13.08.2020

Solidarität und Selbsthilfe

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Solidarität und Selbsthilfe

Was Afrika aus der Pandemie lernen sollte

von Boubacar Boris Diop

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Ob Ebola, Sars oder Schweinegrippe – die Furcht vor einer Pandemie war stets größer als die tatsächliche Bedrohung. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Gefährlichkeit des neuen Virus Sars-CoV-2 anfangs unterschätzt wurde. An Covid-19 werden vielleicht nicht so viele Menschen sterben wie an der Spanischen Grippe von 1918, aber die ökonomischen Folgen dürften noch dramatischer sein. Sie bereiten schon heute mehr Sorgen als die Pandemie selbst. Gleichzeitig hat weltweit bereits die Schlacht um die Deutungshoheit in Sachen Pandemie begonnen.

In Afrika haben am 1. Mai 2020 rund hundert Intellektuelle, unter ihnen Wole Soyinka, Cornel West, Mak­hily Gassama und Djibril Tamsir Nia­ne, einen offenen Brief an die afrikanischen Staatsoberhäupter unterschrieben, der ein riesiges Echo ausgelöst hat.1

Die Pandemie hat ganz Afrika klargemacht, wie verwundbar der Kontinent ist, aber auch wie wenig das den Rest der Welt kümmert. Wenn Afrika in Katastrophen wie diesen auf keine Hilfe von außen zählen kann, hilft im Grunde nur Selbsthilfe. Doch obwohl das Virus fast alle Länder gleichzeitig heimgesucht hat, kam ein gemeinsamer Widerstand nicht zustande. Vielmehr haben die nationalen Egoismen jede solidarische Regung erstickt.

Da Afrika in fast jeder Beziehung von anderen abhängig ist, steuert der Kontinent seit langem auf seine Selbstzerstörung zu. Und wenn das Virus hier zu Beginn der Pandemie ebenso tödlich gewirkt hätte wie im reichen Westen, wäre ein Massensterben unvermeidlich gewesen. Das Bild des Jammers, das die westlichen Mächte derzeit abgeben, erinnert aus afrikanischer Sicht an die Situation nach 1945.

Damals hatten die afrikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg für ihre Kolonialherren kämpften, den Mythos der westlichen Allmacht auf den Schlachtfeldern untergehen sehen. Zugleich haben sie erlebt, wie sich auch andere Völker gegen ihre Herrscher erheben, und sie lernten die Mechanismen ihrer eigenen Unterdrückung besser zu verstehen. Diese Afrikaner gehörten zu den Befreiern Europas. Vom Komplex der Unterlegenheit gegenüber dem weißen Mann befreit, wurden sie zu aktiven politischen Kämpfern für die eigene Unabhängigkeit.

Seit zwanzig Jahren flößt der Westen den vielen Nationen, die er unterjocht, kaum noch Angst oder Respekt ein. Mit den Kriegen im Irak und in Libyen hat er den letzten Rest moralischer Autorität verspielt. Das Virus hat diese Autorität zwar noch nicht endgültig zerstört, aber doch tief untergraben. Das heißt nicht, dass die aktuelle Pandemie eine neue und gerechtere Weltordnung hervorbringen wird, aber immerhin hat es die Grenzen der scheinbar unbeschränkten westlichen Hegemonie sichtbar gemacht.

Als die Pandemie ausbrach, war Donald Trump seit drei Jahren Präsident der USA, die immer noch, wenn auch immer weniger, die westliche Führungsmacht sind. Die Geschichte wird nicht von einzelnen Menschen „gemacht“, aber sie vollzieht sich des Öfteren durch das Wirken einer bestimmten Person. So gesehen ist Trump womöglich kein Unfall als vielmehr ein Symptom für den Niedergang des Westens. So wie der ungarische Autokrat Viktor Orbán, der die These vom „Großen Austausch“ vertritt, kein Zufall ist, sondern mit seinen nationalistischen Parolen in ganz Europa Nachahmer finden könnte.

