10.09.2020

Auf Sand gebaut

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Auf Sand gebaut

Das albanische „Wirtschaftswunder“ beruht auf Niedriglöhnen und Baukorruption

von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin

Stadtzentrum von Tirana OLAF SCHÜLKE/picture alliance/SZ photo
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Die Strandpromenade im Süden der Hafenstadt Durrës. Zur Zeit der national-kommunistischen Diktatur (1945–1991) grenzten hier Pinienwälder an den 20 Kilometer langen Sandstrand. Die Bebauung bestand aus einigen wenigen staatlichen Hotels und den Villen der Funktionäre aus dem Blloku-Viertels – eines für die Staatsführung reservierten Stadtteils in der Hauptstadt Tirana. Nach dem Sturz des Regimes, das Albanien hermetisch abgeschottet hatte, nahm die Bautätigkeit rasant zu. Die Bäume wurden gefällt, bald verstellten Apartmenthäuser und Hotels alle Zugänge zum Meer. Seit dem schweren Erdbeben vom 26. November 2019 klaffen allerdings deutliche Lücken in der Bebauung.

„Viele Häuser wurden auf Sand oder sumpfigem Boden errichtet und ihr Fundament reicht nicht besonders tief“, erzählt Luljeta Bozo, Professorin für Bauingenieurwesen. „Es war klar, dass der erste Stoß sie zum Einsturz bringen würde. Zum Glück waren viele der Häuser unbewohnt, weil es reine Geldwäscheobjekte waren. Sonst hätte es noch sehr viel mehr Tote gegeben.“ Offiziell kamen 51 Menschen ums Leben.

Albanien liegt in einem Gebiet mit erhöhtem Erdbebenrisiko. Die dramatischen Folgen der Naturkatastrophe gehen allerdings auf das Konto einer neoliberalen Deregulierung im Mafiastil, denn um Bebauungspläne schert sich hier niemand. Jedenfalls nicht die Leute, die die Macht und das Geld haben.

Luljeta Bozo hatte früh gewarnt. Nachdem am 21. September 2019 mehrere heftige Erdstöße erhebliche Sachschäden verursacht hatten, warnte sie vor einem zwangsläufigen Nachbeben und der hohen Gefährdungslage für illegale Bauten. „Man hat mich als verrückte Alte abgetan und nichts unternommen“, beklagt sie. Die einzige Reaktion der Behörden war, zwei Journalisten, die ebenfalls auf die Gefahr hingewiesen hatten, wegen Verbreitung von Falschinformationen vorübergehend festzunehmen.1

Das Dorf Thumana, 30 Kilometer nördlich von Tirana, war neben Durrës am schwersten vom Erdbeben betroffen. Auch hier ist eine klaffende Leere zurückgeblieben. Vereinzelt erinnern noch Schutthaufen und zerbrochene Dachziegel an die eingestürzten Gebäude und die verschwundenen Nachbarn. „Die meisten Häuser in Thumana entstanden Anfang der 1980er Jahre“, erklärt Luljeta Bozo. „Damals wurden alle Mittel in den Bau von hunderttausenden Minibunkern gesteckt, die zur Landesverteidigung an jeder Straßenkreuzung errichtet wurden. Für zivile Bauten fehlte es dann an Zement, weshalb diese jetzt so leicht eingestürzt sind.“

In Thumana tötete das Erdbeben 25 Menschen. Die Überlebenden warten noch immer auf die versprochenen staatlichen Hilfen; in den vergangenen drei Jahrzehnten bildeten die Überweisungen von Auslandsalbanern hier die wichtigste Einnahmequelle. Einige, die obdachlos geworden sind, konnten bei Verwandten oder Freunden unterkommen, andere kampieren noch immer in den eilig aufgestellten Zelten.

