08.10.2020

Flucht vor den Fleißigen

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Flucht vor den Fleißigen

Die weiße US-Oberschicht fürchtet um ihr Bildungsprivileg

von Richard A. Keiser

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Der Begriff „white flight“ entstand Mitte des vorigen Jahrhunderts in den USA. Gemeint war damals die Flucht weißer Arbeiterfamilien aus Wohnvierteln, in die verstärkt schwarze Familien gezogen waren. Das erzeugte bei vielen weißen Familien eine wachsende Unsicherheit und das Gefühl eines ökonomischen Abstiegs, verbunden mit der Angst, dass die Qualität der örtlichen Schulen darunter leidet. Den Vorwurf, rassistisch zu sein, wiesen diese Weißen mit dem Argument zurück, dass sie lediglich den Wert ihres Wohneigentums und die Sicherheit ihrer Kinder schützen wollten.

Anders die „neue weiße Flucht“ des 21. Jahrhunderts: Darunter versteht man den Wegzug weißer Mittelklassefamilien aus Wohngegenden mit steigenden Immobilienpreisen, in die Familien asiatischer Herkunft zugezogen sind, deren Kinder sich in den öffentlichen Schulen häufig als Klassenbeste erweisen. Aus einem Viertel mit niedriger Kriminalitätsrate, tollen Schulen und hohem Prestige zu fliehen, ist ökonomisch gesehen keine empfehlenswerte Strategie. Aber diese weißen Familien wollen eben ihre Sprösslinge schützen, indem sie ihnen Spitzenplätze in der Leistungshierarchie sichern.

Diese neue weiße Flucht wurde erstmals vom Wall Street Journal thematisiert, das 2005 eine Reportage über die Stadt Cupertino veröffentlichte, dem Sitz von Apple und anderen Technologiegiganten. Eine ähnliche Dynamik findet sich in anderen Suburbias im Norden Kaliforniens oder auch in Maryland, New Jersey und New York. Dabei handelt es sich stets um gediegene Mittelklasseviertel mit sehr guten Schulen und konstanter Wertsteigerung der Immobilien. In vielen dieser Viertel hat sich die Zahl der Einwanderer der ersten oder zweiten Generation innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt. Hier machen Asiaten, die in der Hightech-Branche arbeiten und vorwiegend aus China (Taiwan) und Indien stammen, zwischen 15 bis 40 Prozent der Bevölkerung aus.

Die Mission San José High School im Silicon Valley hatte 1984 eine zu 84 Prozent weiße Schülerschaft; die bis 2010 auf 10 Prozent geschrumpft war, während 83 Prozent aus asiatisch-amerikanischen Familien stammten.1 Auch in diesem Fall sind weiße Familien in nahe gelegene Vorortbezirke ausgewichen, wo die öffentlichen Schulen einen deutlich geringeren Anteil an Kindern asiatischer Herkunft aufweisen.

Fragt man weiße Eltern, so klagen sie, dass asiatische Eltern an den Grundschulen (Klassen 1 bis 6), die den Weg zu den begehrtesten Highschools (Klassen 7 bis 12) ebnen, den Leistungswettbewerb übermäßig anheizen. Der Präsident des Schulkomitees einer der Highschools, die viele Weiße aus anderen Schulen aufgenommen haben, deren höhere Klassen von Schülern asiatischer Herkunft dominiert wurden, erklärte ganz in diesem Sinne, dass sich „unsere Eltern bei einem kleineren asiatischen Anteil pro Klasse weniger unter Druck fühlten“.2 In der Cupertino-Reportage wurden damals weiße Eltern zitiert, die meinten, ihre Kinder hätten sich früher als „dumme Kids“ abgestempelt gefühlt.3

Weiße Eltern führen die Tatsache, dass ihre Kinder bei Eintritt in die Highschool gegenüber asiatischen Schülern weit im Rückstand sind, häufig darauf zurück, dass diese am Nachmittag schon mal Fußball spielen und ihren Spaß haben dürfen, während asiatische Kinder in Nachhilfestunden schon den Stoff der Highschool-Fächer pauken würden. Sportliche Aktivitäten und Treffen mit Freunden, die in weißen Familien als „normal“ gelten, seien bei asiatischen Eltern in Verruf, weil sie für die Zulassung zum College nichts bringen.

