11.06.2020

Texas, das Virus und die Waffen

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Texas, das Virus und die Waffen

von Maxime Robin

„Free Texas“-Rallye in Austin, 23. Mai 2020 JEFF NEWMAN/picture alliance
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Jeder US-Bundesstaat hat seine eigene Virus-Geschichte. In Texas begann sie am 6. März, als ­Steve Adler, der demokratische Bürgermeister der Hauptstadt Austin, den Notstand ausrief und das internationale Kulturfestival South by Southwest eine Woche vor Beginn absagte. Zu diesem Zeitpunkt gab es zwar noch keinen bekannten Covid-19-Fall in der Stadt, aber Adler reagierte darauf, dass wichtige kalifornische Unternehmen wie Ap­ple, Facebook, Intel und Netflix ihre Teilnahme zurückgezogen hatten. Sie wollten ihre Angestellten vor dem Kontakt mit einer halben Million Gästen aus aller Welt schützen.

Zum Festival versammelt sich sonst für zwei Wochen alles, was in der Unterhaltungsindustrie Rang und Namen hat, in Musik, Film und Technologie. Zwischen zwei Konzerten hätte man diesmal so unterschiedlichen Leuten wie Kim Kardashian-West, Noam Chomsky und Twitter-Chef Dorsey zuhören können. Die Platin-Plakette für den Zugang zu allen Veranstaltungen kostete 1600 Dollar. Zahlreiche Saisonarbeitskräfte kommen mit diesem Festival übers Jahr, in der Hotellerie, bei Fahrdiensten oder Pizzalieferanten. Die Absage war der Auftakt zur wirtschaftlichen und gesundheitlichen Katastrophe, die das Land nun heimsucht.

Am Tag nach Ausrufung des Notstands trafen sich in einer evangelikalen Kirche in der Guadalupe Street im Zentrum von Austin rund 50 führende Politiker und Unterstützer der Repu­bli­kanischen Partei von Texas. Das Ziel des Treffens war es, Freiwillige für die kommenden Wahlen zu rekrutieren. „Wir sind in Verteidigungsstellung“, warnte Ehrengast Karl Rove, der bei Fox News und im Wall Street Journal als politischer Kommentator aktiv ist und früher Präsident George W. Bush (ebenfalls Texaner) als Chefberater gedient hat.

Bei den Wahlen im November bestimmen die Texaner einen Senator und 36 Kongressabgeordnete für Washington – und die meisten Abgeordneten für das texanische Parlament („Legislature“), das in jedem zweiten Jahr unter der Granitkuppel des Kapitols von Austin zu seinen regulären Sitzungsperioden zusammentritt. Die Legislature ist zuständig für wesentliche Lebensbereiche der Texaner, für Steuern, Gesundheitswesen und Straßenverkehr, es macht die Gesetze zu Schwangerschaftsabbruch, Waffenbesitz und Todesstrafe. In diesem Jahr ist die Wahl besonders entscheidend, denn die Siegerpartei kann – auf Basis einer neuen Volkszählung – die Wahlbezirke im Bundesstaat neu zu ihren Gunsten aufteilen.

Die bei dem Republikaner-Treffen Anwesenden hatten noch nicht begriffen, welche Auswirkungen Covid-19 haben würde. Man sprach von einer „Freiwilligenarmee“ und „Haustürgesprächen“, ein Händedruck sei „sieben Mal so wirksam wie ein Fernsehspot“. Das Wort „Virus“ fiel nur einmal, um den Demokraten Beto O’Rourke wegen seiner schlechten Vorwahlergebniss zu hänseln: „O’Rourke ist das Coronavirus der Politik“, witzelte ein Politstratege aus New Hampshire.

