08.10.2020

Kein Geld, kein Strom, keine Zukunft

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Kein Geld, kein Strom, keine Zukunft

Libanon steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte

von Doha Chams

Beirut, September 2020 HASSAN AMMAR/ap
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Beirut, Mitte Juli: Eine kleine Menschenmenge hat sich auf dem Bürgersteig vor dem Krankenhaus der American University Beirut (AUB) versammelt. Die Gesichter sind blass, ernst, ratlos. 1500 AUB-Angestellte haben an diesem Morgen von ihrer Entlassung erfahren – „aufgrund der Wirtschaftskrise“, wie man ihnen mitteilte. Insgesamt sind 20 bis 25 Prozent der Beschäftigten der Universität betroffen. Die Gewerkschaften sprechen von einem „Massaker“.

Eine etwa 50-jährige Frau kommt aus dem Gebäude und ruft: „Revolution, Revolution, Revolution!“ Unter dem Arm trägt sie einen Karton mit ihren persönlichen Sachen, den anderen Arm reckt sie mit geballter Faust in die Höhe. Doch ihr Schreien klingt wie ein Hilferuf und nicht wie ein Aufruf zum Umsturz. Schließlich sinkt sie auf die Knie, ihre Habseligkeiten kullern auf die Straße. Einige Kollegen kommen der Frau zu Hilfe, aber sie weigert sich, aufzustehen. „Mein Gott, wo bist du?“, schluchzt sie.

Ein Soldat, der in der Nähe steht, dreht sich weg und wischt sich eine Träne aus dem Auge. Mit einem Monatssold, der wegen der Entwertung des Libanesischen Pfunds (LBP) nur noch etwa 70 US-Dollar wert ist, geht es ihm nicht viel besser. Aber er und seine Kollegen befolgen weiterhin alle Befehle. Aus Angst vor Ausschreitungen hatte die Universität Armee und Polizei um Hilfe gebeten. „Wir mussten uns gegen massive Drohungen von außen wappnen“, rechtfertigt sich Fadlo R. Khoury, seit September 2015 Präsident der AUB. Gleichzeitig gibt er zu, dass die Entlassungen „besser vermittelt hätten werden können und müssen“.

Eine schwere Wirtschaftskrise1 , explodierende Arbeitslosenzahlen, die Armee im Einsatz, um soziale Proteste zu verhindern, und ein rapider Anstieg von Neuinfektionen mit Sars-CoV-2: So sah es im Libanon bereits vor der gewaltigen Doppelexplosion im Hafen von Beirut am 4. August aus, deren Folgen katastrophal sind: 192 Tote, fast 7000 Verletzte und eine in weiten Teilen zerstörte Hauptstadt. 300 000 Einwohner und Einwohnerinnen Beiruts stehen ohne Wohnung da, etwa 70 000 haben ihre Jobs verloren. Die durch die Protestbewegung vom 17. Oktober 2019 genährten Hoffnungen sind in weite Ferne gerückt.2

Binnen eines Jahres hat sich die Lage komplett verändert. Das bei vielen verhasste politische System, zu dessen Zerschlagung die jungen Demonstranten mit dem Slogan „Kullun iani kullun“ – „Alle heißt wirklich alle (sollen gehen)!“ aufriefen, hält sich weiterhin; und fast jeder neue Tag bringt weitere schlechte Nachrichten: erneute Ausgangssperren, deren gesundheitlicher Nutzen fragwürdig ist, überlastete Krankenhäuser, Engpässe bei der Lebensmittelversorgung, Rangeleien auf der Straße um ein paar Laibe Brot und ein großer Brand in der Beiruter Innenstadt am 15. September. Die politische Klasse betreibt indes weiter ihr endloses Gefeilsche, und das „Ultimatum“ von Präsident Macron, der die sofortige Bildung einer tatkräftigen Regierung („Gouvernement de mis­sion“)3 forderte, ist mit dem schnellen Rücktritt des erst vor einem Monat designierten Ministerpräsidenten Mustapha Adib verstrichen.

Jenseits aller politischen Erwägungen bleibt eine Hauptsorge der Beiruter das Bargeld und dessen Verfügbarkeit. Die Geldwechsler auf der Hamra-Straße im Westen der Hauptstadt hören den ganzen Tag die gleiche Frage: „Wie viel kostet der Dollar heute?“ Wie ein Symbol für den Verfall eines Landes wird die legendäre Straße – lange Zeit das pulsierende Herz Beiruts mit Theatern, Cafés und Kinos – von Ramsch­läden, Secondhand-Shops und Wühltischen überschwemmt.

