10.09.2020

Leichte Beute Libyen

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Leichte Beute Libyen

Der am 21. August vereinbarte Waffenstillstand nährt Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Dafür bräuchte es allerdings ein Einlenken der diversen internationalen Akteure im Land.

von Jean Michel Morel

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Seit dem Volksaufstand vom Februar 2011, den Luftangriffen der Nato-Staaten und dem Tod von Staatschef Muammar al-Gaddafi versinkt Libyen im Chaos. Die drei großen Regionen des Landes haben sich in brudermordende Inseln verwandelt.1 Die Kyrenaika im Osten mit dem Sitz des Abgeordnetenrats in Tobruk ist heute die Hochburg von General Khalifa Haftar, der bis zu seinem Abfall in den 1980er Jahren als Offizier in Gaddafis Armee diente und heute die sogenannte Libysch-Nationale Armee (LNA) anführt.

Im Westen, in Tripolitanien, herrscht die von der UNO anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA), die diesen Namen eigentlich nicht verdient und die den Muslimbrüdern nahesteht. Und in der multiethnischen Region Fessan im Süden des Landes, wo ein Viertel des libyschen Erdöls gewonnen wird, herrschen die Tubu-Milizen, die zwischen beiden Lagern gespalten sind.

Die GNA wird aktiv von der Türkei unterstützt und in geringerem Ausmaß auch von Katar, hinzu kommt die diskretere Hilfe Italiens und Deutschlands. Ihre Streitkräfte bestehen im Wesentlichen aus Milizen der Koali­tion Fadschr Libiya (Morgendämmerung Libyens).

Im Gegenlager hat Khalifa Haftar ebenfalls lokale Milizionäre sowie sudanesische und tschadische Söldner um sich versammelt (siehe den nebenstehenden Artikel von Akram Kharief). Seine ausländischen Paten sind Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien – also die Anti-Muslimbrüder-Front – und vor allem Russland, das seine Position am Mittelmeer stärken will. Hinzu kommt Frankreich, das zwar nicht mit Tripolis gebrochen hat, aber lieber Haftars Lager als Sieger ­sähe.2

Die zwiespältige Position der Regierung in Paris war schon im Juli 2019 durch die Entdeckung französischer Raketen nahe Tripolis ans Licht gekommen, die Haftars Armee zurückgelassen hatte.3 Heute, gut ein Jahr später, wird die Unterstützung für Haftar immer problematischer. Erst im Juni wurden in Tarhuna, in einem Gebiet, das bis dahin von einer Pro-Haftar-Miliz kontrolliert worden war, mehrere Massengräber entdeckt.4 Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats müsste Frankreich sich eigentlich an die internationalen Vereinbarungen halten und die von der UNO anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft unterstützen.

Mit seiner Unterstützung für Haftar steht Frankreich in Frontalopposition zur Türkei, die seit Anfang dieses Jahres massiv in Libyen präsent ist. Das türkische Interesse an der Region geht bis ins 16. Jahrhundert zurück, als die Osmanen den Maghreb besetzten und drei Provinzen mit den Hauptstädten Algier, Tunis und Tripolis errichteten. Der türkische Präsident Erdoğan will das 1920 zerschlagene Reich in Nordafrika zwar nicht wiederherstellen, rühmt aber regelmäßig dessen einstige Größe.

Außerdem nutzt er jede Gelegenheit, die Fähigkeiten seiner Armee jenseits der türkischen Grenzen unter Beweis zu stellen. Das zeigen nicht nur die Aktivitäten in Libyen, sondern auch die Invasion in Nordsyrien, die Einsätze im irakischen Kurdistan, die Planungen für eine Militärbasis im Jemen, die militärischen Einrichtungen in Katar und die Drohung, sich im Konflikt um Berg-Karabach militärisch an die Seite Aserbaidschans zu stellen.

Erdoğan ist also fest entschlossen, das türkische Einflussgebiet zu vergrößern. 2018 zählte die regierungsnahe Zeitung Yeni Akit zehn Länder auf, in denen türkische Soldaten stationiert sind, und verkündete unverhohlen: „Die Türkei kehrt in ihre osmanischen Gebiete zurück.“ Der expansionistische Drang wird auch durch die Reaktivierung des außenpolitischen Konzepts „Mavi Vatan“ (Blaue Heimat) deutlich, das der ehemalige Admiral Cem Gürdeniz 2006 entwickelt hatte. Es legt den Akzent nicht auf Diplomatie, sondern auf die rigorose Durchsetzung der türkischen Interessen im Mittelmeerraum. Die militärische Unterstützung Ankaras für die GNA ist ein perfektes Beispiel für diesen Ansatz.

Der Bürgerkrieg in Libyen schwelt trotz diverser internationaler Konferenzen – zuletzt im Januar 2020 in Berlin – immer weiter. So ist das Land eine leichte Beute für eine entschlossene Regionalmacht. Und eine solche „Trophäe“ würde Präsident Erdoğan nicht zuletzt dabei helfen, seine Position zu Hause zu festigen5 , wo die Bevölkerung immer kritischer wird.

