierungsrat gegründet, der mit der Regierung über eine mögliche Machtübergabe und die Organisation von Neuwahlen verhandeln soll. Die sieben Mitglieder des Ratspräsidiums sind jedoch alle entweder ins Ausland geflohen oder sitzen im Gefängnis. Als Letzte verließ die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am 28. September ihr Land in Richtung Deutschland.

Bei den Demonstrationen gilt allein die weiß-rot-weiße Fahne der ersten Volksrepublik Belarus von 1918, die nach der Unabhängigkeit 1991 bis 1995 erneut Nationalflagge war, als gemeinsames Symbol des Widerstands gegen den Staatschef. Jede andere Fahne oder Botschaft wird misstrauisch beäugt, denn sie könnte zu Spaltungen führen: Die wenigen Europafahnen wurden schnell wieder eingepackt, und man hört keinerlei russlandfeindliche Sprüche.

Um die Protestbewegung zu diskreditieren und Moskau zum Eingreifen zu bewegen, wiederholt Lukaschenko bei jeder Gelegenheit, auch die belarussischen Nationalisten, die ab 1941 mit den Nazis kollaborierten, hätten die weiß-rote Fahne verwendet. In Wahrheit handelte es sich dabei aber nur um ein kleines Grüppchen, das praktisch kein politisches Erbe hinterlassen hat. Das ist ein starker Gegensatz zu anderen Randgebieten des früheren Zarenreichs, wie dem Baltikum, der Ukraine oder Polen, wo sich die nationalistischen Bewegungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf politische Parteien, Schulen und Universitäten stützen konnten und den bewaffneten Kampf gegen Russland und später die Sowjetunion manchmal auch in Zusammenarbeit mit den Nazis führten.4

Lukaschenko hatte nie eine Basis

Davon kann in Belarus, das vor allem für seine sowjetische Partisanenbewegung hinter der deutschen Ostfront bekannt ist, keine Rede sein. Die Nationalfarben Rot und Weiß bedeuten hier weniger ein Wiedererstarken des Nationalismus als vielmehr die Ablehnung eines Präsidenten, der 1996 per Volksabstimmung die rot-grüne Fahne der Sowjetrepublik erneut zur Na­tio­nal­flagge erhoben hatte.

Als rund um den 11. August Streiks in den staatlichen Vorzeigebetrieben der belarussischen Industrie ausbrachen, spürte Lukaschenko, wie seine Macht ins Wanken geriet. Die Proteste an den Arbeitsstätten weiteten sich jedoch nicht aus.

Am Morgen des 17. August scheiterte der Versuch einer Arbeitsniederlegung in der Atlant-Fabrik in Minsk, in der Haushaltsgeräte hergestellt werden. „Wer arbeitet hier?“, fragte eine ältere Frau die etwa 30 Menschen, die sich zur Unterstützung des Streiks am Eingang des Hauptgebäudes versammelt hatten. Nur einer hob die Hand. Die anderen waren mehrheitlich Studierende oder Rentner, die aus Solidarität gekommen waren. „Ich bin der Einzige hier“, sagte der Arbeiter, „die anderen Kollegen haben Angst“.

Seit dem 1999 verabschiedeten Präsidentendekret Nr. 29 werden die meisten Beschäftigten nur noch per Zeitvertrag für ein bis fünf Jahre angestellt, wodurch die Gewerkschaften des Landes geschwächt wurden. Eine Studie des belarussischen Gewerkschaftsdachverbands von 2018, die 1,6 Millionen Arbeitsverträge untersuchte, kam zu dem Schluss, dass 30 Prozent der Beschäftigten lediglich über Einjahresverträge verfügten.5

