08.10.2020

Libanon, Staat unter Einfluss

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Libanon, Staat unter Einfluss

Der Zedernstaat war seit jeher Ziel ausländischer Interventionen. Das ist mit ein Grund dafür, dass es bis heute keine funktionierenden Institutionen gibt, die in der Lage wären, mit den riesigen Problemen des Landes fertigzuwerden.

von George Corm

Israelische Panzer in Beirut, 1982 SARIS/picture alliance/ap
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Seit dem 19. Jahrhundert war der Libanon dem Interventionismus von Großmächten ausgesetzt, die ihm den tragischen Status eines Pufferstaats aufzwangen. 1833 wurde das Land von den Truppen Ibrahim Paschas besetzt, Sohn des mächtigen Muhammad Ali Pascha, der für den osmanischen Sultan Mah­mud II. in Ägypten als Statthalter regierte und zugleich dessen erklärter Gegner war. Auf Druck der Briten und Franzosen musste sich Ibrahim, der nach dieser eigenmächtigen Ak­tion wie sein Vater vom Sultan als „Rebell“ gegeißelt wurde, 1840 wieder aus dem libanesischen Gebirge zurückziehen. Auch die europäischen Großmächte Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen waren sich einig, dass Muhammad Alis Bestrebungen, den Sultan zu entmachten, inakzeptabel waren.

Im Gefolge der britisch-französischen Rivalität um den Einfluss über die osmanische Provinz brachen zwischen maronitischen und drusischen Bauern erstmals blutige Konflikte aus, die eine jahrhundertelang funktionierende Symbiose zerstörten. 1860 verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen den Christen und den Drusen, die mehr oder weniger von der osmanischen Armee unterstützt wurden. Frankreich, das damals von Napoleon III. regiert wurde, schickte seine Truppen an die libanesische Küste und die europäischen Mächte einigten sich mit dem Osmanischen Reich auf eine Verkleinerung seines libanesischen Territoriums.

In Anlehnung an das damalige „Kleinlibanon“ proklamierten die französischen Mandatsbehörden am 1. September 1920 „Großlibanon“. Aber auch diesem Land war es nicht vergönnt, sich unabhängig von den imperialistischen Rivalitäten Europas beziehungsweise des „Westens“ zu entwickeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg mobilisierten auch die USA die drei monotheistischen Religionen Libanons gegen den Einfluss der Sowjetunion.

Man muss sich kurz in Erinnerung rufen, dass der konfessionelle Kommunitarismus im Libanon auf einen Beschluss des Hochkommissars unter der Mandatsmacht Frankreich (1920–1943) von 1936 zurückgeht. Dieser Beschluss institutionalisierte die religiösen Gemeinschaften als Teil der öffentlichen Ordnung. So sind etwa bis heute Libanesinnen und Libanesen unterschiedlicher Konfession gezwungen, ins Ausland (Zypern, Türkei oder Frankreich) zu reisen, wenn sie heiraten wollen.

Hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen antagonistischen Kräften, fiel es dem Pufferstaat Libanon stets schwer, sich zu emanzipieren und die eigenen Widersprüche zu überwinden. 1949 veröffentlichte der libanesische Journalist Georges Naccache (1904–1972), Gründer der Tageszeitung L’Orient (heute L’Orient-Le Jour), einen aufsehenerregenden Artikel, der ihn ins Gefängnis brachte. „‚Weder Westen noch Arabisierung‘: Das Bündnis zwischen Christentum und Islam fußt auf einer doppelten Ablehnung“, schrieb Naccache und meinte damit den ungeschriebenen Nationalpakt, der kurz nach der Unabhängigkeit 1943 die Verteilung politischer Ämter nach konfessioneller Parität regelte.

„Welche Art Einheit soll aus einer solchen Formel hervorgehen?“, fragte Naccache. „Was die eine Hälfte der Libanesen nicht will, ist klar. Was die andere Hälfte nicht will, ist klar. Was aber die beiden Hälften gemeinsam wollen, das ist nicht klar. Ein Staat ist nicht die Summe zweier Unvermögen – und aus zwei Negationen wird niemals eine Nation.“1

Später wurde Georges Naccache zu einem großen Verehrer von General Fuad Schehab (1902–1973), der zunächst Oberbefehlshaber der libanesischen Armee und dann von 1958 bis 1964 Präsident der Libanesischen Republik war. Schehab, der eigentliche Gründer des libanesischen Staats, brachte eine Reihe von Reformen auf den Weg und ließ sich dabei vom französischen Wirtschaftswissenschaftler und Dominikanerpater Louis-Joseph Lebret (1897–1966) beraten.

