07.05.2020

Was heißt hier unqualifiziert?

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Was heißt hier unqualifiziert?

Ohne Supermarktkassiererinnen und Lastwagenfahrer ist die Gesellschaft aufgeschmissen. Das hat spätestens die Coronapandemie gezeigt. Die Anerkennung für diese Leistung lässt aber auf sich warten.

von Lizzie O'Shea

Drive-thru am Amsterdamer Flughafen Schiphol, 18. März 2020 ROBIN UTRECHT/picture alliance
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Es überrascht, wie viele Leute ihr Arbeitsleben bei Mc­Do­nald’s begonnen haben. Paul Ryan etwa, einer der libertären Vordenker der US-Republikaner, meint, beim Burgerwenden habe er den amerikanischen Traum verstanden; und Amazon-Chef Jeff Bezos, der als Jugendlicher bei dem Fast-Food-Giganten jobbte, sagt: „Mit am meisten Spaß hat mir gemacht, dass man echt schnell im Job wird. Ich wollte zum Beispiel sehen, wie viele Eier ich in einer bestimmten Zeit aufschlagen konnte, ohne dass auch nur ein Stückchen Schale reinfiel.“

Ähnlich öde wie Bezos’ Job bei Mc­Do­nald’s sind zumeist die Tätigkeiten bei Amazon. In den Logistikzentren sucht und verpackt der Großteil der knapp 800 000 Beschäftigten den ganzen Arbeitstag lang bestellte Ware. Früher war McDonald’s die Adresse für einen Job, wenn sonst nichts mehr ging. Jetzt machen die Amazon-Logistikzentren dem Burgergiganten diesen Ruf streitig.

Nach Zahlen der US-amerikanischen Behörde für Arbeitsmarktstatistik von 2018 sind 31 Prozent der Arbeitskräfte in Stellen ohne eine Mindestanforderung an Ausbildung und Schulabschluss beschäftigt, weitere 40 Prozent mussten lediglich einen Highschool-Abschluss vorweisen. Mehr als zwei Drittel der US-Bevölkerung arbeiten also in Jobs, die als un- oder gering qualifiziert gelten.

Doch kellnern, am Telefon beraten oder verkaufen, Waren einsortieren, Essen zubereiten und Kunden bedienen, all das erfordert nicht nur Geschick, ein gutes Gedächtnis, Kraft und Kondition, sondern auch eine gehörige Portion Nervenstärke, besonders im direkten Umgang mit Kunden. Eine formelle Schulbildung braucht man vielleicht nicht, aber auch in solchen Jobs muss man stets lernfähig bleiben.

„Ein geübter Kellner kann einen ganzen Tisch auf einmal abdecken, weil er das Geschirr auf Unterarm und Händen geschickt platziert“, schrieb Brittany Bronson in der New York Times.1 Sie ist mit unterschiedlichen Arbeitswelten vertraut: Sie unterrichtet an der University of Nevada Englisch und kellnert in Restaurants. „Die Begriffe ‚unqualifizierte‘ und ‚gering qualifizierte Arbeit‘ “, schreibt Bronson, „stehen in krassem Widerspruch zu der Sorgfalt und Genauigkeit, mit denen meine Kollegen, die über eine mannigfaltige Vorbildung und Sprachkompetenz verfügen, ihre Aufgaben meistern.“

Unqualifizierte Arbeit erfordert also durchaus Qualifikationen; aber wie steht es mit dem Management dieser Unqualifizierten? Meist nehmen die Diskussionen darüber, dass Roboter uns die Arbeit wegnehmen, nur den Niedriglohnsektor in den Blick, selten die Automatisierung des Managements. Dabei wird etwa die Just-in-time-Erstellung von Dienstplänen für Arbeitskräfte, von denen maximale Flexibilität verlangt wird, zunehmend durch die Digitalisierung optimiert – und das betrifft vor allem ungelernte Arbeitskräfte.

