12.11.2020

Der Globale Süden und der große Lockdown

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Der Globale Süden und der große Lockdown

Während sich die Industrieländer üppige Konjunkturprogramme leisten können, wächst im Globalen Süden die Armut. Auf Bildung, Ernährung, Arbeitsplätze und Entwicklung wirkt sich die Pandemie verheerend aus. Viele Staaten verlangen nun einen radikalen Schuldenschnitt.

von Gilbert Achcar

Fabian Treiber, Riverside, 2020, Acryl, Tusche und Pastell auf Leinwand, 180 x 220 cm (zum Künstler siehe Seite 3)
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Wie der globale Klimawandel macht auch die Coronapandemie weltweit vor niemandem halt, egal ob reich oder arm, Staatschef oder Flüchtling. Gleichwohl treffen diese globalen Krisen nicht alle gleichermaßen. Die Pandemie wirkt sich – wie die Klimaerwärmung – global und national entlang bestehender Trenn­li­nien zwischen Reich und Arm oder Weiß und Schwarz sehr unterschiedlich aus.

Dass Covid-19 auch hochrangige Politiker nicht verschont, hat die Infektion von Donald Trump gezeigt. Die einzigartige dreitägige Krankenhausbehandlung des US-Präsidenten, die schätzungsweise mehr als 100 000 US-Dollar gekostet hat1 , führt jedoch eines deutlich vor Augen: Alle Menschen sind im Angesicht von Krankheit und Tod gleich, „aber manche sind gleicher als die anderen“, wie es George Orwell in „Farm der Tiere“ formuliert hat.

Die aktuelle Wirtschaftskrise, die der IWF in seinem Halbjahresbericht2 vom April 2020 mit „Großer Lockdown“ betitelt hat und die schon jetzt die schlimmste seit der Großen Depression der Zwischenkriegszeit ist, trifft die armen Länder wieder einmal am stärksten. Der Ökonom Alfred Sauvy prägte 1952 den Begriff „Dritte Welt“ in Analogie zum Dritten Stand der Drei-Stände-Gesellschaft des vorrevolutionären Frankreichs – und seither konnten nur wenige ostasiatische Staaten aus diesem Dritten Stand der Weltgemeinschaft aufsteigen.

Als „Dritte Welt“ soll hier die Gesamtheit der Länder mit niedrigem („low income“), niedrigerem mittleren („lower middle income“) und höherem mittleren Einkommen („upper ­middle income“) definiert werden, gemäß der Einstufung der Weltbank. Dabei werden China und Russland als Weltmächte ausgeklammert, obwohl sie unter die Staaten mit höherem mittleren Einkommen fallen.

Am schlimmsten getroffen ist Afrika

Der „große Lockdown“ hat weltweit zu einer starken Zunahme der Arbeitslosigkeit geführt. Deren soziale Auswirkungen sind in den Ländern der „Dritten Welt“ indes viel gravierender als in den reichen Industriestaaten, wo in vielen Fällen umfangreiche Hilfspakete zur Abmilderung der Folgen aufgelegt wurden. Weltweit ging in den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 pro Quartal durchschnittlich das Äquivalent von 332 Millionen Vollzeitjobs (full-time equivalent jobs, FTE) verloren, was einem Minus von 11,7 Prozent gegenüber dem vierten Quartal 2019 entspricht.3

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden 143 Millionen dieser Jobs in Ländern mit niedrigerem mittleren Einkommen vernichtet (–14 Prozent), 128 Millionen in Staaten mit höherem mittleren Einkommen (–11 Prozent) und 43 Mil­lio­nen in reichen Ländern (–9,4 Prozent). Der Arbeitsplatzverlust in den Staaten mit niedrigem Einkommen beläuft sich im selben Zeitraum zwar „nur“ auf 19 Millionen FTE (–9 Prozent). Die tatsächlichen Krisenfolgen vermag diese Zahl allerdings nicht auszudrücken. Denn in diesen ärmsten Ländern – wie in denen mit niedrigerem mittleren Einkommen – sind die allermeisten ­Arbeitsplätze und selbstständigen Tätigkeiten im informellen Sektor angesiedelt, auf den weltweit 60 Prozent der Arbeitsplätze entfallen und der per Definition keinerlei soziale Absicherung bietet.

