11.06.2020

Chinas Corona-Chroniken

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Chinas Corona-Chroniken

Peking versucht den eigenen Umgang mit der Pandemie als vorbildlich zu verkaufen. Doch seinen Statistiken ist zu misstrauen

von Carine Milcent

„Haubenzeremonie“ für Berufseinsteigerinnen in der Pekinger Uniklinik, 27. April 2020 ZHANG YUWEI/dpa
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Als die USA von der Coronapandemie überrollt wurden, zeigte Präsident Donald Trump mit dem Finger auf China: Dort habe man den Ernst der Lage absichtlich heruntergespielt. Die USA wollen nun mit Unterstützung Australiens eine internationale Untersuchung der Vorgänge einleiten. Dem Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werfen sie vor, er habe China Gefälligkeiten erwiesen oder gar mit Peking unter einer Decke gesteckt.

Um diesen Angriff zu verstehen, muss man die Abfolge der Ereignisse betrachten: Erste Erkrankungen wurden im November 2019 festgestellt, ab Anfang Dezember gab es Warnungen von Ärzten, die man daraufhin einschüchterte. Ende Dezember vermeldete China dann erstmals, in Wuhan sei auf einem Tiermarkt ein neues Virus ausgebrochen. Am 5. Januar 2020 erklärte die WHO: „Vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden haben keine eindeutigen Hinweise auf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung ergeben.“1

Erst am 14. Januar thematisierte sie eine mögliche Ansteckungsgefahr – während ein chinesisches Labor die Aufschlüsselung des Sars-CoV-2-Genoms an die internationale Forschergemeinschaft übermittelte. Dieses Labor musste am Morgen nach der Publika­tion schließen.

Am 22. Januar wurde die chinesische Provinz Hubei mit der Hauptstadt Wuhan abgeriegelt. Zu diesem Zeitpunkt verkündete die WHO noch keinen Gesundheitsnotstand – eine Erklärung dafür könnte sein, dass außerhalb Chinas erst 11 Fälle bekannt waren. Am 24. Januar empfahl sie Tests in allen Ländern, in denen Erkrankungen auftraten. Am selben Tag gab Staatspräsident Xi Jinping in einer Rede zu, dass die Lage ernst war. Trump begrüßte unverzüglich in einem Tweet „Chinas Anstrengungen und seine Transparenz“.

Am 31. Januar, als man in China offiziell bereits 10 000 Infizierte und 213 Tote zählte, rief die WHO eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ aus, was nur sehr selten geschieht. Seit ihrer Gründung am 7. April 1948 hat sie das erst fünfmal getan: 2009 wegen der Schweinegrippe (H1N1-Virus), 2014 wegen Polio, 2016 wegen des Zika-Virus sowie 2016 und 2019 wegen Ebola. Erst am 10. Februar entsandte die WHO ein Team von Experten aus Deutschland, Südkorea, den USA, Japan, Nigeria, Singapur und Russland nach China.

Seither häufen sich die Anschuldigungen der USA gegen die WHO. Nach einer kurzen Phase relativer Stille ging die Organisation Ende April zum Gegenangriff über und erklärte, man habe die internationale Notlage „zum richtigen Zeitpunkt“ festgestellt. Sie schuf die Plattform „Access to COVID-19 Tools Accelerator“, um die Entwicklung und die gerechte Verteilung von Impfstoffen und lebensrettenden Medikamenten gegen Covid-19 für alle Menschen zu beschleunigen. UN-Generalsekretär António Guterres unterstrich ebenfalls, dass man Impfungen und Therapien für alle brauche und nicht „Medikamente für nur ein Land, nur eine Region oder nur die Hälfte der Welt“.2 Dies waren Antworten auf Trumps erklärten Willen, sich die Exklusivrechte auf vielversprechende Impfstoffkandidaten zu sichern.

Hätte die WHO anders oder schneller reagieren sollen? Gemäß ihren Statuten war sie auf die Angaben der chinesischen Behörden angewiesen, unabhängig von deren möglicher Manipulation. Betrachtet man die weltweiten Todesfälle bis Mitte Mai (über 300 000), können die Angaben von lediglich 4633 Covid-19-Toten in China dann stimmen? Zunächst ist es immer schwierig, korrekte Erhebungen zu machen. Egal um welchen Ort und um welche Epidemie es sich handelt – man kann die „wahren“ Zahlen immer erst im Nachhinein berechnen. Und wenn ein Patient, der verschiedene Krankheiten hat, stirbt, kann auch ohne jede Täuschungsabsicht eine Fehldiagnose der exakten Todesursache erfolgen.