Familie Fifo hat in einer Garage Zuflucht gefunden. Ihr einziges Einkommen ist der Lohn der Mutter, die Schuhe für ein Unternehmen in der Nachbarstadt Fushë-Kruja näht. Verarbeitende Industriezweige wie die Textil- und Schuhbranche boomen. Bei den Firmen handelt es sich häufig um Subunternehmen großer italienischer Marken. Die Löhne sind niedrig, zwischen 150 und 250 Euro im Monat, und das Arbeitsrecht wird häufig umgangen, indem die Produktion in Heimarbeit verlegt wird. Vor allem dieser Branche ist es zu verdanken, dass Albanien sich seit mehreren Jahren hoher Wachstumsraten rühmen kann; 2017 und 2018 kratzte das Wirtschaftswachstum an der 4-Prozent-Marke. Die Arbeitslosigkeit ist von 17,5 Prozent (2014) auf 11,5 Prozent (2020 vor der Coronakrise) gesunken.2

Edi Rama, Vorsitzender der Sozia­listischen Partei (PS) und seit September 2013 Ministerpräsident Albaniens, prahlt immer wieder mit dem „albanischen Wirtschaftswunder“ und behauptet sogar, dass sich die Migrationsrichtung nach Jahrzehnten der Auswanderung umgekehrt habe: Albanien sei für ausländische Investoren und selbst für italienische Arbeitskräfte zum „gelobten Land“ geworden. Die Behauptung wird allerdings von keiner Statistik bestätigt, ganz im Gegenteil: In Relation zur Bevölkerungszahl emigrierten seit 1989 aus keinem anderen europäischen Land so viele Menschen wie aus Albanien. Auch 2018 und 2019 fiel der Wanderungssaldo noch stark negativ aus.3

Im Juni 2015 lüftete der Ministerpräsident im italienischen Sender RAI das Geheimnis hinter dem „Wunder“: „Wir sind ein Land ohne Senat, ohne Gewerkschaften, ohne radikale Linke und ohne Komiker, die Politik machen.“ Die Aktivisten der Gruppierung Organizata Politike (OP) tun alles, um diese Aussage zumindest in Bezug auf die radikale Linke zu widerlegen. 2018 und 2019 waren sie die treibende Kraft hinter den heftigen Studierendenprotesten gegen die Liberalisierung der Hochschulbildung.

„Alles ging vom Fachbereich Architektur aus, dort sollten die Studenten eine Gebühr bezahlen, um ihr Examen ablegen zu dürfen“, erklärt Gresa Hasa, eine der prominentesten Mitglieder der „Bewegung für die Universität“ (Lëvizja për Universitetin) und OP-Aktivistin. „Die Hochschulreform von 2015 sah vor, dass öffentliche und private Universitäten miteinander in Konkurrenz treten, auch beim Eintreiben von staatlichen Geldern. Die Studiengebühren wären stark gestiegen und der Zugang zur Universität wäre für viele noch schwieriger geworden. Ein Studienjahr im Bachelor hätte 350 Euro gekostet, so viel wie ein durchschnittlicher Monatslohn, ein Master-Jahr 1700 Euro.“

Nach einem zweimonatigen Streik verzichtete die Regierung auf die Erhöhung der Studiengebühren. Die Bewegung hat ein neues politische Bewusstsein geschafften. „Das neoliberale Dogma, das seit dem Ende des Sozialismus als unhinterfragbar galt, erhielt einen kräftigen Dämpfer“, sagt Gresa Hasa.

Der Protest erreichte auch die Chrom-Minen von Bulqiza, einer kleinen, verlorenen Ortschaft in den Bergen Zentralalbaniens, nordöstlich der Hauptstadt. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die hiesigen Vorkommen von der Firma AlbChrome ausgebeutet. In den 2000er Jahren wurden die Abbaukonzessionen zunächst an ein italienisches, dann an ein österreichisches Unternehmen erteilt. 2013 übernahm Balfin, die größte albanische Investmentgruppe, die dem Oligarchen Samir Mane gehört, das Geschäft.

Seither mehren sich die Unfälle: Acht Arbeiter starben bereits unter Tage, vierzig weitere wurden verletzt. Während die Löhne seit 2011 bei 400 Euro im Monat stagnieren, steigt die Arbeitsnorm immer weiter: „2013 mussten die Kumpel 40 000 Tonnen Chrom im Jahr abbauen, heute sind es 90 000“, berichtet Elton Debreshi, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Vereinigten Minenarbeiter. Die Gewerkschaft wurde erst im vergangenen November gegründet, davor gab es lediglich eine firmeninterne Arbeitervertretung, die vom Arbeitgeber kontrolliert wurde.

