11.06.2020

Anruf in Damaskus

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Anruf in Damaskus

Dank der militärischen Hilfe Russlands hat sich Syriens Diktator Assad bis heute an der Macht halten können. Inzwischen nähern sich ihm jene arabischen Regierungen wieder an, die zu Kriegsbeginn auf seinen Sturz hingewirkt haben.

von Adlene Mohammedi

Irans Außenminister Sarif zu Besuch bei Assad, 20. April 2020 sana/reuters
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Gleich nach Beginn des Sy­rien-Kriegs gingen die Re­gio­nal­mächte auf Distanz: Im November 2011 schloss die Arabische Liga auf Betreiben Saudi-Arabiens und Katars das Gründungsmitglied Syrien aus. Im März 2013 erwog die Organisation sogar, den Sitz an die syrische Opposition zu vergeben. Doch drei Staaten stellten sich dagegen: Algerien, Irak und Libanon. Die Isolation war also begrenzt. Das Baath-Regime – das lange ein Bannerträger des arabischen Nationalismus war – hatte tatsächlich noch in allen „Bruderländern“ Unterstützer.1

Der Rauswurf wurde mit nachhaltiger Verbitterung quittiert: So beschrieb Syriens UN-Botschafter Baschar al-Dschafari im panarabischen Sender Al Mayadeen am 22. März 2013 den Arabismus als eine Bürde, die sein Land stets bereitwillig und selbstlos getragen habe, was er anhand von drei historischen Wegmarken illustrierte: erstens das Exil für den algerischen Freiheitskämpfer Haddschi Abd el-Kader 1855; zweitens die Proklama­tion des aus der saudischen Stadt Dschidda stammenden Faisal I. zum König von Syrien 1920 und drittens die Akzeptanz der ägyptischen Bevormundung unter Nasser innerhalb der Vereinigten Arabischen Republik (1958–1961).

Während ein Teil der arabischen Welt Assad den Rücken kehrte und die Golfmonarchien den transnationalen Dschihad unterstützten, der in Syrien einen neuen Schauplatz fand, konnte Damaskus stets auf seinen iranischen Verbündeten zählen. Zudem erwies sich Russland als verlässlicher Partner, der sowohl politisch – mit seinem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat – als auch militärisch – insbesondere seit Moskau im Herbst 2015 begann, direkt in den Syrien-Krieg einzugreifen – großes Gewicht besaß. Damaskus profitierte außerdem vom mächtigen re­gio­na­len Netzwerk proiranischer Milizen wie der libanesischen Hisbollah. Erst der höchst bedrohliche Aufstieg der Terrororganisation IS und die militärischen Erfolge des Pro-Assad-Lagers sorgten ab 2014 für eine Wiederannäherung zwischen einigen arabischen Regierungen und dem Diktator in Damaskus.

Die miteinander verbündeten Re­gimegegner verfolgen allerdings jeweils unterschiedliche Ziele: Während die Türkei und Katar Assad zugunsten der von ihnen protegierten Muslimbrüder stürzen wollten, ging es Saudi-Arabien vor allem darum, zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) den iranischen Einfluss im Nahen Osten zurückzudrängen und die strategische Verbindung zwischen Teheran und Damaskus zu zerschlagen. Das unerwartete Überleben des Baath-Regimes führte dazu, dass sich das Anti-Assad-Lager spaltete und die Achsen Riad–Abu Dhabi und Ankara–Doha zu scharfen Rivalen wurden.

Diese Gegnerschaft trat bereits im Juli 2013 in Ägypten zutage, als das Militär den gewählten Präsidenten und Muslimbruder Mohammed Mursi absetzte: Saudi-Arabien und die VAE unterstützten den Staatsstreich, Damaskus und Moskau begrüßten ihn. Dagegen verurteilten die Türkei und Katar als Mursis Verbündete den Putsch.

Russlands Krieg gegen die Aufständischen in Syrien war brutal und sehr effektiv,2 die regimetreuen Kräfte gewannen in Aleppo, Daraa und in der Ost-Ghuta entscheidende Schlachten. Und als dann im Mai 2017 der Astana-Prozess in Gang kam, in dem sich Iran, Russland und die Türkei – Letztere als Unterstützerin der syrischen Opposi­tion – offiziell um eine politische Lösung des Konflikts bemühten, schienen alle Versuche, Assad zu stürzen, weitgehend aussichtslos zu sein.

Die Rolle Russlands ist auch deswegen entscheidend, weil sich Moskaus Beziehung zu allen Feinden des Assad-Regimes in den vergangenen Jahren verbessert hat, sowohl auf bilateraler Ebene als auch in der Syrien-Frage. Für Russland ist die Wiederaufnahme Syriens in die „arabische Familie“ – eine Formulierung, die russische Diplomaten gern verwenden – ein Mittel, um die internationale Legitimität des Regimes wiederherzustellen.