Krasses Stadt-Land-Gefälle im Gesundheitswesen

Außerdem spielt der Zugang zu medizinischen Einrichtungen eine Rolle. Im ersten Jahrzehnt nach der Sars-Epidemie 2003 wurde in China zwar eine staatliche Krankenversicherung für nahezu die gesamte Bevölkerung geschaffen, doch die lokale Versorgung ist weiterhin oft mangelhaft und die Selbstbeteiligungen sind erheblich. Als die Coronapandemie begann, konnten sich daher viele Chinesen aus finanziellen Gründen gar nicht behandeln lassen. Die Zentralregierung erstattete zwar die Tests, aber das war nur ein kleiner Teil dessen, was nötig war. Es ist davon auszugehen, dass in China zahlreiche Menschen an Covid-19 gestorben sind, ohne je eines der großen Krankenhäuser aufgesucht zu haben.

Hinzu kommt die geografische Hierarchie des chinesischen Gesundheitssystems, das wie eine Pyramide aufgebaut ist: Sämtliche Mittel, auch zur Schulung des Personals, fließen vor allem in die großen städtischen Kliniken.3 Je niedriger die Stufe des Systems, desto kürzer ist auch die Dauer der Ausbildung zur Ärztin oder Krankenschwester. Was bedeutet, dass etwa ein Pfleger, der in einem Gemeindehospital seinen Beruf erlernt hat, nicht in einem der großen Provinzkrankenhäuser arbeiten darf. Da sich die Qualität der Gesundheitsversorgung also von Ort zu Ort so stark unterscheidet, ist es nahezu unmöglich, die Zahl der Covid-19-Todesfälle oder -Komplikationen einheitlich zu erheben.

Die Schätzungen, wie viele Opfer eine Epidemie gefordert hat, enthalten immer eine gewisse Fehlerspanne, die in der Folge durch Jahreszeit- und Längsschnittvergleiche korrigiert wird. Es gibt objektive Gründe anzunehmen, dass diese Spanne in China beträchtlich ist. Man müsste also wissen, ob entsprechende Korrekturen durchgeführt wurden. Jenseits dieser rein statistischen Problematik sind die offi­ziel­len Zahlen außerdem von den Maßgaben der chinesischen Innen- und Geopolitik abhängig.

Im Innern wollten die Behörden vor allem eine Panik in der Bevölkerung verhindern. Es besteht kein Zweifel, dass die Provinzregierung von Hubei versucht hat, die Gefährdungslage kleinzureden. Präsident Xi Jinping war ja ausdrücklich angetreten, um die Korruption zu bekämpfen, und hatte dabei die lokalen Machthaber ins Visier genommen. Die haben deshalb großes Interesse daran, die Zentralregierung von ihren internen Angelegenheiten fernzuhalten. Die Karriere eines Lokalpolitikers hängt von der Beurteilung seiner Leistungen ab, die nach verschiedenen Kriterien erfolgt, wie Wirtschaftswachstum, Kampf gegen Umweltverschmutzung und soziale Entwicklung.

Dieses System hat nicht nur mit dem autoritären Charakter des chinesischen Re­gimes zu tun, sondern auch mit der starken Dezentralisierung bei der Umsetzung politischer Richtlinien, die von außen häufig unterschätzt wird.

Die Behörden in Wuhan wollten die Zügel also möglichst selbst in der Hand behalten – sicherlich zu lange, bis die Zentralregierung schließlich die Führung übernahm. Die versuchte nun zwei offenkundig unvereinbare Ziele gleichzeitig anzusteuern: einerseits auf die Gefahren der Epidemie hinweisen, um die extremen Ausgangsbeschränkungen zu rechtfertigen, andererseits den Eindruck vermitteln, sie habe die Situation im Griff.

Die strenge Ausgangssperre hatte aber zur Folge, dass ein Großteil der Bevölkerung überhaupt nicht mehr in den Genuss angemessener medizinischer Versorgung kommen konnte. In den großen Provinzkrankenhäusern verfügt das Personal über ähnliche Qualifikationen wie die Klinikbelegschaften in den westlichen Ländern, in den kleineren ist das jedoch nicht der Fall. Die guten Hospitäler befinden sich in den dicht bevölkerten Städten, wo auch das Einkommensniveau höher liegt, während es auf dem Land nur die schlechter ausgestatteten gibt. Mit der strikten Quarantäne verschärften sich also noch die bestehenden Ungleichheiten in der Versorgung.