Nachdem sie die neue Gewerkschaft amtlich hatten eintragen lassen, organisierten Debreshi und seine Kollegen eine große Versammlung: „Fünf Tage später wurde ich gekündigt, genauso wie drei andere Kumpel.“ Als einzige Beschäftigungsmöglichkeit bleibt ihnen nun nur noch die Arbeit in den „privaten“ Stollen, die sich mächtige lokale Geschäftsleute nach 1997 angeeignet haben. „Die Löhne sind dort noch niedriger, die Arbeitsbedingungen und der Arbeitsschutz noch schlechter, und außerdem stehen wir Gewerkschafter jetzt auf der schwarzen Liste“, sagt Debreshi.

Die Presse berichtete kaum über den Protest der Minenarbeiter. „Samir Mane hat einen direkten Draht zur sozialistischen Regierung und zu den Medieninhabern“, erklärt Frenklin Elini, ein OP-Aktivist, der in Bulqiza den Kampf der Minenarbeiter unterstützt hat. „Einige Journalisten gaben zu, dass sie die Anweisung erhalten hatten, die Ereignisse nicht zu erwähnen.“

In Tirana kommen die jungen OP-Aktivisten allabendlich im trubeligen Zentrum No Logo zusammen, um über Politik zu diskutieren, Filme zu schauen oder einfach nur abzuhängen. Im selben Haus, einem der wenigen, die noch nicht den Immobilienspekulanten in die Hände gefallen sind, hat auch die neue Gewerkschaft Solidariteti (Solidarität) ihr Büro. Sie versucht die Beschäftigten in der boomenden Callcenter-Branche zu organisieren.

Laut Tonin Preçi, dem Vorsitzenden von Solidariteti, arbeiten in dem Sektor „25 000 bis 30 000 Menschen, das sind 7 Prozent aller Beschäftigten.“ Der Stundenlohn liegt bei 2,50 bis 3 Euro, je nach Kunde und „Kampagne“. Dazu kommen Bonus- und Prämiensysteme, die von Callcenter zu Callcenter variieren und höchst undurchsichtig sind. „Wenn man einen Vertrag unterzeichnet, ist nur der Grundtarif festgelegt“, erklärt Preçi. „Die Boni werden mündlich in Aussicht gestellt und können ohne Erklärung wieder einkassiert werden. Manchmal genügt da schon ein Krankheitstag.“

Tonin Preçi selbst arbeitet für den französischen Multi Teleperformance, der sich als „größter Interaktionsexperte auf dem Markt“ promotet. Das Unternehmen ist in 78 Ländern tätig und steht regelmäßig wegen seiner Arbeitsbedingungen und Personalführung in der Kritik. Im Juli 2019 forderten die in Paris ansässige NGO Sherpa und die internationale Gewerkschaftsföderation UNI Global Union das Unternehmen auf, die Arbeitnehmerrechte zu stärken.4 Von Albanien aus beherrscht Teleperformance vor allem den italienischen Markt, auf dem die albanischen Callcenter ein Quasimonopol innehaben.

„Für den englisch- und französischsprachigen Markt ist die Konkurrenz sehr groß“, gibt der Callcenter-Angestellte Irdi Ismajli zu Protokoll. „Meist befinden sich die Callcenter in den ehemaligen Kolonien. Was Italien angeht, sind die Rumänen unsere einzige Konkurrenz, aber man sagt, die hätten einen zu starken Akzent.“ Als Vollzeitbeschäftigter kann man einschließlich Prämien auf 500 Euro monatlich kommen, ein guter Lohn für albanische Verhältnisse. Doch zunehmend spielen die Firmen verschiedenen Städte gegeneinander aus. „Immer mehr Firmen lassen sich in der Provinz nieder, wo sie pro Stunde 20 bis 30 Cent weniger zahlen als in Tirana“, erzählt Tonin Preçi.