Aber sie dient auch dazu, den Wiederaufbau des Landes vorzubereiten, den Moskau für weit wichtiger hält als politische oder institutionelle Reformen. Aus russischer Sicht sind die Golfstaaten am besten dazu geeignet, Damaskus’ „Rehabilitierung“ innerhalb der Arabischen Liga zu erleichtern und zugleich die Hilfen für die syrische Wirtschaft mitzufinanzieren.

Katar und Saudi-Arabien zögern zwar, ihr Verhältnis zu Damaskus zu normalisieren – Doha wegen seiner privilegierten Beziehung zu Ankara und Riad, weil es Syriens Verbündeten Iran als Hauptfeind betrachtet. Doch auf die VAE kann die russische Diplomatie bereits zählen, wenn es darum geht, Assad die Hand zu reichen.

Abu Dhabi legt vor, Riad zögert

Drei Ereignisse zeigen, wie sich Damaskus und Abu Dhabi schon angenähert haben: die Wiedereröffnung der VAE-Botschaft in der syrischen Hauptstadt im Dezember 2018, die Teilnahme einer großen Delegation aus den VAE an der Internationalen Messe von Damaskus im August 2019 und der telefonische Austausch zwischen dem Kronprinzen von Abu Dhabi, Mohammed bin Zayed (MBZ), und Baschar al-Assad im März dieses Jahres.3 Dabei soll es um Solidarität im Hinblick auf die Coronapandemie gegangen sein.

Dass die VAE das Gespräch mit Damaskus suchen, ist aber nicht allein dem Motiv geschuldet, Russland gefallen zu wollen. Für Abu Dhabi zählt nur Stabilität, und dafür schreckt es vor autoritären Maßnahmen nicht zurück.4 Die VAE sind zwar mit Riad verbündet, und MBZ pflegt ein enges Verhältnis zum saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS), als dessen Mentor er oft bezeichnet wird. Doch die Interessen der VAE sind keineswegs deckungsgleich mit denen der Saudis. Abu Dhabi ist die Frontstellung gegenüber dem politischen Islamismus, vor allem gegenüber der Muslimbruderschaft, offenbar wichtiger als das Kräfte­messen mit Iran.

Die wachsende Rivalität mit der Türkei – etwa in Libyen – sorgt dafür, dass Abu Dhabi den Einfluss Ankaras in Syrien zurückzudrängen versucht. Die türkische Armee und die mit ihr verbündeten Milizen in der letzten großen Rebellenenklave Idlib bleiben zunehmend auf sich allein gestellt. Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen die syrische Anti-Assad-Opposition aus den Golfmonarchien mit Waffen und Geld versorgt wurden.5

Auch andere arabische Staaten haben ihre Einstellung gegenüber Assad im Laufe des Syrien-Kriegs geändert. Drei Jahre nach dem Putsch gegen Ägyptens Präsident Mohammed Mursi entschied sich sein Nachfolger Abdel Fattah al-Sisi dazu, den Machthaber in Damaskus fortan zu unterstützen. Seine Argumentation ähnelte dabei derjenigen, die schon aus Moskau oder Abu Dhabi zu hören war: Nationale Armeen seien Extremismus und Terrorismus immer vorzuziehen.

Tunesien durchlief eine ähnliche Entwicklung. 2012 brach die postrevolutionäre Regierung unter dem Interimspräsidenten Moncef Marzouki die Beziehungen zu Syrien ab, eine Entscheidung, die von einem Großteil der tunesischen Linken kritisiert wurde. Heute schließt Tunis nicht mehr aus, sich Damaskus wieder zuzuwenden. Anfang 2019 bekräftigte der Außenminister (und frühere Botschafter in Moskau) Chemaies Dschinaoui, der „natürliche Platz“ Syriens sei in der Arabischen Liga – und erwähnte mit keinem Wort, dass der Abgang Assads dafür eine Bedingung sein könnte.

Ein ganz spezieller Fall ist Beirut, wenn es um die Normalisierung der Beziehungen zu Syrien geht. Zu Beginn des Konflikts nahm Damaskus das libanesische Territorium vor allem als destabilisierenden Faktor wahr. Das sogenannte antisyrische Lager im Libanon – die Zukunftsbewegung von Premier Hariri, die Forces Libanaise (LF) unter Samir Geagea und die Progressive So­zia­listische Partei von Walid Dschumblat – sowie salafistische Gruppen, wie die Anhänger von Imam Ahmad al-Assir, unterstützten teils offen die syrischen Rebellen und setzten sich für den Sturz der Diktatur ein.