Zwei Tage später verzeichnete der Dow Jones Index die größten Verluste seit 2008: minus 10 Prozent. Am 11. März sagte die National Basketball Association (NBA) ihre Spiele ab; am 12. verkündete die WHO den Ausbruch einer Pandemie. Und die sollte bald hinwegfegen, was im Augenblick der politischen Versammlung noch normal gewesen war: Teilnehmende, die per Flugzeug anreisten, und das Wahlprogramm der Republikaner, in dem die Wirtschaft – nach Religionsfreiheit, Schutz des ungeborenen Lebens und Recht auf Waffenbesitz – erst an vierter Stelle kam.

Mit Covid-19 wurden die Karten neu gemischt. Innerhalb weniger Wochen stieg die Arbeitslosigkeit in den USA über die Rekordzahlen von 1933, fast 2 Millionen Texaner verloren ihren Job, der Ölpreis sank ins Bodenlose. Selbst der Ablauf der kommenden Wahlen ist ungewiss. Wie sollen die Texaner ihre Stimme abgeben? Per Briefwahl? Keiner weiß es.

Donald Trump schloss erst einmal die Außengrenzen, doch innerhalb der USA gab er sich zurückhaltend. Als Präsident verfügt er über mächtige Instrumente, wie den Defense Production Act, der zu Beginn des Koreakriegs verabschiedet worden war, um große Konzerne zur Produktion von Verteidigungsgütern heranzuziehen. Doch das Gesetz wurde in der Pandemie nur sehr vereinzelt angewandt – so verpflichtete man die Beschäftigten der Schlachthöfe, trotz erheblicher Gesundheitsrisiken zur Arbeit zu erscheinen.

Trump arbeitete mit den Konzernen auf freiwilliger Basis und ganz nach deren finanziellen Vorstellungen zusammen. Im Übrigen beschränkte sich sein Krisenmanagement darauf, die Wirtschaft um jeden Preis wieder anzukurbeln und die reale Gefahr, die man an den Infektionsstatistiken ablesen konnte, kleinzureden.

Michaels Gun Shop ist systemrelevant

Den Rest überließ der Präsident den Gouverneuren. So verfolgte jeder Bundesstaat seine eigene Krisenstrategie und beschaffte – je nach Willen und Mitteln – Masken, Beatmungsgeräte und Tests selbst. Die Gouverneure beklagten die mangelnde Koordination durch Washington, die schlimme Folgen hatte. „Wir kämpfen gegeneinander“, erklärte Andrew Cuomo, der Gouverneur des Bundesstaats New York, am 31. März in einem seiner täglichen Pressebriefings. „Bis uns ein Hersteller anruft und sagt: ‚Es tut uns leid, aber Kalifornien hat Sie gerade überboten.‘ Es ist so, als würden sich alle 50 Staaten bei eBay an der Versteigerung eines Beatmungsgeräts beteiligen.“1

Im Mai wurden im ganzen Land die Einschränkungen in ungeregelter Weise gelockert, je nach politischer Ausrichtung und Lage vor Ort. Das Weiße Haus gab den Bundesstaaten einen Leitfaden an die Hand, eine 20-seitige Broschüre, in der keine einzige wissenschaftliche Studie zitiert wird. Die darin aufgeführten Kriterien sind nach Meinung eines demokratischen Senators aus Connecticut „auf kriminelle Weise unklar“. Aber nicht alle: So darf ein Staat erst dann den Lockdown beenden, wenn die Zahl der Neuinfektio­nen an 14 Tagen in Folge gesunken ist.

Das ist in Texas nicht der Fall; hier waren die Infektionsraten bei den ersten Lockerungen am 1. Mai gerade gestiegen. Texas ist ein schlagendes Beispiel für den Willen, ungeachtet der gesundheitlichen Folgen die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Angestachelt von Trumps Aufruf, die Staaten zu „befreien“, waren am 18. April etwa hundert Demonstranten, eine Truppe aus Libertären, Nationalisten und Impfgegnern, vor das Kapitol in Austin gezogen. Inhaber von Bars oder Tätowierstudios holten sich kräftige Kerle, die bewaffnet vor ihren Läden standen und trotz Verbots den freien Zugang sichern sollten.