Die Weltbank schätzt in einem aktuellen Bericht, dass 2020 die extreme Armut aufgrund der Pandemie erstmals seit 1998 wieder ansteigen wird.4 Damals wirkte die Asienkrise von 1997 als Armutstreiber. Als „extrem arm“ gelten Menschen, die mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag überleben müssen. In absoluten Zahlen ist Südasien am stärksten betroffen: Dort dürften im laufenden Jahr zwischen 49 und 56,5 Millionen mehr Menschen als vor der Pandemie prognostiziert unter diese Armutsschwelle fallen oder darunter bleiben.

In Afrika südlich der Sahara wird sich die entsprechende Zahl auf 26 bis 40 Mil­lio­nen Menschen belaufen. Damit bleibt diese Region weltweit die mit dem höchsten Anteil an ex­tremer Armut. In den ostasiatischen ­Ent­wicklungsländern sind voraussichtlich zwischen 17,6 und 20,7 Millionen

mehr Menschen betroffen als vor der Pandemie prognostiziert,5 während es in Lateinamerika 4,8 und im Nahen Osten und Nordafrika 3,4 Millionen sein könnten. Insgesamt wird die Pandemie laut Weltbank dazu führen, dass in diesem Jahr 88 bis 115 Millionen Personen in extreme Armut stürzen oder weiterhin von weniger als 1,90 US-Dollar am Tag leben müssen. Gegenüber 2019 wird die Zahl der sehr armen Menschen netto um 60 bis 86 Millionen steigen.

Der Rückgang der Armut hatte sich bereits ab 2013 abgeschwächt. Das geschah vor dem Hintergrund der Beschleunigung des Klimawandels, der für die ärmsten Regionen besonders folgenreich war; dazu kamen neue Konflikte etwa in Syrien, im Jemen und im Südsudan. Im Rahmen ihrer „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ hatten sich die Vereinten Nationen vorgenommen, den weltweiten Anteil der von extremer Armut betroffenen Menschen bis 2030 auf 3 Prozent zu verringern – ein Ziel, das der „große Lockdown“ nun in weite Ferne gerückt hat. 2015 fielen noch 10 Prozent der Weltbevölkerung, also 736 Millionen Menschen in diese Kategorie. Laut Weltbank dürften es 2030 immer noch 7 Prozent sein.

Im Juli läutete das Amt zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UN (OCHA) die Alarmglocken. Mark Lowcock, UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, schrieb in seinem Vorwort zu einem aktualisierten Bericht: „Jüngsten Schätzungen zufolge könnten täglich bis zu 6000 Kinder durch direkte und indirekte Auswirkungen von Covid-19 sterben.“6

Aufgrund der Umverteilung von Ressourcen im Gesundheitsbereich könnten sich die Todesfälle durch Aids, Tuberkulose und Malaria verdoppeln. Und Schulschließungen würden, so Lowcock, zu einem Rückgang der Produktivität, einer lebenslangen Einkommensreduktion und größerer Ungleichheit führen. „Der Konjunkturabschwung, die Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Rückgang der Schulbesuchsquoten erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen, die Hungersnöte und Migrationsbewegungen verursachen.“

Auch ohne neue Kriege hat der Hunger erheblich zugenommen. In den ohnehin schon stark betroffenen Re­gio­nen haben sich dem OCHA-Bericht zufolge die Hungerkrisen verschärft und zusätzlich in anderen Gebieten ausgebreitet. Ohne massive, schnelle Hilfe durch die reichen Industriestaaten wird die Zahl der von akuter Ernährungsunsicherheit betroffenen Menschen bis Ende des Jahres auf 270 Millionen steigen – verglichen mit 149 Millionen vor der Pandemie.