Der Callcenter-Branche scheint als einzige den Optimismus des Ministerpräsidenten zu rechtfertigen. Sie lockt tatsächlich italienische Arbeitskräfte ins Land. „Ich habe einen Kollegen, der aus Bari kommt. In Apulien fand er keine Arbeit. In Tirana kann man mit 500 Euro im Monat zurechtkommen“, berichtet Irdi Ismajli.

Der Auslagerung prekärer Arbeit wollen die beiden Gewerkschafter Is­maj­li und Preçi mit internationaler Solidarität begegnen. „Wir bauen unsere Kontakte immer weiter aus, vor allem im Rahmen der Gewerkschaftsfödera­tion UNI Global, denn das Argument der Arbeitgeber ist immer dasselbe: Wenn ihr bessere Löhne verlangt, suchen sich die Kunden einen attraktiveren Standort.“ Während der Coronapandemie verhängte die Regierung einen sechswöchigen strengen Lockdown, die Callcenter gehörten zu den Ersten, die die Arbeit wiederaufnahmen.

Die rege Bautätigkeit in Tirana könnte in der Tat an einen Wirtschaftsboom glauben lassen. Hochhaustürme sollen für Verdichtung sorgen, um einem möglichen Bevölkerungsanstieg standzuhalten. Nach fragwürdigen Hochrechnungen aus dem Rathaus könnte die Stadtbevölkerung sich in den nächsten zehn Jahren auf 1,8 Millionen vergrößern. Ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung lebt bereits in der Hauptstadt, seit 1991 hat sich die Einwohnerzahl Tiranas auf 900 000 Menschen mehr als verdoppelt.

Vor allem die Landflucht, die während der kommunistischen Ära verboten war, ließ die Stadt innerhalb von zwei Jahrzehnten rasant wachsen, mit einem Wildwuchs an neuen Vierteln. Doch dieser Trend hat sich mittlerweile stark verlangsamt. Die Gesamtbevölkerung Albaniens nimmt kontinuierlich ab: Von 3,27 Millionen Einwohner 1991 auf 2,86 Millionen 2019.5

Das vom italienischen Architekten Stefano Boeri ersonnene Projekt „Tirana 2030“ soll aus der Stadt eine „grüne Metropole“ machen. Bürgermeister Erjon Veliaj, ein Vertrauter des Ministerpräsidenten, verspricht, „zwei Millionen Bäume zu pflanzen“. Der zen­tra­le Skanderbeg-Platz wurde dennoch autofreundlich umgestaltet und verfügt nun über einen großen Parkplatz. Überall in der Innenstadt sind Einkaufszentren entstanden.

Eine neue Ringstraße, die demnächst den Verkehrsfluss verbessern soll, durchschneidet Stadtteile wie das Yzberisht-Viertel, wo sich in den 1990er Jahren neu zugezogene Familien in illegal entstandenen Häusern niederließen. Jetzt wurden sie geräumt, ohne eine Entschädigung zu erhalten. Viele von ihnen sehen keine andere Lösung mehr, als ins Ausland zu gehen.

In Tirana ist die Zahl der erteilten Baugenehmigungen 2017 um 183 Prozent gestiegen. Das Geld zur Baufinanzierung stammt zum Teil aus dem Can­na­bis­anbau. Nach Schätzungen der italienischen Guardia di Finanza sollen 2016 753 000 Pflanzen vernichtet worden sein, 2014 waren es 46 000. Doch wahrscheinlich entdecken die Behörden nur etwa 10 Prozent der jährlich angebauten Menge. Die Cannabisproduktion, die sich früher auf das Dorf Lazarat konzentrierte, eine Hochburg der Demokratischen Partei (PD) im Süden Albaniens, hat sich mittlerweile auf das ganze Land ausgedehnt.

Innenminister Saimir Tahiri, ebenfalls ein Vertrauter von Ministerpräsident Rama, wurde 2017 beschuldigt, in ein großes Drogengeschäft verwickelt gewesen zu sein. Einer seiner Cousins soll 3,5 Tonnen Cannabis nach Sizi­lien geschmuggelt haben. Die Staatsanwaltschaft forderte zunächst zwölf Jahre Haft, doch Tahiri kam im Herbst 2019 mit einer Bewährungsstrafe wegen „Amtsmissbrauchs“ davon. Derweil fließen weiterhin riesige Mengen Drogengeld in das politische System Albaniens und in die architektonische Verschandelung Tiranas.