„Seit 1871 ist es in Texas vollkommen legal, auch ohne Waffenschein mit einer Langwaffe auf der Straßen herumzulaufen“, erklärte uns im März der Waffenhändler und Schießlehrer Michael Cargill aus Austin bei einem Waffenschein-Kurs. Cargill ist schwarz, schwul und Republikaner. Als Gewerbetreibender kämpft er für das Recht auf Waffenbesitz – darauf beruht schließlich sein Geschäft. Er ermutigt Afroamerikaner, ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrzunehmen und sich eine Waffe zuzulegen, damit sie sich im Notfall verteidigen können.

In der Pandemie kämpfte er darum, dass sein Gun Shop als systemrelevant anerkannt wurde: „Ein Polizist kam, um meinen Laden zu schließen, weil mich jemand angezeigt hatte. Ich erklärte ihm, dass der 2. Verfassungszusatz [das Recht auf Waffenbesitz] wesentlicher Bestandteil der amerikanischen Verfassung sei und dass die Texaner in einer Zeit der Krise, in der man Aufstände befürchten müsse, das Recht hätten, sich selbst zu schützen.“ Der Generalstaatsanwalt von Texas bestätigte diese Auffassung, und Cargill konnte sein Geschäft während des Lockdowns offenhalten – wodurch er eine Menge Neukunden gewann.

Texas zählt zu den wenigen Bundesstaaten, die in ihrer Geschichte eine Phase der Unabhängigkeit erlebten – zwischen 1836 und 1845 gab es sogar eine texanische Botschaft in London. Gelegentlich erwachen separatistische Bestrebungen, zuletzt in den 1980er Jahren nach einer Ölkrise. Das Misstrauen gegen Eingriffe Washingtons sitzt hier tiefer als anderswo.

Aufgrund der relativ niedrigen Mortalitätsrate (weniger als 5 Covid-19-Tote pro 100 000 Einwohner bis Mitte Mai, während es im Bundesstaat New York über 140 waren) vertrat Cargill die Ansicht, die bürgerlichen Freiheitsrechte müssten über dem Gesundheitsschutz stehen. Er warf dem Gouverneur vor, während der Pandemie per Dekret regiert zu haben, „praktisch wie ein Diktator, während die Verfassung von Texas doch vorschreibt, dass unter solchen Umständen das Parlament zusammenkommen muss“. Der Staat könne Warnungen herausgeben, aber „es sei die Aufgabe des Volkes, zu entscheiden, wie gehandelt werden soll“. Und er fuhr fort. „So wurde Amerika aufgebaut. Wenn du Angst hast, krank zu werden, dann bleib halt zu Hause.“

Cargill musste seine Waffenkurse für einen Monat unterbrechen. Sie bilden jedoch den Hauptteil seiner Einkünfte, denn mit Waffenverkauf, behauptete er, verdiene er nicht viel. Der finanzielle Verlust beunruhigte ihn weitaus mehr als das Virus, „das noch über Jahre in Wellen kommen und gehen wird, aber wenn man drei Monate schließen muss … Viele Geschäfte haben nicht genug Rücklagen, um da wieder rauszukommen.“

Jede Woche veröffentlicht Cargill nun einen Podcast zu Politik und Schusswaffen. In einer Folge empfing er die Friseurin Shelley Luther aus Dallas, die darum gekämpft hatte, in ihrem Salon weiterhin Kunden zu bedienen, und die republikanische Regierung von Texas offen herausforderte. Ein Gericht verurteilte sie zu einer Geldbuße, aber wegen ihrer Dickköpfigkeit und des Medienrummels, den sie veranstaltete, landete sie schließlich für eine Woche im Gefängnis.