Vor diesem Hintergrund versteht man besser, warum sich neuerdings viele Staatsführer des globalen Südens offen mit dem Norden anzulegen wagen. So bekam Präsident Emmanuel Macron im Dezember 2017 in Ghana von seinem Gastgeber, Nana Akufo Addo, einige bittere Wahrheiten über die Entwicklungshilfe zu hören. Nach dem Tod von George Floyd verurteilte die Afrikanische Union die Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA mit harten Worten. Und Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa erklärte, der Mord von Min­nea­polis lasse „die Wunden der Schwarzen in Südafrika wieder aufbrechen“.

Und doch ändern solche bemerkenswerten Äußerungen noch nichts an dem Kräfteverhältnis, das nach wie vor zwischen Afrika und den westlichen Ländern herrscht, die sich gern als dessen Wohltäter darstellen. Das gilt besonders für die frankophonen afrikanischen Staaten, die seit nunmehr sechzig Jahren einer quasi direkten Aufsicht durch ihre ehemalige Kolonialmacht unterliegen.

Zu Zeiten des Kalten Kriegs hatte die CIA ihre Leute bekanntlich am Kabinettstisch der lateinamerikanischen Marionettenregierungen platziert. Eine abgemilderte Version dieses Regimes findet sich heute im frankophonen Afrika, der letzten Region der Welt, in der ein anderer Staat etwa in Währungsfragen so große Entscheidungsmacht hat. Paris betrachtet diesen Teil Afrikas bis heute als gigantische Rohstoffquelle, weshalb die Interessen von Total, Areva oder Eiffage von keiner anderen Macht bedroht werden dürfen. In diesen frankophonen Staaten hat die französische Armee seit deren Unabhängigkeit Dutzende Male interveniert, erstmals in Gabun 1964. Im Gegensatz dazu hat Großbritannien noch nie auch nur einen einzigen Soldaten in seine früheren afrikanischen Kolonien entsandt.

Das Kapitel Françafrique endlich beenden

Dass sich Präsident Macron im Dezember 2019 erstmals öffentlich über „anti­französische Gefühle in Afrika“ ­beklagte, markiert eine Art Zeitenwende. Macron war nicht entgangen, dass eine neue Generation angetreten ist, um das anachronistische Françafrique-Kapitel zu beenden. Angeführt wird die Bewegung von prominenten Nichtpolitikern wie den Musikern Salif Keïta, Alpha Blondy oder Tiken-Jah Fakoly und dem Filmemacher Cheick Oumar Sissoko. Im Februar 2019 hat beispielsweise der großartige Richard Bona ein Konzert in Abidjan abgesagt und erklärt, er werde in keinem Land mehr auftreten, das den CFA-Franc als Währung hat.2

All das geschah bereits vor der Pandemie, die ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit geweckt hat, das im Grunde nie verloren gegangen war. In vielen Ländern artikuliert sich das Gefühl, dass für Afrika nun die Stunde der wahren Souveränität geschlagen habe. Um das Ende der alten Unterwürfigkeit zu signalisieren, wurde in Staaten wie Burundi, Marokko und Äquatorialguinea entgegen zeitweiligen Bedenken der WHO das Malariamittel Hydroxychloroquin gegen Covid-19 verschrieben. Madagaskar hat auf Grundlage der Artemisia-Pflanze ein eigenes Medikament namens Covid-Organics entwickelt. Und in der nigerianischen Hauptstadt Abuja wurde der chinesische Botschafter wegen der schlechten Behandlung von Afrikanern in China zur Rede gestellt.