Die Assad-feindlichen Dschihadisten erlitten im Frühling und Sommer 2013 zwei herbe Niederlagen: In der „Schlacht von Sidon“, einer Hafenstadt südlich von Beirut, gingen die libanesische Armee und die Hisbollah gegen al-Assir und seine Unterstützer vor. Der Geistliche konnte fliehen, wurde aber 2015 festgenommen und zwei Jahre später von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Und in Kusseir, einer Stadt in der syrischen Provinz Homs unweit der Grenze zum Libanon, bezwang die Hisbollah zusammen mit Assads Truppen Aufständische, darunter Kämpfer der Nusra-Front.

Die militärischen Aktivitäten der Hisbollah in Syrien haben zu einem Riss in der politischen Landschaft des Libanon geführt: Die Verbündeten der Hisbollah, vor allem die Freie Patriotische Bewegung, die Partei des Ex-Generals Michel Aoun, unterstützen die Intervention und sehen darin einen Schutz vor der „terroristischen Bedrohung“. Ihre Gegner, die von Riad gefördert werden, beklagen hingegen den Sonderstatus der Schiitenmiliz im Libanon und kritisieren deren Engagement im Syrien-Konflikt.

Zwischen 2016 und 2018 entwickelte sich die Situation im Libanon zugunsten des Assad-Regimes: Im Oktober 2016 wurde Michel Aoun Präsident; im November 2017 verkündete Pre­mier Hariri während eines erzwungenen Aufenthalts in Riad seinen Rücktritt, den er kurz darauf widerrief6 – eine Episode, die für eine Annäherung zwischen Aoun und Hariri sorgte. Bei der Parlamentswahl im Mai 2018 konnte das prosyrische Lager im Libanon deutliche Zugewinne verbuchen.

Auch wenn die Frage der Beziehungen zu Damaskus aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise im Libanon nachrangig geworden ist: Die politische Klasse des Landes bleibt bei diesem Thema gespalten. Zwar gab es zwischen Libanon und Syrien nie einen völligen Bruch. Eine enge Kooperation mit dem Assad-Regime, wie sie die Hisbollah und ihre Verbündeten anstreben, lehnen deren Widersacher im Libanon jedoch ab.

Die zukünftige Entwicklung des bilateralen Verhältnisses dürfte auch von der Flüchtlingsfrage abhängen. Im Juni 2019 waren im Libanon laut Amnesty International 938 531 geflüchtete Syrer durch den UNHCR registriert, dazu noch 31 000 Palästinenser, die wegen des Kriegs Syrien verlassen hatten.7 Laut der libanesischen Regierung leben weitere 550 000 unregistrierte Geflüchtete in dem Land.

Insbesondere die Hisbollah und die Freie Patriotische Bewegung fordern eine schnelle Rückkehr der Geflüchteten, auch weil dadurch eine Normalisierung der dortigen Situation suggeriert würde. Für viele Kriegsopfer ist ein solcher Schritt aber ausgeschlossen, denn sie müssten in einem weiterhin von Assad beherrschten Syrien erneut um ihr Leben fürchten.

In Syrien spielen heute zwar vor allem die nichtarabischen Staaten Russland, Iran und die Türkei eine herausragende Rolle. Doch eine Rückkehr des Landes in den Schoß der arabischen Familie könnte dem Assad-Regime auch die Möglichkeit eröffnen, sich von seinen Unterstützern in Moskau und Teheran wieder unabhängiger zu machen.

1 Siehe Akram Belkaïd, „Helden oder Terroristen“, LMd, April 2016.

2 Der jüngste Bericht von Amnesty International über die Ereignisse in Nordwestsyrien belastet das Assad-Regime und die russischen Streitkräfte schwer. Siehe: „Syria: ‚Nowhere is safe for us’: Unlawful attacks and mass displacement in north-west Syria“, Amnesty International, 11. Mai 2020.

3 Antoine Ajoury, „Comment la Russie tente de rapprocher les Émirats de la Syrie“, L’Orient-Le Jour, 29. März 2020.

4 Andreas Krieg, „How the UAE’s stability narrative threatens change across region“, Middle East Eye, 17. April 2019.

5 Murat Yesiltas und Omer Ozkizilcik, „Why is Turkey alone in Idlib?“, Middle East Eye, 28. Juni 2019.

6 Siehe Jakob Farah, „Die Rückkehr des Sohnes“, LMd, Dezember 2017. Im Oktober 2019 legte Saad Hariri infolge massiver landesweiter Proteste endgültig sein Amt nieder.

7 „Syrie: la question du retour des réfugiés“, Amnesty International, 20. Juni 2019.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Adlene Mohammedi ist Forscher für Geopolitik und betreibt die Onlineplattform Araprism.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Adlene Mohammedi