2013 ermittelten zwei Wissenschaftler bei Feldforschungen in Cu­per­tino, dass die Leute „Asianness eng mit hoher Leistung, harter Arbeit und akademischem Erfolg assoziieren“; Whiteness dagegen mit „schwächeren Leistungen, Faulheit und Mittelmäßigkeit“.4

Mit dem Schulwechsel in Klassen mit einem kleineren Anteil von Schülern asiatischer Herkunft reagiert die weiße obere Mittelklasse auf die gefühlte Bedrohung der ihnen qua Geburt zustehenden Privilegien. An der Mission San José High School kommen die meisten Leistungskursschüler gerade in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern aus asiatisch-amerikanischen Elternhäusern.

Asianness wird mit Leistung assoziiert

Dagegen werden die anspruchsvolleren Kurse, die bei den universitären Zulassungsstellen besonders viele Punkte bringen, von einer Mehrheit der weißen Schülerinnen und Schüler nicht belegt. Da bei den Bewerbungen an einer Spitzenuniversität oft nur die besten 15 Prozent einer Abschlussklasse berücksichtigt werden, wollen weiße Eltern mit einem Schulwechsel sicherstellen, dass ihre Sprösslinge in diesem obersten Segment bleiben.

Bekanntlich werden die Kommandohöhen des US-Kapitalismus nach wie vor von Weißen und insbesondere von weißen Männern besetzt. Bei Google sind 66 Prozent des Führungspersonals weißer Hautfarbe. Allerdings sind im Sillicon Valley bei den Neueinstellungen die asiatisch-amerikanischen Frauen 2019 an ihren weißen Konkurrentinnen vorbeigezogen. Und schon 2010 hatte Google zum ersten Mal mehr asia­tisch-­amerikanische als weiße Männer angeheuert.5 Damit ist Bildung als Vehikel, das den Zugang zu Klassenprivilegien eröffnet, nicht mehr exklusiv den Weißen vorbehalten, schon gar nicht in der Hightech-Branche.

Weiße Eltern schicken ihre Kinder nicht nur auf andere Schulen, sie wollen auch zusätzliche Exzellenz-Krite­rien einführen. Neben Noten und Prüfungsresultaten sollen weitere Bewertungsfaktoren zählen – zum Beispiel vielfältige und „ausgewogene“ Interessen und ein „normales“, stressfreies Schülerdasein.

Doch was normal ist, hängt davon ab, wie man „anormal“ definiert. In den USA fiel das Normale stets mit weißer Identität zusammen. Entsprechend war alles Nichtweiße abartig und marginal.

Speziell wenn unterdrückte Gruppen die Dominanz weißer Männer infrage stellten, wurden sie als unnormal und psychisch krank diffamiert. Als Frauen für ihr Wahlrecht und politische Gleichberechtigung zu kämpfen begannen, hat Mann sie als irrational und übermäßig emotional abgestempelt. Auch heute noch greifen Männer zu der rhetorischen Keule, dass Frauen psychisch nicht belastbar seien.

Im Fall der Studentinnen und Studenten mit asiatischen Wurzeln werden die exzellenten akademischen Leistungen an den besten Highschools keineswegs als Krönung des American Dream gefeiert. Vielmehr werden sie von weißen Eltern als Resultat eines kranken, stressigen, engstirnigen Bildungsehrgeizes denunziert, der den armen Kids ein normales Lebens mit viel Freizeit, Sport und Geselligkeit vorenthält.