Der einzige Ort, wo auch heute noch öffentlich protestiert wird, ist der Sitz der Zentralbank, der Banque du Liban (BDL). Vor dem Gebäude, das mittlerweile durch Betonabsperrungen geschützt wird, treffen sich die Demonstranten. Sie protestieren gegen die Allmacht der Banken im Land, gegen ihre Absprachen mit den reichen Familien des Libanon, die Kapitalflucht betreiben, was von der BDL toleriert wird. „Nieder mit dem Regime der Banken“, heißt ein Slogan, der per Schablone überall an die Hauswände der Hauptstadt gesprüht ist, daneben das mit Teufelshörnern verzierte Porträt von BDL-Chef Riad Salameh.

Seit Dezember 2019 haben die Finanzinstitutionen des Landes private Vermögen de facto eingefroren. Normale Kunden können nur begrenzte Summen von ihrem Konto abheben, und die Ausgabe von Dollarscheinen ist stark eingeschränkt. Diese Restriktionen haben sich verschärft, seit die Regierung am 7. März bekannt gab, einen Teil der fälligen Auslandsschulden des Libanon nicht zu bedienen – 1,2 von insgesamt 90 Milliarden Dollar.

Seither lebt das Land quasi mit drei verschiedenen Währungen. Neben dem Libanesischen Pfund gibt es den Dollar, an den das Pfund offiziell weiterhin zu einem Wechselkurs von 1507 LBP gekoppelt ist. Dieser offizielle Wechselkurs existiert allerdings nur noch auf dem Papier. Wer Dollar benötigt, muss sie auf dem Schwarzmarkt zum inoffi­ziel­len Wechselkurs kaufen, der bei etwa 8000 LBP liegt.

Für viele Libanesinnen und Libanesen ist der Zugang zu den grünen Scheinen zur Messlatte ihres sozialen Status geworden. Wer sein Gehalt in ausländischer Währung bekommt, ist reich oder kann zumindest seinen Lebensstandard von vor der Krise aufrechterhalten. Wer hingegen wie die meisten Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes in Libanesischen Pfund bezahlt wird, schaut in den tiefen ­Abgrund, in den die nationale Währung in den vergangenen Monaten gestürzt ist.

Am 19. August veröffentlichte die UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (UN-Escwa), deren Sitz sich in Beirut befindet, eine Studie, der zufolge der Anteil der in Armut lebenden Libanesen von 28 Prozent 2019 auf 55 Prozent im Mai 2020 angestiegen ist, und das war noch vor der katastrophalen Explosion im Hafen.4 Das betrifft etwa 2,7 Millionen Menschen. Gleichzeitig hat sich herausgestellt, dass die Ungleichheit im Libanon besonders krass ist: Die oberen 10 Prozent der Libanesen verfügen über 70 Prozent des Reichtums.

Mehr als die Hälfte lebt in Armut

„Mein Gehalt hat 80 Prozent seines Werts verloren, und ich habe große Angst, dass mein Unternehmen schließt“, berichtet Emmanuel Alkek, der bei der Explosion vom 4. August verletzt wurde. „Ohne meinen Sohn, der im Ausland lebt, könnte ich mir keine Medikamente kaufen. Und ra­tionieren muss ich trotzdem. Statt einer Pille am Tag nehme ich nur noch jeden zweiten Tag eine.“ Auf die Frage, ob er das mit seinem Arzt abgesprochen hat, antwortet Alkek: „Ich hab ganz einfach mein Portemonnaie konsultiert.“

Den gleichen sarkastischen Ton schlägt Dalal F. an, die zwei Jobs hat, aber umgerechnet weniger als 100 Dollar im Monat verdient – „die Summe von zwei halbierten Gehältern“, sagt sie trocken. Für sie kommt es nicht mehr infrage, ihre zwei Söhne weiterhin auf die Privatschule zu schicken, die 8000 Dollar im Jahr kostet. „Das Unternehmen meines Mannes ist pleitegegangen. Auch das Homeschooling während der Pandemie kommt für uns nicht infrage. Wir müssten einen Computer kaufen, für das Internet bezahlen, und selbst wenn wir das hinkriegen würden, bleibt das Problem mit dem Strom.“

Dreißig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs hat der Libanon immer noch keine neuen Stromkraftwerke. Jeden Tag gibt es stundenlange Aus­fälle. „Wir zahlen zwei Rechnungen, eine für den Anschluss ans öffentliche Netz und eine an den privaten Generatorbetreiber“, erzählt Dalal. „Im August gab es durchschnittlich 18 Stunden am Tag keinen Strom. So ist die Hälfte meines Gehalts für den Generatorenstrom draufgegangen.“

Auf die „Mafia“ der privaten Generatorenbetreiber wird im Libanon regelmäßig geschimpft. Laut einem Bericht von 2016 fährt sie jährlich etwa 2 Milliarden Dollar ein.5

Die Verarmung der libanesischen Bevölkerung könnte sich noch verschärfen, sollte die Regierung beschließen, die umfassenden Subventionen für importierte Waren zu streichen. Im Oktober 2019, als das Libanesische Pfund abzusacken begann, setzte die BDL einen Mechanismus in Kraft, über den die Importeure strategisch wichtiger Güter wie Treibstoff, Grundnahrungsmittel und Medikamente Dollar erhalten, entweder zum offiziellen Wechselkurs oder zu einem reduzierten Kurs (3900 LBP).