Zwischen 1960 und 1964 ließ Le­bret eine sozioökonomische Studie über den Lebensstandard in den verschiedenen Regionen des Libanon durchführen, die die gravierende soziale Ungleichheit im Libanon zutage brachte: Während eine Minderheit der Bevölkerung sehr vermögend war, herrschte in den ländlichen Randregionen große Armut.

In seinem Vortrag „Der Libanon am Wendepunkt“2 warnte Lebret schon 1962 vor den explosiven Folgen dieser krassen Ungleichheit. Ab 1975 kam es tatsächlich im ganzen Land zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den „christlichen“ Parteien, vor allem der von Pierre Gemayel (1905–1984) gegründeten Parti des Pha­langes, und der Libanesischen Nationalbewegung Mouvement Nationale libanais (MNL), die unter der Führung von Kamal Dschumblatt (1917–1977), dem Vorsitzenden der drusischen Gemeinschaft, die nichtkonfessionellen Gruppierungen versammelte. Der MNL forderte eine größere Gleichheit zwischen Christen und Muslimen, wobei Letztere von den bewaffneten palästinensischen Organisationen unterstützt wurden, von denen viele 1970 aus Jordanien vertrieben worden waren und im Libanon Fuß gefasst hatten.3

Im Unterschied zu Präsident Schehab mit seinem Reformwillen und der Absicht, einen starken Staat zu errichten, glaubten die konservativen christlichen Milieus, die Stärke des Libanon liege gerade in seiner Schwäche. Die muslimische Bourgeoisie wiederum forderte mehr Rechte in der neuen, unabhängigen Republik und unterstützte die bewaffneten palästinensischen Organisationen, um den Druck auf die wenig kompromissbereite christliche Bourgeoisie zu erhöhen. Leidenschaftlicher Fürsprecher einer konfessionellen Diversität war der Bankier und Wirtschaftsliberale Michel Chiha (1891–1954). Er warnte sehr früh vor den Gefahren, die seinem Land durch die israelische Politik gegenüber dem Libanon und den Palästinensern drohten.4 Weitsichtig erkannte Chiha auch den existenziellen Konflikt zwischen Israel, das auf konfessionelle Exklusivität setzte, und dem auf einem friedlichen Pluralismus gründenden Libanon.

In gewissen, eher abseitigen maronitischen Kreisen entstand jedoch die Idee, dass wenn die Juden in Palästina ihren eigenen Staat bekommen haben, die Christen doch auch einen haben könnten. Warum sollten sich die Christen und Juden als Minderheiten nicht gegen die muslimische Mehrheit verbünden? Eine solche Vorstellung fand ihren Widerhall auch in vielen Schriften von Israelis, die eine Destabilisierung des Libanon und anschließende Aufteilung des Landes zwischen Christen und Muslimen befürworteten.

Was folgte, ist bekannt: 1978 besetzte Israel einen Teil des südlichen Libanons, dann drang die israelische Armee im Sommer 1982 bis nach Beirut vor, wo Phalange-Milizen in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila unter den Augen der verbündeten israelischen Soldaten ein Massaker an palästinensischen Zivilisten anrichteten. Milizenführer Baschir Gemayel, der Sohn von Pierre Gemayel, wurde kurz darauf vom libanesischen Parlament, das von israelischen Panzern umstellt war, zum Präsidenten gewählt.

Einige Tage später kam er bei einer Explosion ums Leben, die das Hauptquartier der Phalangisten zerstörte. Sein Bruder Amin folgte ihm ins Präsidentenamt und ließ die hauptsächlich von Schiiten bewohnten Vororte im Süden von Beirut bombardieren. Angesichts des herrschenden Chaos wurde der Rückzug der palästinensischen Kämpfer aus dem Libanon schließlich von einer multinationalen Truppe überwacht.

Auch das Ende der interkonfessionellen Konflikte 1990 heilte den Libanon nicht von seiner originären Schwäche und der Unfähigkeit, zu einem Staat zu werden, der diesen Namen verdient. Im Gegenteil: Premierminister Rafik Hariri, ein vom saudischen König protegierter Geschäftsmann, der mit einer kurzen Unterbrechung von 1992 bis 2004 amtierte und 2005 bei einem Attentat ums Leben kam, etablierte im Libanon ein System der Rentenökonomie, als verfügte das Land über beträchtliche Ressourcen.

Hariri schloss mit zahlreichen Ländern Freihandelsabkommen, was sich negativ auf die industriellen und landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten des Libanon auswirkte. Ein fixer Wechselkurs, der das Libanesische Pfund an den Dollar koppelte, und ein ungewöhnlich hohes Zinsniveau bei Staatsanleihen in Landeswährung führten rasch zu einer ungesunden Anhäufung von Schulden. Vor allem profitierte die wohlhabende Schicht des Landes, die schnell enormen Reichtum anhäufte, indem sie sich zinsgünstig Dollar lieh, diese in Libanesische Pfund tauschte und damit Staatsanleihen kaufte.