Dieses Paradox ist von hoher Ironie. Noch vor 50 Jahren pflegten die Weißen die asiatischen US-Amerikaner im Vergleich zu Schwarzen und Latinos als „mustergültige“ Minderheit zu beschreiben. Der Verweis auf die mustergültige Minderheit sollte natürlich nur die Vormachtstellung der Weißen unterstreichen: Den Opfern struktureller Diskriminierung wurde bedeutet, dass sie an ihrer misslichen Lage selbst schuld seien und dass die Chancengleichheit für Nichtweiße allein eine Frage des persönlichen Ehrgeizes sei.

Indem Schwarze und Latinos als Faulenzer dastanden, blieben die USA das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und nicht der rassistischen Diskriminierung. Wie die asiatischen US-Amerikaner demonstrierten, war der soziale Aufstieg ja zu schaffen, wenn man nicht so faul war wie die „Braunen“ und die „Schwarzen“.

Das war einmal. Heute gelten asiatische US-Amerikaner nicht mehr als nacheifernswerte Vorbilder für Bildungsdrang und Familiensinn. Seitdem sie die weißen Kinder der oberen Mittelklasse verdrängen und die alte Bildungshierarchie auf den Kopf stellen, werden ihre Eigenheiten schlechtgeredet. Statt den Ehrgeiz und die Disziplin zu bewundern, mit der sich diese Schülerinnen und Schüler bereits an der Highschool den Unterrichtsstoff auf College-Niveau aneignen, wird ihnen übertriebenes Leistungsstreben angekreidet.

Die Art und Weise, wie die „weißen Amerikaner“ heute ihre soziale und ökonomische Vormachtstellung behaupten wollen, erinnert stark an die frühere Behandlung der Juden durch das weiße angelsächsische, protestantische Establishment (WASP).

Der Soziologe Jerome Karabel hat ausführlich dokumentiert, wie die Elite­colleges in den USA bei ihren Aufnahmeverfahren die Prinzipien eines leistungsorientierten Wettbewerbs aufgaben, als nach 1945 die erste und zweite Generation jüdischer Immigranten in den Highschools mit Spitzenleistungen Furore machten. Damals gab es auch in Harvard, Yale und Princeton koordinierte Bemühungen, die Aufnahme jüdischer Studenten zu begrenzen – mittels neuer Kriterien wie „Charakter“ und extrem subjektiver Maßstäbe wie „Männlichkeit“, „Persönlichkeit“ und Führungsstärke“.6

In den 1950er Jahren hat die Aufnahmekommission der Harvard University eine Liste von Handicaps aufgestellt wie „Neurosen“ oder „homosexuelle Neigungen“.7 Wie Karabel zeigt, entspricht die „zeitgemäße“ Defini­tion von „Leistung“ jeweils den Werten und Interessen derer, „die bestimmte kulturelle Ideale durchzusetzen vermögen“.8 Auch die neue weiße Flucht vor den „nicht ausgewogenen“ asiatisch-amerikanischen Schülern und Eltern etabliert neue Definitionen von Leistung, mit denen die schon Mächtigen ihre Macht absichern.

1 Willow Lung-Amam, „Trespassers? Asian Americans and the battle for suburbia“. Berkeley (University of California Press) 2017, S. 57.

2 Suein Hwang, „The New White Flight“, Wall Street Journal, 19. November 2005.

3 Suein Hwang (siehe Anmerkung 2).

4 Tomás R. Jimenez und Adam L. Horowitz, „When white is just alright: how immigrants redefine achievement and reconfigure the ethnoracial hierarchy“, American Sociological Review, Oktober 2013, S. 850.

5 Allison Levitsky, „For the first time, White men weren’t the largest group of U.S. hires at Google this year“, Silicon Valley Business Journal, San José, 5. Mai 2020.

6 Jerome Karabel, „The chosen: The hidden history of admission and exclusion at Harvard, Yale, and Princeton“, Boston (Houghton Mifflin Harcourt) 2005, S. 2.

7 Jerome Karabel (siehe Anmerkung 6), S. 253.

8 Jerome Karabel (siehe Anmerkung 6), S. 5.

Aus dem Englischen von Oliver Pohlisch

Richard A. Keiser ist Professor für Politikwissenschaft und Amerikastudien am Carleton College in Minnesota.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Richard A. Keiser