Mit Schulschließungen steigt das Armutsrisiko

Von den durch das OCHA geforderten 10,3 Milliarden US-Dollar für den Covid-19-Reaktionsplan der UN waren bis September nach dem Jahresbericht des UN-Generalsekretärs aber nur 2,5 Milliarden geflossen.7 Die rund 1 Million US-Dollar, mit denen der Friedensnobelpreis für das Welternährungsprogramm dotiert ist, wirken dabei wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Könnte es sein, dass das Geld nicht fließt, weil Hunger nicht ansteckend und – anders als das Virus – nicht grenzüberschreitend ist? Am 13. Oktober stellte die Weltbank den Entwicklungsländern 12 Milliarden US-Dollar für ein Impf- und Testprogramm zur Bekämpfung von Covid-19 zur Verfügung.

Das 2010 von der UNO ins Leben gerufene Programm „Every Woman Every Child“, das gemeinsam von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) verwaltet wird, warnt in seinem jüngsten Bericht vor den dramatischen Folgen pandemiebedingter Schulschließungen. Diese würden dazu führen, dass viele Kinder und Jugendliche in den Ländern des Globalen Südens wahrscheinlich nie wieder auf den Bildungsweg zurückfinden.8 Dadurch vergrößere sich ihr Risiko, etwa häusliche Gewalt zu erleiden oder sehr früh schwanger zu werden. Im selben Bericht heißt es, der „große Lockdown“ könne ein Drittel der Fortschritte, die im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt erzielt worden seien, bis 2030 zunichtemachen und in den nächsten zehn Jahren die Zahl der Kinderehen um 13 Millionen erhöhen.

All dies sei aber nicht unabwendbar, schreibt Mark Lowcock. Es könne mit dem Geld und dem Willen der reichsten Länder verhindert werden. „Wir schätzen, dass sich die Kosten für den Schutz der ärmsten 10 Prozent vor den schlimmsten Auswirkungen der Pandemie und der Rezession auf 90 Milliarden US-Dollar belaufen. Das ist weniger als 1 Prozent der Summe, die die reichen Länder im Rahmen ihrer Hilfsprogramme für den Schutz ihrer eigenen Volkswirtschaften ausgeben.“

Tatsächlich erreichte nach Zahlen des IWF das Gesamtvolumen der weltweit angekündigten Konjunkturprogramme im September 11,7 Billionen US-Dollar, was 12 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Der größte Teil davon entfällt auf die Länder mit hohem Einkommen.9 Die reale Gesamtverschuldung dieser Staaten hat mittlerweile die Schwelle von 120 Prozent des BIPs überschritten. Vergleichbar hoch lag sie nur einmal in der Geschichte des Kapitalismus, nämlich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Laut ILO würde es 937 Milliarden US-Dollar kosten, um die Arbeitsplatzverluste der Länder mit niedrigerem mittleren Einkommen zu kompensieren, und weitere 45 Milliarden für die Staaten mit niedrigem Einkommen. Insgesamt fielen also 982 Milliarden US-Dollar für eine Gruppe von Ländern an, in denen eine große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt. Eine moderate Summe, verglichen mit den Kosten der Maßnahmen, die von den wohlhabendsten Staaten ergriffen werden.

Und die Hilfe für die armen Länder duldet keinen Aufschub. So warnen drei Forschende des IWF vor den Langzeitfolgen der Krise für die Länder mit niedrigem Einkommen. Sie verwenden dafür den Begriff „Scarring“ (im Sinne von bleibender Verwundung) und bezeichnen damit den dauerhaften Verlust von Produktionskapazitäten: „Das Scarring war schon bei früheren Pandemien festzustellen. Es besteht in einer höheren Sterblichkeit, einer Verschlechterung der Gesundheits- und Bildungssituation mit negativen Auswirkungen auf die künftigen Einkommen und im Abschmelzen der Ersparnisse und Vermögen, was zu Firmenschließungen – insbesondere kleiner Unternehmen ohne Zugang zu Fremdfinanzierung – führt und nicht kompensierbare Produktionsstörungen verursacht.“ 10

Erschwert werde die Situation durch eine generelle hohe Überschuldung, was die Vergabe von Krediten an den Privatsektor einschränke. Die Wirtschaft Sierra Leones etwa habe nach der Ebola-Epidemie von 2013 nie mehr auf den Wachstumskurs von vor der Krise zurückgefunden, so die IWF-Forscher.