Moskau spekuliert auf einen eingefrorenen Konflikt

Bei den Kommunalwahlen im März 2019 erlitt seine Partei AKP schwere Niederlagen. Die Opposition eroberte unter anderem die Rathäuser von Istanbul und Ankara. Zwei Abspaltungen von der AKP in diesem Jahr zeugen von großen Unstimmigkeiten innerhalb der Präsidentenpartei. „Innen- und Außenpolitik der Türkei sind eng verwoben. Die Außenpolitik dient als Treibstoff für die Innenpolitik“, schrieb der türkische Journalist Fehim Taştekin am 21. Juni auf der Website daktilo1984.

Für die Türkei ist Libyen auch die Ausgangsbasis für eine wirtschaftliche und ideologische Expansion, unter anderem durch die Rückeroberung der Netzwerke des Predigers Fethullah Gülen in Subsahara-Afrika. Bis zum gescheiterten Staatsstreich 2016 war Gülen ein Verbündeter Erdoğans.6

Um sich auf libyschem Boden festzusetzen, scheut der türkische Präsident keine Kosten: weder finanzielle, trotz der angeschlagenen türkischen Wirtschaft, noch personelle, vor allem durch den Einsatz syrischer Kämpfer, die zuvor bei der Invasion von Rojava mitgekämpft haben. Ankara liefert auch massive materielle Unterstützung, etwa durch die Installation von Flugabwehrraketensystemen NIM-23 Hawk und den Einsatz von Bayraktar-TB2-Drohnen, die nach Angaben von Beobachtern bei den Auseinandersetzungen mit Haftars LNA seit Frühjahr 2020 den entscheidenden Vorteil gebracht haben.

Bisher scheint dem „Sultan von Ankara“ alles zu gelingen. Bereits Ende November 2019 definierte er mit Einverständnis von GNA-Chef ­Fajis al-Sarradsch die ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) des libyschen Fest­landssockels neu, um dadurch Zugang zu den Erkundungs- und Erschließungsgebieten für Erdgas im östlichen Mittelmeer zu erhalten, die allerdings auch von Zypern und Griechenland beansprucht werden (siehe die Artikel von Niels Kadritzke auf Seite 1 und von Paul Hockenos auf Seite 9). Die Türkei muss 84,4 Prozent ihrer benötigten fossilen Brennstoffe importieren, und Libyen ist der drittgrößte afrikanische Exporteur des schwarzen Goldes.

Militärisch hat der türkische Präsident entscheidend gepunktet, indem er den vier großen Milizen, die die GNA unterstützen, half, die LNA zurückzuschlagen und damit den Belagerungsring zu sprengen, der Tripolis seit April 2019 umschloss. Nach der Niederlage der Haftar-Truppen könnten die Küstenstadt Sirte, die die Regierung der Nationalen Übereinkunft im Januar 2020 verloren hatte, und die riesige Luftwaffenbasis al-Dschufra in der Wüste zurückerobert werden.

Es ist jedoch noch nicht ausgemacht, dass Erdoğans Verbündete diese Ziele erreichen. Am 5. Juli gab es einen Luftangriff auf die Basis al-Watiya, die die GNA der Türkei zur Verfügung gestellt hatte. Der Angriff, zu dem sich niemand bekannte, wurde zuerst Ägypten zugeschrieben, dessen Jagdflugzeuge von der Luftwaffenbasis Sidi Barrani nahe der libyschen Küste operieren können, dann Frankreich, das im Februar 2019 skrupellos Tubu-Rebellen bombardiert hatte, die vor Haftars LNA flohen.

Und schließlich machte die Hypothese von einer Intervention der Vereinigten Arabischen Emirate die Runde, die eine Basis in al-Khadim in Libyen besitzen und Zugang zu der ägyptischen Basis in Sidi Barrani haben. In jedem Fall kann die Aktion nicht ohne stillschweigende Zustimmung Russlands erfolgt sein, weshalb sich Ankara auf Proteste und Drohungen beschränkte, denen keine Taten folgten.

Russland ist nämlich der andere entscheidende Protagonist in diesem Konflikt, mit dem die Türkei rechnen muss. Moskau hat sich nicht an dem zerstörerischen Feldzug des Westens von 2011 beteiligt und will aus Li­byen einen neuen Stützpunkt machen, um seinen Einfluss im Maghreb und in Subsahara-Afrika auszuweiten und das durch den Krieg in Syrien erworbene Mitspracherecht im Nahen Osten zu festigen. Die von Russland entsandten Söldner und syrischen Pro-Assad-Kämpfer sind der entscheidende Trumpf für Haftar. Wenn sie aus irgendeinem Grund nicht an der Front sind, gerät er in große Schwierigkeiten wie bei seiner jüngsten Niederlage vor den Toren von Tripolis.