Zur Sorge um den Arbeitsplatz kam die Verhaftung einiger Streikführer und die Angst der Staatsangestellten vor einer Privatisierungswelle. Im Wahlkampf hatten die Kandidaten Wiktor Babariko, ein Bankvorstand, und Waleri Zepkalo, Chef eines Hightech-Parks, durchaus deutlich gemacht, dass sie das Land „modernisieren“ wollten.6 Im staatlichen Sektor, der neben dem öffentlichen Dienst auch den Großteil der Industrie umfasst, arbeiten fast 40 Prozent der Beschäftigten im Land. Die Unternehmen, die mehrheitlich dem Staat gehören, stehen für etwa 30 Prozent der Jahresproduktion und der Arbeitsplätze in Belarus.7

Ein Wirtschaftssektor ist bei den Proteste jedoch stark vertreten: die IT-Branche, die sich ab den 2000er Jahren herausgebildet hat. Sie „hat von bedeutenden Steuervorteile profitiert, was ein bisschen im Widerspruch zum herrschenden Modell des ‚Marktsozialismus‘ steht“, erklärt die Wissenschaftlerin Ioulia Shukan auf ihrer Face­bookseite. „Diese Abweichung vom herrschenden Modell, das es dem Regime lange ermöglicht hat, sich vor jedem von privater Seite initiierten oder finanzierten Protestversuch zu schützen, scheint nun zurückzuschlagen.“

Ludmila V.8 , die für einen App-Programmierer in Minsk arbeitet, berichtet vom Engagement der Firma in der Protestbewegung, das bis in die Chefetage reiche: „Seit Beginn der Demonstrationen haben die Angestellten das Recht, nicht zur Arbeit zu erscheinen, wenn sie an einer Versammlung teilnehmen; unser Unternehmen hat sich außerdem verpflichtet, Strafzahlungen für Mitarbeiter zu übernehmen, falls die bei nicht angemeldeten Demons­tra­tionen verhaftet werden.“

Auf der anderen Seite kommt die Mobilisierung der Regierungsanhänger nur dank großer staatlicher Ressourcen zustande. Das allein auf den Präsidenten zentrierte Regime, das sich nie auf eine klare Ideologie gestützt hat, kann nicht auf eine militante Basis zählen, die es im Notfall verteidigen würde. Armee und Polizei bleiben Lukaschenko bisher allerdings treu.

Die Staatsmacht befindet sich trotzdem in einer Legitimationskrise. Lukaschenkos Vorschlag für eine Verfassungsreform als Vorbedingung für Neuwahlen im Jahr 2022, mit der die Rechte der Regierung und des Parlaments gegenüber dem Präsidenten gestärkt werden sollen, war ein geschickter Schachzug: Das Vorhaben entzweit die Opposition und dürfte ihm mehr Zeit verschaffen.

Ob es sich dabei um ein weiteres Manöver des Präsidenten handelt, um an der Macht zu bleiben, oder ob Lukaschenko sich damit einen ehrenvollen Abgang sichern will, bleibt offen. Wie die aktuelle Krise ausgeht, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie die Protestbewegung mit Unterdrückung, Ermüdung und internen Spaltungen fertig wird.

1 Siehe Laurent Geslin und Sébastien Gobert, „Batman und Volkstribunale“, LMd, Dezember 2014.

2 Stephen White, Elena Korosteleva, „Postcommunist Belarus“, Lanham(Rowman and Littlefield) 2005.

3 „Ein Präsident auf dem Papier“, Nowaja Gaseta, Moskau, 13. August 2020, auf der Basis von Ergebnissen der Onlineplattform Zubr (auf Russisch).

4 Vgl. Martin Dean, „Collaboration in the Holocaust: Crimes of the Local Police in Bielorussia and Ukraine“, New York (St Martin’s Press) 2000.

5 Unabhängige News-Website Tut.by,Minsk, 6. Juli 2018.

6 Website Belrynok.by, Minsk, 6. Juli 2020.

7 National Statistical Committee of the Republic of Belarus, www.belstat.gov.by, 2020.

8 Der Vorname wurde geändert.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Loïc Ramirez ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Loïc Ramirez