Die US-Behörde für Arbeitsmarktstatistik stellte für die Jahre 2017 und 2018 fest, dass ein knappes Drittel der Beschäftigten über 25 Jahren in unqualifizierten Jobs ihre Dienstpläne weniger als eine Woche im Voraus mitgeteilt bekamen. Bei denen mit Bachelor- oder höherem Abschluss waren es nur gut 10 Prozent. Bei solcher Ungewissheit müssen die Leute in unqualifizierten Jobs gut organisiert und einfallsreich sein, um ihr Privatleben um ihre Erwerbstätigkeit herum zu organisieren.

Am Arbeitsplatz angekommen, sind die ungelernten Beschäftigten einer Kombination von willkürlichen Regeln und, bei Verstößen, strengen Sanktionen ausgesetzt, was erneut bedeutet, dass sie Talente entwickeln müssen, um beruflich zu überleben.

In Callcentern etwa werden sämtliche Arbeitsabläufe in einer Blackbox aufgezeichnet, algorithmischen Analyseprogramme mit Stimmerkennungssoftware bewerten Leistung und Umgangston der Beschäftigten. Um angesichts strikt festgelegter Fristen und Verhaltensregeln besonders im Umgang mit schwierigen Kunden trotzdem engagiert und einfühlsam zu bleiben, braucht es schon vielfältige Kompetenzen.

Und immer schön höflich bleiben

Der Gewerkschafter Josh Cullinan weist darauf hin, dass die Arbeit am Drive-in-Schalter einer Fast-Food-Kette Multi­tasking-­Fähigkeiten verlangt, die den meisten Beschäftigten vergangener Generationen fremd gewesen wären: Mit einem Headset werden die Bestellungen der Kunden aufgenommen, dann in ein Computerprogramm eingegeben, über das sie in der Küche landen, die Tüten mit dem fertigen Essen werden abgeholt, den Kunden ausgehändigt und die Bezahlung mittels elektronischer Systeme abgewickelt, das ist alles eng getaktet. Und immer schön höflich bleiben, obwohl man physisch und psychisch erschöpfend lange Schichten arbeitet.

In den Debatten über die für unqualifizierte Arbeit notwendigen Qualifikationen wird zudem eines gern außer Acht gelassen: Traditionelle Arbeit ist weitgehend mit Absicht entwertet worden. Man zerschlägt komplexere Tätigkeiten, zwingt die Beschäftigten zu monotonen Handlungen, und die derart reduzierten Aufgaben werden zur psychisch aufreibenden Schinderei. Gleichzeitig zerstört man die mit qualifizierter Arbeit einhergehende Verhandlungsmacht.

Die Journalistin Emily Guendelsberger greift unter anderem dieses Thema in ihrem neuen Buch „On the Clock“2 auf, für das sie in mehreren Niedriglohnjobs gearbeitet hat, unter anderem bei Amazon, in einem Callcenter und bei McDonald’s. Ihre Arbeit als sogenannte Pickerin in einem Amazon-„Fulfillmentcenter“, wo sie die Ware für Onlinekunden zusammensuchte, ist ein Paradebeispiel für einen unqualifizierten Arbeitsplatz und eine sinnentleerte Beschäftigung. Jede Aufgabe wird der Pickerin durch eine elektronische Scanpistole zugeteilt, die für die Erledigung eine auf die Sekunde abgerechnete Zeit vorsieht.

Guendelsberger fand die Arbeit nicht schwierig, aber körperlich fordernd bis zu dem Punkt, dass sie Schmerztabletten nahm. Doch letztlich stellte die Eintönigkeit für sie eine größere Herausforderung dar als die Belastung durch die enormen Strecken, die sie Tag für Tag zu laufen hatte. „Es ist schwer zu vermitteln, was für eine große Rolle die Langeweile spielt – über die Schmerzen zu schreiben, ist leichter“, schreibt sie. „Während dieser langen Tage voller Einsamkeit und Monotonie war ich mehr als einmal kurz davor, hinzuschmeißen.“

Dass die Jobs so entmenschlichend sind, sei auch Kalkül. „Alle statistischen Messungen und tickenden Uhren sowie die automatisierten Strafen bei Amazon dienen dem Zweck, die Leistungsschwächen menschlicher Arbeitender klein zu halten, damit sie wie Roboter funktionieren.“

Repetitive Arbeit ist zwar weit verbreitet, aber nicht immer stumpfsinnige Maloche bei niedriger Bezahlung. Elitesportler etwa trainieren unentwegt sehr spezifische Fähigkeiten, denn die Früchte dieser Mühen bringen so hohe Anerkennung mit sich, dass sie die Nachteile überwiegen. Und der quälende Part der Kleinen Trommel in Maurice Ravels „Boléro“, in dem der Schlagzeuger fünfzehn Minuten lang die gleichen zwei Takte spielen muss, ist stressig; doch um des Ruhmes willen lohnt sich die Anstrengung.