Binnen Stunden wurden in Indien Millionen arbeitslos

Indien, das bevölkerungsreichste Land der „Dritten Welt“, ist vom „großen Lockdown“ besonders stark betroffen. Sein Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal 2020 fast um ein Viertel (23,9 Prozent) eingebrochen. Dies habe der indischen Ambition, „zu einer Weltmacht aufzusteigen, sich aus der Armut zu befreien und seine Streitkräfte zu modernisieren“, einen schweren Dämpfer versetzt, meint der Leiter des New-York-Times-Büros in Neu-­Delhi, Jeffrey Gettleman.11 Wozu der erratische Umgang mit der Krise durch den rechts­ex­tre­men Pre­mier­minister Narendra Modi maßgeblich beiträgt.

In Indien wurde auch deutlich, wie riskant es ist, die Maßnahmen anderer Staaten mit völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen und demografischen Merkmalen eins zu eins übernehmen zu wollen.

„Nachdem Modi alle Inderinnen und Inder aufgefordert hatte, zu Hause zu bleiben, schloss er am 24. März um 20 Uhr mit einem Vorlauf von vier Stunden die gesamte Volkswirtschaft – Büros, Fabriken, Straßen, Eisenbahnverbindungen, die Grenzen zwischen den indischen Bundesstaaten, fast alles“, schreibt Gettleman. „Zig Millionen verloren auf einen Schlag ihren Job.“ Viele von ihnen arbeiteten in Fabriken, auf Baustellen oder als Hausangestellte in der Stadt, waren aber aus den ländlichen Regionen Indiens zugezogen.

Aus Angst, in den Slums zu verhungern, verließen Millionen von ihnen verzweifelt die Städte zu Fuß, auf dem Fahrrad oder per Anhalter, um in ihre Dörfer zu gelangen. „Es war eine für Indien beispiellose Migrationsbewegung, die anders als gewöhnlich von der Stadt in die Dörfer verlief und das Corona­virus in jeden Winkel dieses 1,3 Milliarden Einwohner zählenden Landes verbreitete.“

Auch die indische Mittelschicht blieb nicht verschont. Die Pandemie und die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen vernichteten die Jobs von 6,6 Millionen Angestellten und führten zu einem Anstieg der Suizidrate unter Führungskräften und Selbstständigen.12

Die Regierung Modi kündigte am 12. Oktober als Reaktion auf diese kolossale Krise ein Konjunkturprogramm von 10 Milliarden US-Dollar an. Zum Vergleich: In den USA, die nur ein Viertel so viele Einwohner zählen wie Indien, wurde bereits im März ein Hilfsprogramm von 2 Billionen US-Dollar aufgelegt.

Am 6. Oktober – also noch vor den meisten vor allem in europäischen Staaten erneut durchgesetzten Einschränkungen – äußerte sich IWF-Chefin Kristalina Georgiewa erfreut darüber, dass es der Weltwirtschaft durch die außergewöhnlichen Maßnahmen gelungen sei, die Folgen des Lockdowns besser zu überstehen als prognostiziert. Dass das Schlimmste habe verhindert werden können, so Georgiewa, „ist größtenteils den außergewöhnlichen Maßnahmen zu verdanken, die den Zusammenbruch der Weltwirtschaft verhindert haben.“13

Die Regierungen hätten den Haushalten und Unternehmen rund 12 Billionen US-Dollar an Finanzhilfen gewährt. Und dank beispielloser geldpolitischer Maßnahmen habe man den Kreditfluss aufrechterhalten und Millionen Unternehmen am Leben halten können. Wobei die IWF-Chefin nachschickte: „Einige konnten allerdings mehr tun als andere. Die entwickelten Länder haben alles Notwendige getan.Und die ärmsten Staaten versuchen, ihr Möglichstes zu tun.“