Beim „Libyen-Plan“ geht Moskau ebenso pragmatisch wie zynisch vor. Es hilft seinem Vasallen, sorgt aber mit der Dosierung seiner Unterstützung dafür, dass er keinen vollkommenen Sieg davonträgt. So landeten einerseits im Mai 2020 Mig-29 und Suchoi Su-24 in al-Dschufra, 800 Kilometer von Tripolis entfernt. Die Basis steht unter Kontrolle der Haftar-Truppen, und die Landung russischer Jagdflugzeuge war eine freundliche Warnung an die Türkei und die Regierung in Tripolis, die gern von dort aus in Richtung Süden vordringen würde, wo der Boden reich an Erdöl, Erdgas, Gold und nicht zuletzt Grundwasser ist. Andererseits war Russland offensichtlich nicht bereit, mit seiner Luftwaffe Haftars Niederlage vor Tripolis zu verhindern.

Wie in Syrien7 gehen die Russen auch in Libyen Kompromisse mit der Türkei ein. Ankara unterstützt zwar das gegnerische Lager, ist aber zugleich ein Wirtschaftspartner für Moskau und faktisch ein Verbündeter, was der Nato ebenso Probleme bereitet wie der Europäischen Union. Nur so lässt sich erklären, dass die Gegnerschaft nie zu einer direkten Auseinandersetzung führt. In Syrien und Libyen stimmen die Interessen beider Länder zwar nicht immer überein, aber man hat den Eindruck, dass Putin und Erdoğan wissen, wie weit sie gehen können.

Russland versteht sich bestens auf „eingefrorene Konflikte“, wie man in der Ukraine, in Georgien und Moldawien sehen kann. Mit einem vergleichsweise unaufwendigen Engagement sichert sich Moskau seinen destabilisierenden Einfluss und blockiert damit jede Aussicht der drei Staaten auf einen Beitritt in die Europäische Union oder in die Nato.

Für Moskau ist es eine realistische Perspektive, in Libyen einen weiteren „eingefrorenen Konflikt“ zu schaffen, um sich wie in Syrien eine Reihe von Militärbasen zu erhalten. Trotz der versöhnlichen Erklärungen von Außenminister Sergei Lawrow dürfte deshalb die Fortsetzung eines schwelenden Krieges ohne Sieger und Besiegte die vom Kreml angestrebte Option sein.

In Libyen zeichnet sich also ein „syrisches Szenario“ mit einer Teilung des Landes in Einflusszonen ab, eine Art türkisch-russisches Kondominium, um die Beute zu teilen – allerdings nicht zu gleichen Teilen. Der jüngste Appell aus Frankreich, Italien und Deutschland, „die Kampfhandlungen sofort und ohne Vorbedingungen einzustellen und jede weitere militärische Aufrüstung im Land zu beenden“,8 wird an der Situa­tion sicher nichts ändern, zumal US-Präsident Donald Trump kein großes Interesse für den Konflikt zeigt.

Hoffnung schürte allerdings ein am 21. August ausgerufener sofortiger Waffenstillstand, den sowohl die GNA als auch der Chef des Abgeordnetenrats in Tobruk, Aguila Saleh, in einer koordinierten Erklärung verkündeten. Ob diese Waffenruhe – anders als frühere – halten wird und zum Ausgangspunkt für Gespräche über die Lösung des Konflikts werden kann, bleibt allerdings abzuwarten. Ein Sprecher von Haftars LNA lehnte den Vorstoß wenige Tage später bereits ab.

Die jüngste Entwicklung könnte sich allerdings schon deshalb als positiv erweisen, weil sie die eigenständige Rolle Salehs unterstreicht, der durch die militärischen Misserfolge Haftars mehr politisches Gewicht im Ostteil des Landes bekommen hat. Neben den UN begrüßten auch Ägypten, Russland und die VAE die Feuerpause, wodurch sich der Druck auf Haftar erhöhen dürfte, einer politischen Lösung zuzustimmen und seine Großmacht­fan­ta­sien aufzugeben.

Doch an einem ändert auch der jüngste Waffenstillstand nichts: Über die Zukunft Libyens entscheiden vor allem internationale Akteure – das libysche Volk fragt niemand.

1 Siehe Patrick Haimzadeh, „Die Ohnmächtigen von Tripolis“, LMd, Oktober 2012.

2 Siehe Ariane Bonzon, „Le désastreux casting de la France en Libye“, Slate, Paris, 25. Juni 2020, www.slate.fr.

3 Siehe „L’embarras de Paris après la découverte de missiles sur une base d’Haftar en Libye“, Le Monde, 10. Juli 2019.

4 „UN chief expresses shock at discovery of mass graves in Libya“, The Guardian, 13. Juni 2020.

5 Siehe Jean Marcou, „Die Welt aus der Sicht Erdogans“, LMd, Mai 2017.

6 Siehe Günter Seufert, „Anatomie eines Putsches“, LMd, August 2016.

7 Siehe Akram Belkaïd, „Endspiel in Syrien“, LMd, November 2019.

8 „Gemeinsame Erklärung zu Libyen von Deutschland, Frankreich und Italien“, 25. Juni 2020, www.auswaertiges-amt.de.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Jean-Michel Morel ist Schriftsteller und Mitglied des Redaktionskomitees von Orient XXI; zuletzt erschien von ihm der Roman „Retour à Kobané“, Jongny (Éditions A-Eurysthée) 2018.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Jean Michel Morel