Heute werden selbst in Jobs, die als qualifiziert gelten, wie bestimmte Tätigkeiten im Ingenieursbereich, im Rechnungswesen, in der Bank und sogar in der Medizin, zunehmend technische Systeme eingesetzt, die die Anforderungen an Fähigkeiten und Wissen herabsetzen. Dergleichen Jobs werden auch weiterhin relativ gut bezahlt und sind angesehen; dass ungelernte Arbeitskräfte die niedrigsten Löhne auf dem Arbeitsmarkt bekommen, rechtfertigt man jedoch mit dem repetitiven Charakter der Tätigkeiten.

Eines ist dabei klar: Ohne die Menschen in den unqualifizierten Jobs würde die Gesellschaft nicht funktionieren, das ist nicht zuletzt die Lektion der Coronapandemie. Baugewerkschaften benutzen seit Langem den Slogan: „Wir bauen diese Stadt“, und die investigative Journalistin Barbara Ehrenreich zitierte kürzlich einen befreundeten Lastwagenfahrer, „der gern darauf hinweist, dass jede einzelne Ware, die ich im Supermarkt kaufe, von einem Lastwagen angeliefert worden ist. Nichts geht ohne Leute wie ihn.“

Das Gleiche gilt für die Mitarbeiter in der Küche von Fast-Food-Restaurants, Take-aways und Lieferdiensten. Die Leute, die die Regale in unseren Supermärkten auffüllen oder uns zu Nahrung und Kleidung verhelfen, sind für unser Überleben unabdingbar: Nicht zufällig lautet das Motto einer Landarbeitergewerkschaft in Australien: „Wir ernähren euch!“ Viele unqualifizierte Tätigkeiten mögen monoton, unangenehm und körperlich schmerzhaft sein, aber sie sind definitiv keine „Bullshit Jobs“.3

Was die unqualifizierten Arbeiten gemeinsam haben, ist der Mangel an Anerkennung für die Menschen, die sie machen. Wie das zu ändern ist, lehrt die Widerstandsaktion, über die der Mitarbeiter eines Callcenters in den USA berichtete. Die dortigen Angestellten, deren Job es ist, Personen über ihre politische Einstellung zu befragen, wollten vor allem eines: das Recht, in den teils längeren Pausen zwischen den Gesprächen zu lesen.

Als eine Mitarbeiterin vom Management angewiesen wurde, ihr Buch wegzulegen und ihre Sachen zu packen, rief das heftigen Protest hervor. Die Kollegen legten die Arbeit nieder, erkämpften sich das Recht zu lesen und sorgten dafür, dass die Kündigung der Kollegin rückgängig gemacht wurde.

Jeff Bezos nutzte seine Erfahrung in einem unqualifizierten Job dafür, ein Reich zu erschaffen, in dem diejenigen ausgebeutet werden, die nun in solchen Jobs für ihn arbeiten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ihn jemand dazu bringt, auf seine Angestellten zu hören und ihnen mit Respekt zu begegnen.

1 „Do We Value Low-Skilled Work?“, New York Times, 1. Oktober 2015.

2 Emily Guendelsberger: „On the Clock: What Low-­Wage Work Did to Me and How It Drives America Insane“, ­Boston (Little, Brown and Company) 2019.

3 David Graeber, „Bullshit Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“, Stuttgart (Klett-Cotta) 2018.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Lizzie O’Shea ist Anwältin und Autorin von „What Ada Lovelace, Tom Paine and the Paris Commune Can Teach Us About Digital Technology“, London (Verso) 2019. Eine Version dieses Artikels erschien in The Baffler, März 2020.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Lizzie O'Shea