Was die weniger finanzkräftigen Länder betrifft, lautete Georgiewas Diagnose: „Die Schwellenländer befinden sich, ebenso wie die Staaten mit niedrigem Einkommen und die fragilen Länder, nach wie vor in einer prekären Situation. Ihre Gesundheitssysteme sind weniger leistungsfähig. Sie sind in sehr hohem Maße von den am stärksten betroffenen Sektoren wie dem Tourismus und dem Rohstoffexport abhängig. Und sie sind sehr stark auf Finanzmittel aus dem Ausland angewiesen.“ Dank der reichlich vorhandenen Liquidität und des niedrigen Zinsniveaus hätten zahlreiche Schwellenländer jedoch neue Kredite aufnehmen können. Allerdings habe seit März kein einziges Land aus Subsahara-Afrika Auslandsanleihen emittiert.

Das zeigt, dass der afrikanische Kontinent wieder einmal am schlimmsten betroffen ist. Laut der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) dürfte der für 2020 vorhergesagte Wachstumsrückgang das gesamtafrikanische BIP, das vor der Pandemie auf 2,59 Billionen US-Dollar prognostiziert wurde, um 145 bis 190 Milliarden US-Dollar schmälern.14 Für das Jahr 2021 rechnet die AfDB mit einem 28 bis 47 Milliarden US-Dollar geringeren Wachstum als bisher angenommen. Besonders anfällig seien dabei jene Staaten, die „hoch verschuldet sind und deren Wirtschaft größtenteils von den mittlerweile volatil gewordenen internationalen Finanzmitteln abhängig sind“.

Die Volkswirtschaften dieser Staaten sind in der Tat erheblich geschrumpft. Neben den Auswirkungen der von ihnen selbst ergriffenen Lockdown-Maßnahmen schlagen auch die Nebenwirkungen der Krise in den Industrieländern mit voller Wucht auf den gesamten Globalen Süden durch. Besonders heftig macht sich dabei die starke Verringerung der Geldflüsse und Investitionen in die Entwicklungsländer bemerkbar, vor allem der Rückgang der Überweisungen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in ihre Heimatstaaten.

Im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen Zunahme des Personen- und Kapitalverkehrs hatten sich diese Geldtransfers seit der Jahrtausendwende stark erhöht. Mit einem Rekordwert von 554 Milliarden US-Dollar überstiegen sie 2019 erstmals die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in die Entwicklungsländer, die in den vergangenen zehn Jahren nach einem Spitzenwert von 700 Milliarden US-Dollar stetig zurückgegangen waren.15

Seit der Jahrtausendwende übertrafen diese Transfers aus den Emigra­tions­ländern auch stets die Summe der privaten Anlagegelder, die in Anleihen und Aktien von Entwicklungsländern flossen. Die Rücküberweisungen fielen sogar um ein Vielfaches höher aus als die staatliche Entwicklungshilfe, auch wenn diese 2019 den historischen Höchstwert von 152,8 Milliarden US-Dollar erreichte.16 Die Überweisungen von im Ausland Arbeitenden machen in einigen Ländern 10 Prozent oder mehr des jeweiligen BIPs aus.

Das trifft für viele afrikanische Staaten zu, wie Senegal, Simbabwe und den mit 34 Prozent besonders abhängigen Südsudan. Es gilt auch für frühere Sowjetrepubliken in Zentralasien ohne Erdöl- und Erdgasvorkommen wie Kirgistan und Tadschikistan (BIP-Anteil von jeweils knapp 30 Prozent) sowie im Nahen Osten für Jordanien, Jemen, Libanon und die Palästinensergebiete. Unter den Ländern Asiens sind besonders Nepal (27 Prozent), Pakistan und Sri Lanka (je knapp 8 Prozent) und die Philippinen (knapp 9 Prozent) auf Rücküberweisungen angewiesen, in Mittelamerika vor allem El Salvador und Honduras (mehr als 20 Prozent) sowie Haiti (37 Prozent).17

Lebenswichtige Rücküberweisungen fehlen

Die Weltbank prognostiziert für 2020, dass die Rücküberweisungen in die Entwicklungsländer um 20 Prozent schrumpfen werden, was einem Rückgang von mehr als 110 Milliarden US-Dollar entspricht. Dieser massive Einbruch ist vor allem dadurch zu erklären, dass Arbeitsmigrantinnen und -migranten von Entlassungen und Gehaltskürzungen am stärksten betroffen sind.