Außerhalb der Metropolen arbeiten die Menschen meist in mittleren oder kleinen Unternehmen, die ihnen während der Ausgangssperre weder eine Lohnfortzahlung noch eine anschließende Arbeitsplatzgarantie bieten konnten. Damit spitzte sich die prekäre Lage der Landbevölkerung und eines Teils der Wanderarbeiter noch mehr zu. Diese Leute am unteren Ende der Einkommensleiter waren doppelt gestraft: Sie hatten keine Einkünfte mehr und wurden medizinisch schlecht versorgt. Trotz der scharfen Überwachung der sozialen Netzwerke gelang es der Zivilgesellschaft, ihren Zorn und Missmut darüber zu äußern, vor allem nach dem Tod des Arztes Li Wenliang, der als einer der Ersten schon im Dezember Alarm geschlagen hatte.

Angesichts dessen demonstrierten die Behörden in ihren Verlautbarungen – insbesondere im Hinblick auf Todesfallzahlen – die Handlungsfähigkeit des Zentralstaats und die Notwendigkeit des Lockdowns. Auch wenn die offiziellen Angaben mit Vorsicht zu betrachten sind: Verglichen mit der Sars-Epidemie 2002/03 wurden mehr Kommunikationsanstrengungen unternommen, vor allem durch Übermittlung wissenschaftlicher Daten, aber auch auf anderen Ebenen.

Symbolpolitik und digitale Überwachung

In der Woche vom 21. Januar 2020 warnte die chinesische Botschaft in Paris die französischen Behörden vor einer Frau, die in Wuhan ins Flugzeug gestiegen war und über Social Media erklärt hatte, sie habe Covid-19-­Symp­tome. Sie wurde daraufhin in Frankreich untersucht, aber nicht unter Quarantäne gestellt, denn zu diesem Zeitpunkt betrachtete man dort das Alarmsignal aus Peking noch nicht als besorgniserregend.

Präsident Xi möchte sein Land als eines präsentieren, das die Lage – im Innern wie im Äußeren – vollkommen unter Kontrolle hat. Dabei spart er nicht mit starken Symbolen. Am 28. Januar verkündete die Regierung die Errichtung zweier Spezialkliniken zur Behandlung von Covid-19-Patienten in Wuhan. Dazu hätte man auch kommunale Gebäude umwidmen können, aber dann wäre die erwünschte Wirkung wohl ausgeblieben. Der Aufbau wurde durch Webkameras live übertragen und die Bilder von den Medien in China und im Ausland aufgegriffen. In Wahrheit nutzte man andere Orte für die Covid-19-Kranken, vor allem das internationale Messezentrum der Stadt.

Da sich das Epizentrum der Pandemie inzwischen verlagert hat, möchte Peking nun lieber den Ursprung des Virus vergessen machen, ebenso die zunächst verbreiteten Zahlen, und sich als Partner oder Unterstützer anderer Länder präsentieren. Und so die Rolle ergänzen, wenn nicht gar übernehmen, die bisher stets den USA zugewiesen war. Als erstes Land der Welt, das langsam und vorsichtig aus der Krise herausgekommen ist, will es sein Modell international bewerben.

Die chinesische Lösung setzt auf die Akzeptanz der Bevölkerung für digitale Überwachung. Jeder, der verreisen möchte, muss sich registrieren lassen und einen QR-Identifikationscode vorweisen können. Diente das Smartphone im Alltag bereits schon als Zahlungsmittel, wird es jetzt zum Werkzeug, das den Behörden sämtliche persönlichen Daten liefert, befinden sich auf ihm doch zahlreiche, auch gesundheitlich relevante Informationen zu Lebensstil, Konsum, Freizeitvergnügen und Sozialkontakten seines Besitzers. Das Recht zu leben gibt es zum Preis einer totalen Transparenz des Privaten.

Zusätzlich wurden in anderen Bereichen, in denen China weit fortgeschritten ist, neue Technologien entwickelt. In den Kliniken von Wuhan und anderen Städten unterstützten Roboter das Personal. Schon vor der Krise hatten die drei chinesischen Internetkonzerne Alibaba, Tencent und Baidu im Rahmen der vor einigen Jahren angestoßenen Gesundheitsreform neue Dienste angeboten: Telemedizin, Onlinetermine im Krankenhaus, um die langen Wartelisten zu umgehen, Speicherung der Gesundheitsdaten von Patienten – und private Krankenversicherungen. China könnte als Pionier auf diesem expandierenden Markt großen Profit aus seinen bisherigen Erfahrungen ziehen.

1 „WHO, Pneumonia of unknown cause – China“, 5. Januar 2020.

2 „Landmark collaboration to make Covid-19 testing and treatment available to all“, UN News, 24. April 2020.

3 Vgl. „Évolution du système de santé – Inefficacité, vio­lence, et santé numérique“, Perspectives chinoises, Nr. 4, Hongkong 2016.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Carine Milcent forscht am CNRS, Paris, und ist Autorin von „Healthcarereform in China. From Violence to Digital Healthcare“, Heidelberg (Springer) 2018.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Carine Milcent