Dabei folgt dieser neue Kampfgeist nur dem Überlebensinstinkt. Wo man in Sachen Ernährung und medizinischer Versorgung auf andere angewiesen ist, können Hungersnöte und Epidemien zur tödlichen Gefahr werden. Im Zentrum aller Diskussionen, die vor allem in den sozialen Medien und auf Onlineportalen ausgetragen werden, steht deshalb die Selbstversorgung mit Lebensmitteln und eine effektivere Verwendung der verfügbaren Arzneimittel. Besonders engagiert und entschlossen zeigt sich die junge Generation. Hier entsteht eine gewaltige politische Bewegung; schließlich sind 70 Prozent der Menschen in Subsahara-Afrika noch keine dreißig Jahre alt.

Aber bedeutet das auch, dass wir bereits rosigen Zeiten entgegensehen? Gewiss nicht. Dazu müssten in der beschworenen „Welt danach“ die Präsidenten Alassane Ouattara (Elfenbeinküste) und Macky Sall (Senegal) plötzlich anfangen, wie Thomas Sankara zu denken. Die Zählebigkeit von Franç­afrique ist nicht nur das Werk der politischen Klasse. Mitverantwortlich sind auch viele Intellektuelle und Kulturschaffende, die so sehr die Nähe der Macht suchen, dass sie nur noch Zombies gleichen. Viele von ihnen, die jetzt so tun, als könnten sie die neue Welt kaum erwarten, sind in Wirklichkeit fanatische Anhänger des Status quo.

Um die Empörten zu besänftigen, haben Macron und Senegals Präsident Macky Sall die Diskussion über einen massiven Schuldenerlass angestoßen.3 Wobei Sall die undankbare Rolle des Bittstellers zufällt, der bei den westlichen Regierungen vorstellig wird, während die gerade dabei sind, ihre eigenen Toten zu zählen. Macron dagegen verfolgt mit dieser Initiative das Ziel, den ganzen Kontinent in die Logik der „Welt vor Corona“ zu bannen, in der die Afrikahilfe vor allem die vermeintliche oder tatsächliche Macht Europas untermauern sollte.

Dass Afrika seine Probleme gemeinsam – im Geiste der Aufbruchstimmung der 1960er Jahre – anpacken könnte, ist jedoch nicht sehr realistisch. Am ehesten denkbar sind noch isolierte Erfolge wie in Ruanda, Ghana oder Äthiopien. Trotz des Gefühls der Zusammengehörigkeit bleibt Afrika der Kontinent der großen Entfernungen. Es gibt praktisch keine transkontinentalen Verkehrswege, die diesen Namen verdienen, und es reisen mehr Menschen von Lagos nach London oder New York als von Lomé nach Maputo.

Diese Abschottung macht gemeinsames Handeln fast unmöglich und erklärt auch die zuweilen unfassbare Passivität. Gerade jetzt, wo die ganze Welt ihre Solidarität mit den Afroamerikanern bekundet, bleibt Afrika in dieser globalen antirassistischen Bewegung ganz am Rand. Kanadas Premierminister kniete zum Gedenken an George Floyd acht Minuten lang nieder; aber kein afrikanischer Präsident hielt eine solche Geste für nötig.

Und doch sollten wir die anfangs geschilderten Reaktionen auf die Pandemie nicht unterschätzen. Sie könnten Afrika am Ende helfen, „den Abhang zu seinem föderalen Schicksal hinabzugleiten“, wie es der senegalesische Ethnologe Cheikh Anta Diop einmal formulierte – und sei es nur aus „hellsichtigem Egoismus“.

Das erfordert freilich nicht nur viel Zeit, sondern auch eine Menge Leidenschaft und Geduld.

1 Siehe „The time to act is now“ auf africasacountry.com.

2 Siehe auch Fanny Pigeaud, „Wut auf Paris in Franç­afrique“, LMd, März 2020.

3 Siehe Milan Rivié, „Schuldenschnitt für Afrika“, LMd, Juli 2020.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Boubacar Boris Diop ist Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Sein Roman über den Genozid in Ruan­da erschien auch auf Deutsch: „Murambi – Das Buch der Gebeine“, übersetzt von Sahbi Thabet, Leipzig (Ed. Hamouda) 2010.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2020, von Boubacar Boris Diop