Die Welthandels- und Entwicklungskonferenz (Unctad) schätzt zudem, dass auch die ausländischen Direktinvestitionen in die afrikanischen Länder 2020 um 25 bis 40 Prozent einbrechen werden, nachdem sie bereits 2019 um 10 Prozent gesunken sind.18 Bei den asiatischen Entwicklungsländern, die Störungen der globalen Lieferketten besonders empfindlich treffen, dürften die ADI um 30 bis 45 Prozent zurückgehen. Und Lateinamerika könnte sogar einen Einbruch von bis zu 50 Prozent verzeichnen.

Das Verschuldungsproblem erschwert die Situation noch zusätzlich. Die Tilgungs- und Zinszahlungen der Entwicklungsländer haben den höchsten Stand seit der Jahrtausendwende erreicht.19 2020 werden sie im Durchschnitt voraussichtlich 14,3 Prozent der Staatseinnahmen der betroffenen Länder ausmachen, verglichen mit 6,7 Prozent im Jahr 2010. In vielen Staaten ist die Situation dramatisch, wie in Gabun, wo der Schuldendienst 59,5 Prozent der Staatseinnahmen aufzehrt, oder in Ghana (50,2 Prozent), Angola (46 Prozent) und Pakistan (35 Prozent). Insgesamt 52 Länder wenden mehr als 15 Prozent ihrer Einnahmen für die Rückzahlung ihrer Schulden auf. Im Jahr 2018 waren es noch 31 Länder und 2015 nur 22.

Angesichts dieser dramatischen Lage fehlt es nicht an guten Absichten und entsprechenden Erklärungen der internationalen finanzpolitischen Entscheidungsträger. Die betonen immer wieder, wie notwendig es sei, in der Pandemie die Schuldenlast der Entwicklungsländer zu erleichtern. Carmen Reinhart, die Chefvolkswirtin der Weltbank, empfiehlt sogar den Erlass von Schulden, um den Entwicklungsländern die Aufnahme neuer Kredite zu ermöglichen.20

Doch die Realität sieht ganz anders aus. Das geht aus einer Analyse des Komitees zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM) von Anfang Oktober hervor: „Infolge der Pandemie haben die G20-Staaten ein Moratorium für die Tilgung des bilateralen Anteils der Schulden für die Zeit zwischen Mai und Dezember 2020 gewährt. Von den 73 in Betracht gezogenen Ländern sind jedoch nur 42 zu einer Einigung mit dem Pariser Club gekommen.“21

Wieso nur so wenige? Ein Grund hierfür sei, laut dem CADTM, die „Erpressung durch private Kreditgeber und Ratingagenturen“. Letztere hätten zu verstehen gegeben, dass Länder, die ein Moratorium beantragen, eine Herabstufung ihrer Bonität durch die Ratingagenturen riskieren und damit Gefahr laufen, vom Zugang zu den Finanzmärkten abgeschnitten zu werden. Letztlich müssten diese Länder „mit verminderten Ressourcen einen höheren Betrag zurückzahlen“.

Die durch die Krise in die Enge getriebenen Entwicklungsländer fordern indes einen viel weitergehenden Schuldenschnitt. Und ihr Unmut wächst. In einem in der Financial Times veröffentlichten Artikel hat der ghanaische Finanzminister Ken Ofori-Atta die afrikanischen Staaten aufgerufen, „die Ini­tiative zu ergreifen und ein Sekretariat zur Koordinierung der verschiedenen Interessengruppen und Machtzentren einzurichten, um eine Neustrukturierung der globalen Finanzarchitektur vorzuschlagen“.22