Zur selben Zeit wurden die Bewohner der schönsten Ecken der Hauptstadt enteignet, damit das Bau- und Immobilienunternehmen Solidere das einmalige Stadtzentrum Beiruts in eine vulgäre Kopie der Glas- und Stahlstädte am Golf verwandeln konnte. Über fünfzehn Jahre hinweg wurde die Stadt, die durch die langen Kriegsjahre schon verheert war, regelrecht kaputtgebaut. Davon zeugt etwa der Bau einer riesigen Moschee im osmanischen Stil, der die Schönheit des zentralen Märtyrerplatzes zerstört hat.

Hariris Wirtschaftspolitik hat die libanesische Ökonomie nachhaltig geschwächt. In den ersten Jahren seiner Amtszeit lag das Wirtschaftswachstum durch den Wiederaufbau zwar bei 6 bis 7 Prozent. Doch nur wenige Jahre später rutschte es ins Minus. Die Regierung kümmerte sich wenig um Steuergerechtigkeit, die Einkommensteuer war mit maximal 10 Prozent empörend niedrig, obwohl das Land eigentlich eine Sondersteuer auf während des Kriegs gebildete große Vermögen gebraucht hätte.

Während Hariris Amtszeit verließen viele junge, gut ausgebildete Libanesinnen und Libanesen das Land. Andere studierten mithilfe von Stipendien, die die Regierung tausendfach vergab, in Europa oder den USA. Diese Großzügigkeit erklärt, warum Rafik Hariri und sein Sohn Saad bei einem Teil der Bevölkerung immer noch hohes Ansehen genießen.

Heute droht die libanesische Wirtschaft zu kollabieren. Die verfassungswidrige Maßnahme, Bankeinlagen de facto einzufrieren (siehe nebenstehenden Text von Doha Chams), offenbart eine Art „Bankokratie“, die auf der Welt einzigartig ist. Sie ist das Ergebnis einer desolaten Führung des Bankensektors und der libanesischen Zentralbank, die seit 30 Jahren von demselben Mann geleitet wird: Riad Salameh kam am 1. August 1993 ins Amt – durch Rafik Hariri, dessen Vermögen er in der Geschäftsbank Merrill Lynch verwaltet hatte. Mittlerweile hat die Abwertung des Libanesischen Pfund einen großen Teil der Mittelklasse ruiniert und die Armutsrate auf 50 Prozent ansteigen lassen.

Die regierende politische Kaste ist indessen pausenlos mit konfessionellen Manövern beschäftigt. Als sei mit der Wirtschaft alles in Ordnung, lebt sie in einer Blase und vergisst das leidende Volk. Und die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten Reformen sind auch nicht dazu geeignet, die libanesische Wirtschaft wieder aufzupäppeln. Geplant sind unter anderem die Privatisierungen öffentlicher Unternehmen und der Verkauf von staatlichem Grund und Boden. Zu allem Unglück kam dann noch die gewaltige Explosion vom 4. August 2020 hinzu, die die östlichen Viertel der Hauptstadt verwüstete. Niemals zuvor hat der Zedernstaat eine Katastrophe solchen Ausmaßes erlebt.

Die dringlichsten Reformen, die der Libanon jetzt braucht, sind eine rationale Gestaltung der durch die zahl­reichen klientelistischen Subventionen künstlich aufgeblähten Haushaltsausgaben sowie die Einführung einer einheitlichen Einkommensteuer und die Besteuerung großer Vermögen. Zudem müssten die produktiven Bereiche der Wirtschaft gefördert, die galoppierende Inflation gestoppt und die ärmsten Bevölkerungsschichten durch eine Erhöhung der Sozialleistungen unterstützt werden. Und schließlich wäre es eine sinnvolle wirtschaftliche Maßnahme, die verschiedenen Entschädigungs­kassen zu schließen, die mittlerweile keine Existenzberechtigung mehr haben, wie die Kassen für die Vertriebenen des Bürgerkriegs (1975–1990) und des israelischen Einmarschs von 1982.

1 L’Orient, Beirut, 10. März 1949.

2 Siehe Stéphane Malsagne, „Louis-Joseph Lebret, Chronique de la construction d'un État. Journal au Liban et au Moyen-Orient (1959–1964)“, Paris (Geuthner) 2014.

3 Siehe Alain Gresh, „Das Ende einer Revolte. 50 Jahre Schwarzer September in Jordanien“, LMd, September 2020.

4 Michel Chiha, „Palestine“, Beirut (Éditions du Trident) 1966.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

George Corm ist Universitätsprofessor und ehemaliger Finanzminister des Libanon und Autor, unter anderem von „Le Liban contemporain. Histoire et société“, Paris (La Découverte) 2012.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von George Corm