Der Schriftsteller Fatos Lubonja schimpft über eine Baustellenabsperrung, die die Fußgänger zwingt, auf der Straße zu gehen: „Seit Jahren wird hier schon gebaut, aber niemand scheint sich um den massiven Eingriff in den öffentlichen Raum zu kümmern.“ Als Sohn von Todi Lubonja, des Direktors der nationalen Radio- und Fernsehanstalt, der 1974 wegen der Sünde des „Liberalismus“ in Ungnade fiel, hat Fatos Lubonja die schlimmsten Arbeitslager kennengelernt; 1991 wurde er befreit. Unter Enver Hoxha wurden ganze Familien bestraft, wenn sich eines ihrer Mitglieder der „ideologischen Abweichung“ schuldig gemacht hatte.

Fatos Lubonja ist noch immer so etwas wie das Gewissen der albanischen Linken. Er analysiert die Lage so: „Nach dem Sturz des stalinistischen Regimes war Albanien lange Zeit von einem merkwürdigen Wettkampf geprägt, den man Zweiparteiensystem nannte. Die politisch-mafiosen Interessen waren in zwei Lager aufgespalten: Die einen unterstützten die Demokratische Partei, die anderen die Sozialistische Partei, die in direkter Nachfolge der ehemaligen Arbeiterpartei stand.“

Diese Spaltung stürzte das Land im Frühjahr 1997 fast in einen Bürgerkrieg. Ausgelöst durch einen Zusammenbruch von Banken und betrügerischen Schneeballsystemen, der die gesamten Ersparnisse der ersten Auswanderergeneration vernichtete, gingen die Anhänger der im Süden dominanten Sozialisten und die Parteigänger der Demokraten, die im Norden verankert waren, aufeinander los. Selbst konservative Schätzungen gehen von mindestens 2000 Toten aus. In Albanien wie im benachbarten Kosovo zirkulierten hunderttausende Waffen. Nur eine internationale Eingreiftruppe konnte eine Eskalation verhindern. Albanien galt als „failed state“.

Die folgenden 15 Jahre waren zwar durch einen langsamen Wiederaufbau staatlicher Strukturen gekennzeichnet, doch nach jedem Regierungswechsel drohte das Gespenst der Gewalt wiederaufzuerstehen. Die PS regierte bis 2005, dann folgte die PD. Beide Parteien haben ihre feste Anhängerschaft, Demonstrationen geraten leicht außer Kontrolle: Im Januar 2011 kam es zu vier Toten, als PS-Anhänger gegen die „Diktatur“ der PD aufmarschierten.

Laut Fatos Lubonja markiert die Wahl von 2013 einen Wendepunkt: „Die kriminellen Milieus hatten genug von den ständigen Wechseln. Der Sieger konnte sich auf einen langen Machterhalt freuen. Edi Rama hatte das verstanden und versprach ihnen alles, was sie wollten. Seither kontrolliert er das ganze Räderwerk der Macht. Die folgende Parlamentswahl 2018 war nur noch eine Formalität.“

Der Turnschuhträger als Langzeitregent

Die rechte Opposition zog sich rasch aus der parlamentarischen Arbeit zurück, im Februar 2019 gaben etliche Abgeordnete ihr Mandat zurück. Sie boykottierte auch die Kommunalwahlen im Juni 2019, zu der eine OSZE-Wahlbeobachtungsmission einen niederschmetternden Bericht vorlegte: In mehr als der Hälfte der Wahlkreise traten die regierenden Sozialisten als einzige Partei an. Es kam zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuchen gegenüber Wählern.6

Dennoch stellte kein EU-Land die Wahlen und die Legitimität der Regierung von Rama infrage, dem keine Opposition auf die Finger schaut und der die Medien einer Aufsichtsbehörde mit exorbitanten Befugnissen unterstellt hat. Der Westen hat Albanien zwar zu einer Justizreform gedrängt; unter anderem sollte die Unabhängigkeit aller Richter und Staatsanwälte überprüft werden. Das Resultat ist aber, dass das Rechtswesen nun gänzlich von der Sozialistischen Partei kontrolliert wird.