Nach Schätzungen sollen die Devisenreserven der BDL auf 20 Milliarden Dollar geschrumpft sein. Weil die Zentralbank dazu verpflichtet ist, eine Reserve von mindestens 17,7 Milliarden zu halten, wird damit gerechnet, dass die Subventionierung der Importe nur noch bis Ende 2020 aufrechterhalten werden kann.

Selbst wenn der Libanon Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten sollte, wäre die Fortzahlung der Subventionen nicht gesichert, denn der IWF ist bekanntlich kein großer Freund staatlicher Subventionen. In einem Land, das 6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts auf den Import von Lebensmitteln verwendet – einer der höchsten Werte weltweit –, würde ein Stopp der Subventionen zur massiven Verknappung und zur Teuerung führen.

In der Geschichte des Libanon gab es immer wieder angespannte Phasen, in denen Menschen das Land verließen. Und auch jetzt entscheiden sich wieder viele Libanesen dazu, ihrem Land den Rücken zu kehren, vor allem in Richtung Kanada.

Andere begnügen sich damit, aus der überteuerten Hauptstadt wegzuziehen: „Ich bin zurück in mein Heimatdorf gegangen, weil meine Miete in Beirut durch die Inflation auf das Vierfache gestiegen ist“, erzählt der Taxifahrer Hanna. Der 60-Jährige arbeitete zuvor als Buchhalter in einem großen Hotel und wurde nach den landesweiten Protesten vom Oktober 2019 entlassen. „Die Hotelleitung hat damit angefangen, dass sie uns nur die Hälfte unserer Gehälter gezahlt hat, und dann haben sie uns rausgeworfen.“ Weil es in seinem Heimatdorf an Kunden mangelt, fährt Hanna jeden Tag nach Beirut, um ein paar Fahrten zu ergattern.

Die ländlichen Gegenden des Libanon sind unterentwickelt. Hier dauern die Stromausfälle noch länger, und es gibt kaum Internetanschlüsse. Für die Jugendlichen aus der Hauptstadt ist das Landleben keine Option. So bleibt vielen jungen Libanesinnen und Libanesen nur die illegale Emigration. Nach der ­Katastrophe vom 4. August hat sich gezeigt, dass einige der Vermissten nicht durch die Explosion ums Leben kamen. „Sie sind wahrscheinlich kurz zuvor in Richtung Europa aufgebrochen“, erzählt ein Elternteil eines Vermissten.

Alle Berichte über die Auswanderung heben einen Punkt stark hervor: Die Auswanderer denken nicht an sich selbst. Einmal in einem anderen Land angekommen, helfen sie denen, die zu Hause geblieben sind. Das gilt etwa für die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, die unter der Stigmatisierung leiden und für die in 70 Branchen weiterhin ein Arbeitsverbot gilt.

Im Flüchtlingslager von Mar Elias, einem Stadtteil im Südwesten von Beirut, macht sich Fatalismus breit: „Im Moment geht es den unteren sozialen Schichten der Libanesen viel schlechter als uns“, meint der Metzger Abu Ibrahim. „Wir kennen die Armut schon sehr viel länger als sie. Aber wir haben den Vorteil, dass unsere Organisationen und die Institutionen, die sich um uns kümmern, in Dollar zahlen, und nicht in Libanesischen Pfund.“ Aber vor allem gebe es keine Familie im Lager, die nicht von Verwandten im Ausland unterstützt werde, meint Ibrahim. „Und wenn es nur ein paar Dutzend Dollar sind.“

Wird die allgemeine Verarmung der Libanesen dazu führen, dass sie wieder auf die Straße gehen, wenn die Pandemie einmal überwunden ist? Der Schriftsteller Hassan Ezzein ist davon überzeugt. Er hat an den meisten Protestbewegungen der vergangenen 20 Jahre selbst teilgenommen. Seine Prognose aber ist nicht optimistisch. „Das Land wird nicht wieder auf die Beine kommen, wenn die Libanesen nicht eine klare Opposition gegen das Regime aufbauen. Ansonsten bleibt nur das Chaos.“

1 Siehe Hajar Alem und Nicolas Dot-Pouillard, „Aux racines économiques du soulèvement libanais“, LMd, Januar 2020.

2 Siehe Jakob Farah, „Beirut – Aufstand gegen den Status quo“, LMd, November 2019.

3 Jean-Pierre Filiu, „Macron peut-il sauver le Liban de ses naufrageurs?“, Un si Proche-Orient (Blog), 6. September 2020.

4 „ESCWA warns: more than half of Lebanon’s popula­tion trapped in poverty“, Unescwa.org, 19. August 2020.

5 Oil and Gas Hand Book, Info Pro, Beirut 2016.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Doha Chams ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Doha Chams