„Das ist wirklich das Letzte, was die texanischen Politiker wollen“, erklärte uns Cargill, „eine weiße, blonde Frau in den Knast stecken.“ Innerhalb weniger Tage schlossen sich fast alle republikanischen Abgeordneten in Texas dem Kreuzzug der Friseurin an – und verstießen damit gegen das Dekret von Gouverneur Greg Abbott. Trump setzte dem Ganzen die Krone auf, als er die Friseurin in einem Interview mit seiner Lieblingssendung „Fox and Friends“ und beim Besuch von Gouverneur Abbott im Weißen Haus am 7. Mai lobend erwähnte. Kurz darauf änderte der Gouverneur sein Dekret, der oberste Gerichtshof von Texas kassierte die Strafe für Luther, und in ganz Texas wurde die Aufhebung der Beschränkungen beschlossen.

„Diese Frau hat entgegen den gesetzlichen Vorschriften bewaffnete Männer rekrutiert, um ihren Salon zu bewachen. Und der Gouverneur hat dem Druck nachgegeben“, fasst der Demokrat Mike Siegel, der sich derzeit um einen Sitz im Kongress bewirbt, die Angelegenheit in einem Telefongespräch zusammen. „In diesem wie in vielen anderen Fällen tun die Republikaner so, als spräche die lautstärkste Minderheit ihrer Wählerschaft für ganz Amerika, dabei sagen die derzeitigen Umfragen das Gegenteil.“

Dieses Verhalten erklärt Siegel mit dem Druck, den die Kreditgeber der Wahlkämpfe ausüben: „In Texas gibt es keine Grenzen für Wahlkampfspenden. Abbott wird finanziell von Unternehmen unterstützt, die so schnell wie möglich wieder aufmachen wollen.“

Trumps wichtigstes Argument für seine Wiederwahl, der gute Zustand der US-Wirtschaft, ist dahin. Deshalb beschuldigen die Republikaner jetzt die (meist demokratischen) Bürgermeister der großen Städte, die verfassungsmäßigen Rechte der Amerikaner einzuschränken und das Land in eine Diktatur zu verwandeln. So drohte etwa der texanische Generalstaatsanwalt Ken Paxton der Stadt Austin mit einem Verfahren, weil er die Maskenpflicht als „Orwell’sche“ Maßnahme empfand.

Bis dato war die texanische Wirtschaft führend in den USA, hier werden 40 Prozent der fossilen Brennstoffe gefördert. Seit 2012 steht Austin an der Spitze des Wachstums städtischer Ökonomien landesweit. Einkommensteuern gibt es nicht, die Einnahmen stammten vor allem aus Mehrwertsteuern und den Abgaben auf Benzin und die Produktion fossiler Energieträger. Frühere Krisen hat der Staat stets meistern können, weil der Ölpreis hoch genug war: Was in anderen Gebieten die Wirtschaft hemmte, füllte hier die Kassen. Seit einer Weile sind die Preise jedoch so tief gefallen, dass sie im April zum ersten Mal in der Geschichte ins Minus gerieten (siehe Artikel auf Seite 1).

Ohne Öl und ohne wirksamen Puffer ist Texas der Virus-Katastrophe ausgeliefert. Der Staat wäre die letzte Rettung für Bürger, die ihre Arbeit und damit ihre Krankenversicherung verloren haben, da für Letztere in den USA meist der Arbeitgeber sorgt. Wie im übrigen Land fordern auch in Texas Hunderttausende eine Entschädigung für ihre unverschuldete Entlassung, so dass die unterbesetzten Callcenter der zuständigen Texas Workforce Commission völlig überlastet sind.

Die Justiz zeigt sich von der Lage wenig beeindruckt: Der oberste Gerichtshof von Texas hat ab Juni erneut Räumungen von Wohnungen und Schuldeneintreibungen genehmigt und damit die gnadenlose Rückkehr zum Business as usual besiegelt.

1 David Smith, „New York’s Andrew Cuoma decries ­‚e-Bay‘-style bidding war for ventilators“, The Guar­dian, 31. März 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Maxime Robin ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Maxime Robin