Es gehe um die Anpassung dieser Architektur an „die Bedürfnisse Afrikas und der anderen Entwicklungsländer für die Zeit nach Covid-19, in der wir den Aufschwung gestalten müssen“, betont Ofori-Atta. Andere Experten wie der linke philippinische Universitätsdozent Walden Bello plädieren für einen kollektiven Austritt der Entwicklungsländer aus dem IWF und der Weltbank, den beiden wichtigsten Institutionen des Weltfinanzsystems.24

Letzten Endes zementiert der „große Lockdown“ die untergeordnete Stellung der „Dritten Welt“ im politischen und wirtschaftlichen System des Weltmarkts. Damit erscheint es noch weniger realistisch, dass sich der Globale Süden aus dieser Lage wird befreien können, ohne mit der neoliberalen Logik zu brechen. Dass diese den Bedürfnissen der Menschheit nicht gerecht werden kann, wird angesichts der aktuellen Katastrophe immer deutlicher.

1 Sarah Kliff, „How much would Trump’s coronavirus treatment cost most Americans?“, The New York Times, 7. Oktober 2020.

2 „The Great Lockdown“, World Economic Outlook, IWF, Washington, D. C., April 2020.

3 „ILO Monitor: Covid-19 and the World of Work. Sixth edition“, ILO, Genf, 23. September 2020.

4 „Reversals of fortune – Poverty and shared prosperity 2020“, Weltbank, Washington, D. C., 2020.

5 „From containment to recovery: Economic update for East Asia and the Pacific“, Weltbank, Oktober 2020.

6 „Global Humanitarian Response Plan: Covid-19 (April–Dezember 2020), July Update“, UNOCHA, Genf, Juli 2020.

7 „2020 Report of the Secretary-General on the Work of the Organization“, UNO, New York 2020.

8 „Protect the progress: rise, refocus, recover“, WHO und Unicef, Genf 2020.

9 „Fiscal Monitor: Policies for the recovery“, IWF, Oktober 2020.

10 Daniel Gurara, Stefania Fabrizio und Johannes Wiegand, „Covid-19: Without help, low-income developing countries risk a lost decade“, IMFBlog, 27. August 2020.

11 Jeffrey Gettleman, „Coronavirus crisis shatters India’s big dreams“, The New York Times, 5. September 2020.

12 Stephanie Findlay, „Suicides rise after virus puts squeeze on India’s middle class“, Financial Times, 6. Oktober 2020.

13 Kristalina Georgiewa, „The Long Ascent: Overcoming the Crisis and Building a More Resilient Economy“, IWF, 6. Oktober 2020.

14 „African Economic Outlook 2020“, AfDB, Abidjan, 30. Januar 2020.

15 „Covid-19 crisis through a migration lens“, Migra­tion and Development Brief Nr.32, Weltbank und Global Knowledge Partnership on Migration and Development (Knomad), Washington, D. C., April 2020.

16 „ODA 2019 preliminary data“, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

17 „Covid-19 crisis through a migration lens“ (siehe Anmerkung 15).

18 „World Investment Report 2020: International production beyond the pandemic“, Unctad, Genf 2020.

19 „Debt Data Portal“, Jubilee Debt Campaign.

20 Larry Elliott, „World Bank: Covid-19 pushes poorer nations from recession to depression‘“, The Guardian, 19. August 2020; sowie Jonathan Wheatley, „Borrow to fight economic impact of pandemic, says World Bank’s chief economist“, Financial Times, 8. Oktober 2020.

21 Éric Toussaint und Milan Rivié, „Les pays en développement pris dans l’étau de la dette“, CADTM, Lüttich, 6. Oktober 2020. Der Pariser Club besteht aus einer Gruppe staatlicher Gläubiger, zu der die meisten Mitglieder der OECD sowie Brasilien und Russland zählen.

22 Ken Ofori-Atta, „Ghanaian finance minister: Africa deserves more Covid help“, Financial Times, 12. Oktober 2020.

23 Walden Bello, „The Bretton Woods twins in the era of Covid-19: Time for an exit strategy for the global south?“, Focus on the Global South, Bangkok, 10. Oktober 2020.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Gilbert Achcar