Albanien ist seit 2014 EU-Beitrittskandidat, hat jedoch erst am 24. März 2020, mitten in der Coronakrise, grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erhalten. Frankreich und die Niederlande waren zunächst dagegen, allerdings nicht wegen der erheblichen Mängel in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Ihre Ablehnung hatte vielmehr innenpolitische Gründe: Seit 2005 in beiden Ländern ein Referendum über den EU-Verfassungsvertrag scheiterte, sprachen sich Paris und Den Haag wiederholt gegen eine Erweiterung der Union aus.

Edi Rama entstammt einer Familie der Nomenklatura, die Albanien bis 1991 regierte. 1997 trat er in die Politik ein, wurde Kulturminister in der Regierung von Fatos Nano, dann Bürgermeister von Tirana. Rama spielt gern mit seinem Image als ehemaliger Künstler, der stets – auch auf interna­tio­nalem Parkett – Turnschuhe trägt. Er präsentiert sich gern als Erneuerer und unverzichtbarer Partner der Europäischen Union, vor allem beim Kampf gegen den islamistischen Terrorismus und bei der „Stabilisierung“ des Balkans.

Dabei tun sich einige Widersprüche auf: Der große Laizist und leidenschaftliche Fürsprecher der europäischen Integration pflegt ebenfalls eine Freundschaft mit dem türkischen Präsidenten Re­cep Tayyip Erdoğan. Gnadenlos wies er auf Forderung Ankaras gülenistische Lehrer aus.7 Er setzte sich aber auch für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien ein und unterstützt den Dialog zwischen den Präsidenten Hashim Thaçi und Alek­sandar Vučić, einschließlich der Verhandlungen über Grenzverschiebungen.8 Dadurch sicherte er sich den Rückhalt der USA, denen eine Einigung zwischen Serbien und Kosovo nicht schnell genug gehen kann.

Rama treibt noch entschiedener als seine Kollegen in anderen Balkanstaaten oder die Vorgängerregierung der PD eine neoliberale Agenda voran. Die staatlichen Ausgaben hat er gekürzt, bei Bildung, Tourismus, Gesundheits- und Bauwesen setzt er auf Public-private Partnership (PPP). Dafür kassierte er sogar eine Rüge des Internationalen Währungsfonds. Im Zwischenbericht von 2017 befand der IWF, dass „das ehrgeizige Programm öffentlicher Investitionen durch PPP erhebliche Haushaltsrisiken birgt“.9 Tatsächlich jedoch sind weniger die PPP selbst das Pro­blem als vielmehr die oft sehr undurchsichtigen Ausschreibungen zugunsten privater Unternehmen.

Im Kulturbereich sind die PPP inzwischen Standard. Seit Oktober 2015 erlaubt ein Ministerialerlass, dass selbst die Verwaltung wichtiger kultureller und historischer Stätten an private Firmen übertragen werden kann. Das betraf auch das Nationaltheater von Tirana, das zum Objekt eines hoch symbolischen Kampfs wurde.

Das 1939, zu Beginn der italienischen Besatzung errichtete Haus war eins der bedeutendsten Denkmäler des faschistischen Baustils in der Hauptstadt. Als sich im Juli 2019 die Pläne der Regierung verdichteten, das Gebäude abzureißen, wurde es von Künstlern besetzt. Bis zum Ausbruch der Pandemie zogen fast tägliche Performances hunderte von Zuschauern an.

Theaterabriss für eine Shoppingmall

„Wir konnten unser Theater nicht aufgeben“, sagt der Regisseur Robert Budina. „Auf dieser Bühne hat Shake­speare das erste Mal Albanisch gesprochen.“ Doch die Regierung nutzte den Gesundheitsnotstand. Am 17. Mai 2020 um vier Uhr morgens ließ sie das Gebäude unter hohem Polizeiaufgebot abreißen. Die Uniformierten gingen dabei hart gegen die im Theater verbarrikadierten Aktivisten vor. Kurz darauf billigte das Parlament ein Spezialgesetz, das das Grundstück in bester Lage dem Investor Shkëlqim Fusha zusprach.

Fusha plant, auf dem Gelände Hochhäuser und eine Shoppingmall zu errichten. Das neue Theater, zu dessen Bau er verpflichtet wurde, wird sehr viel kleiner sein als das alte. „Das ist schlicht und ergreifend eine Plünderung von öffentlichen Gütern und öffentlichem Raum“, erregt sich Budina.

Aus Mangel an politischen Alternativen und weil mittlerweile jeder Winkel der Gesellschaft von den Behörden und den mit ihnen verbandelten Geschäftsmilieus kontrolliert wird, erwägen immer mehr Albaner, ihre Heimat zu verlassen. „Ein Jahr nach dem Sieg der Sozialisten im Juni 2013, als sie begriffen, dass sich nichts ändern würde, fingen die Menschen wieder an fortzugehen“, sagt Fatos Lubonja. Die stetige Abwanderung ab 1991 hat sich seit 2014 beschleunigt. 2018 nahmen an einer US-Greencard-Lotterie 14 Prozent der Gesamtbevölkerung teil.

Im selben Jahr beantragten 8261 Albaner Asyl in Frankreich,10 dem europäischen Land, in das die meisten albanischen Staatsbürger, die zu diesem Zeitpunkt Schutz suchten, einreisten. Doch Albanien wurde schon 2013 von Frankreich als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft; Deutschland verpasste dem Land 2015 dasselbe Label. Die große Mehrheit der Asylanträge wird daher abgelehnt, und die Zahl der Abschiebungen von Albanern nimmt zu.

Albanien ist schon seit Langem ein Auswanderungsland. Zu Zeiten des Kommunismus galt Flucht als Verrat, Grenzsoldaten schossen ohne Vorwarnung. Nach dem Sturz des Regimes waren Italien und Griechenland die beliebtesten Zielländer. Vor allem die oft zweisprachigen und christlich-orthodoxen Südalbaner zog es nach Griechenland. Viele von ihnen sind mittlerweile griechische Staatsbürger. Wegen der Finanzkrise ab 2008 kehrten jedoch knapp 200 000 Menschen in ihre alte Heimat zurück, gleichzeitig verließen weniger Menschen Albanien. Doch auch die Überweisungen der Aus­lands­albaner schrumpften drastisch, viele Familien stürzten in Armut.

Die Wirtschaftsfolgen der Coronakrise lassen sich noch schwer abschätzen. Auch aus Westeuropa könnten arbeitslos gewordene Staatsbürger den Heimweg antreten, was Albanien, in dem viele nach wie vor auf Geldtransfers aus dem Ausland angewiesen sind, weiter destabilisieren könnte.

1 „Séisme en Albanie: journalistes interpellés pour ‚­fausses informations‘“, Le Courrier des Balkans, 24. September 2019.

2 Zahlen nach Weltbank und IWF.

3 Albanisches Statistikinstitut (Instat), Tirana, www.instat.gov.al.

4 „Sherpa and UNI Global Union send formal notice to Teleperformance—calling on the world leader in call centers to strengthen workers’ rights“, www.asso-sherpa.org/sherpa-and-uni-global-union-send-formal-notice-to-teleperformance-calling-on-the-world-leader-in-call-centers-to-strengthen-workers-rights-2.

5 Zahlen nach Eurostat und Instat.

6 „Albania, Local Elections, 30 June 2019: Final Report“, OSZE, Warschau, 5. September 2019.

7 Siehe Ariane Bonzon, „Gülens Netzwerk in Europa“, LMd, Oktober 2019.

8 Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Balkan: Grenzen als Geschichte und Illusion“, LMd, August 2019.

9 „Albania: staff concluding statement of the 2017 article IV mission“, IWF, Washington, 2. Oktober 2017.

10 Zahlen des Französischen Amts zum Schutz für Geflüchtete und Staatenlose (Ofpra).

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin sind Chefredakteure der französischsprachigen Nachrichtenseite Le Courrier des Balkans und Autoren von „Là où se mêlent les eaux. Des Balkans au Caucase dans l’Europe des confins“, Paris (La Découverte) 2018.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin