07.05.2020

Marokkanische Trugbilder

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Marokkanische Trugbilder

Das autoritäre Entwicklungsmodell von König Mohammed VI. ist am Ende. Der Monarch scheint das inzwischen selbst begriffen zu haben

von Pierre Puchot

Der neue Bahnhof von Casablanca, November 2019 MICHAEL BUNEL/picture alliance
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Wohin steuert Marokko? Diese Frage kann niemand beantworten, nicht einmal König Mohammed VI. „Die Pflicht zur Klarheit und Objektivität gebietet es, die positive Bilanz insoweit zu differenzieren, als das bereits Erreichte noch keine hinreichenden Wirkungen in der Gesamtgesellschaft gezeitigt hat“, erklärte der marokkanische Monarch einen Tag vor dem Fest des Throns am 30. Juli 2019.1 Damit benannte der König ganz offen die Schwächen eines politischen Modells, das ihm genau 20 Jahre zuvor die Übernahme der Macht von seinem Vater Hassan II. ermöglicht hatte.2

Das Modell besteht in einer allmächtigen Monarchie, die voll auf eine ultraliberale Wirtschaftspolitik setzt, indem sie spektakuläre Großprojekte realisiert: eine Hochgeschwindigkeits-Bahntrasse zwischen Casablanca und Tanger (LGV), den Handelshafen Tanger Med mit angeschlossener Freihandels- und Industriezone, das Mohammed-VI.-Theater in Casablanca, neue Autobahnen und vieles mehr.

Diese Großprojekte haben vor allem im Ausland Beifall gefunden. Und sie haben es dem König ermöglicht, seit über zwei Jahrzehnten zu herrschen und dabei ein positives Image zu bewahren. Das verdankt er auch einer unkritischen Berichterstattung der nationalen und internationalen Me­dien, die Marokko immer noch als Erfolgsgeschichte präsentieren: als ein Land, das, ohne über Ölreserven zu verfügen, mit der Organisation von afrikanischen Wirtschaftsgipfeln betraut wird und das problemlos seinen Platz in den globalen Wertschöpfungsketten – etwa der Automobil- oder der Flugzeugindustrie – gefunden hat.3

Allerdings zerrinnen die Trugbilder in Marokko ebenso schnell, wie das Grundwasser versiegt, das durch den Tourismus wie durch die intensive Landwirtschaft abgepumpt wird. Seit aus dem Palast neue Töne kommen, ist statt der notorischen Trickle-down-Theorie, der zufolge der Reichtum von den Eliten schon nach unten durchsickern werde, durchaus Kritik an der Verteilung des Wohlstands zu vernehmen. Der Rechnungshof wie die Zen­tralbank sowie der Wirtschafts-, So­zial- und Umweltrat (Cese) verweisen in ihren jüngsten Berichten warnend auf die strukturellen Probleme des Landes.

Auf den ersten Blick sieht es gar nicht schlecht aus: Für 2020 wurde ein Wirtschaftswachstum (BIP) von 3,5 Prozent prognostiziert4 , die Inflationsrate lag 2019 bei 0,6 Prozent, die Arbeitslosenquote bei 9,2 Prozent und damit etwas niedriger als 2018.5 Ende Oktober posierte Ministerpräsident Saadeddine El-Othmani mit internationalen Gästen vor einer Torte, auf der die Zahl „53“ prangte – zur Feier des Erfolgs, dass Marokko im „Doing business“-Ranking der Weltbank für 2020 gegenüber dem Vorjahr sieben Plätze gutgemacht hat.6

Wenn man sich die wirklich wichtigen Indikatoren anschaut, bietet das Land allerdings ein anderes Bild, denn das Glück, ein Stück vom Kuchen abzubekommen, hat nur eine Minderheit. Das verrät der vom Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) veröffentlichte Index der menschlichen Entwicklung (HDI), der alle wichtigen Faktoren über den Zustand einer Gesellschaft umfasst. Marokko lag 2019 bei der Kategorie „mittlere menschliche Entwicklung“ nur auf Platz 121 und damit weit hinter Algerien (Platz 82) und Tunesien (Platz 97), die beide als Länder „hoher menschlicher Entwicklung“ eingestuft werden. Das ärgert insbesondere die marokkanische Elite, die bei ihren Elogen auf die Errungenschaften des Königreichs gern auf die politischen Auseinandersetzungen in den Nachbarstaaten verweist.

Dass Marokko im HDI-Ranking nur Platz 121 belegt, spiegelt eine brutale Realität wider: „10 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut“, erklärt Taïeb Aisse. Der Experte für ländliche Entwicklung arbeitet auch für die heutige Regierung, die von der gemäßigt islamistischen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD) dominiert wird. Diese Ärmsten der Armen haben keinerlei Einkommen, was Aisse für „sehr gefährlich“ hält. Aber auch die Mittelschicht bekommt zu spüren, dass zwischen dem „Schaufenster“ (wie man in Marokko sagt) und der harten Wirklichkeit eine tiefe Kluft besteht.

Das „Schaufenster“ sieht man vor allem, wenn man im Norden des Landes unterwegs ist: Der 2018 modernisierte Bahnhof Casa Voyageurs in Casablanca bietet dasselbe Bild wie die blitzenden Bahnhöfe in Tanger oder Rabat. Aber der zu drei Vierteln besetzte TGV, der mit über 300 Stundenkilometern die Küste entlangrast, fährt schon nach wenigen Minuten durch eine Zone gestampfter Erde, wo die verstreuten Behausungen aus Hohlblocksteinen, Beton und Wellblechdächern bestehen.

Hier, am Rand von Casablanca, haben die marokkanischen Behörden die alten klassischen Slums abreißen lassen, zum Beispiel Sidi Moumen, wo die Attentäter der Terroranschläge von Casablanca 2003 aufgewachsen sind. Nach und nach wurden die Bewohner an anderen Orten angesiedelt; in großen Wohnanlagen mit fünfstöckigen, eintönigen Gebäuden.

Diese eilends hochgezogenen Trabantenstädte verfügen weder über eine Verkehrsanbindung noch über sonstige Infrastruktur. Sie erinnern an die stadtplanerischen Entscheidungen im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre, von denen sich die französischen Vorstädte nie erholt haben. Auf diese Weise kann man die Armut natürlich nicht beseitigen. Man verschiebt sie lediglich – weg von den Stadtzentren und den ausländischen Touristen.

In Tanger wurde im letzten Jahr die neue Strandpromenade fertiggestellt. Die alten Bistros sind verschwunden. Auch Drogendealer oder Betrunkene sind nicht mehr zu sehen. Nachts hat man von der erleuchteten Kaimauer am Rand der Medina einen einmaligen Blick auf die Bucht von Gibraltar. Doch die Einheimischen haben nichts davon, sie haben andere Sorgen. „Marokko ist ganz einfach“, sagt die 30-jährige Samira T., Lehrerin an einem der städtischen Gymnasien. „Es gibt nichts zu tun, aber überall muss man sich abrackern, selbst um den kleinsten Wisch von den Behörden zu bekommen. Sie behandeln dich wie eine Kakerlake.“ Was die Lehrerin anonym berichtet, wirft ein Licht auf die Rückständigkeit des Landes im Bereich des Bildungswesens, der für den HD-Index der UN eine bedeutende Rolle spielt.

„Ich habe vier Jahre in einem schwierigen Umfeld unterrichtet, in Fnideq. Das ist eine sehr konservative Stadt, aus der viele Männer kamen, die sich dem ‚Islamischen Staat‘ angeschlossen haben“, erzählt Samira. „Als ich nach Tanger versetzt wurde, dachte ich, dass es für mich besser würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Hier fing die Hölle erst richtig an.“

18 Monate lang litt die junge Frau an einer Depression, die mit Psychopharmaka behandelt wurde. Sie erholt sich nur langsam. „Dabei liegt die Schule nicht mal in einem besonders armen Viertel, fast alle Schüler besitzen ein Tablet. Aber im Unterricht ist es unerträglich“, sagt Samira. An diesem Tag muss sie noch eine Französischstunde geben, die Klasse hat 49 Schüler. Sie verdient umgerechnet 520 Euro im Monat. „Ich bin in einem abgelegenen Dorf aufgewachsen, wo es nichts gab. Aber mit dem Besuch der staatlichen Schule hatte man wenigstens eine Chance, dort rauszukommen. Heute ist das Niveau sehr niedrig.“

Eltern, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Die Krise des Bildungswesens ist Stoff vieler marokkanischer und internationaler Studien, zum Beispiel in der Revue internationale d’éducation de Sèvres. Hier heißt es, eine radikale Reform des Bildungssystems sei für Marokko „von vitaler Bedeutung“.8

El-Othmani regte im Dezember 2017, kurz nach seiner Ernennung zum Regierungschef, eine Schocktherapie an: das Ende der kostenlosen weiterführenden Schulen. Von Cese-Präsident Ahmed Réda Chami wird dieser Schritt kritisiert: „Man bittet die Leute zweimal zur Kasse: erstens bei den Steuern und zweitens, indem man sie in den privaten Bildungssektor drängt“, meint der ehemalige Microsoft-Mitarbeiter, der von 2007 bis 2012 Industrieminister war.

Aber El-Othmani verteidigt seinen Plan und hält sich zugute, dass er an höheren Schulen die Klassenstärke stark verkleinert habe, auf mittlerweile etwas über 40 Schüler. Auch die Armut habe man seit 2004 um die Hälfte reduzieren können. „Mit Marokko geht es voran!“, so El-Othmani. Samira dagegen träumt nur noch davon, das Land zu verlassen. In zwei Jahren hofft sie, in Kanada zu leben, und endlich „in Würde“.

Das zweite Kriterium, das durch den HD-Index erfasst wird, ist die Gesundheitsversorgung. „In Marokko müsste man ein Gesundheitssystem überhaupt erst aufbauen“, sagt Othmane Boumaalif. Der 38-jährige Allgemeinmediziner gehört zur Generation der Aktivisten der Bewegung des „20. Februar“, die 2011 im Gefolge der Aufstände in Tunesien und Ägypten entstand.

Boumaalif leitet den Verein Anfass („Atem“) democratique, der regelmäßig Berichte zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage veröffentlicht. „Es gibt ein strukturelles Problem: Wir haben keine Primärmedizin, also Ärzte, die die Patienten untersuchen und dann entsprechend ihrer Beschwerden weiterleiten“, erklärt Boumaalif. In Marokko gehen die Leute zum Arzt, falls sie innerhalb von sechs Monaten einen Termin bekommen, oder in ein Uni-Klinikum, wenn es das gibt, oder in die Ambulanz. „Es herrscht völliges Chaos; häufig behelfen sich die Leute mit Selbstmedikation.“

Von den brandneuen Krankenhäuser, die mit Hilfe der Golfstaaten errichtet wurden, hält er nichts: „Man baut eine Hand voll sehr gut ausgestatteter Schaufensterkliniken. Aber die kann sich kein Mensch leisten! Und ansonsten bleibt Marokko eine riesige medizinische Wüste, vor allem weil viele praktizierende Ärzte nach Deutschland emigrieren, wo ihr Diplom inzwischen anerkannt wird.“

Wie erklärt sich diese Diskrepanz zwischen den eher schmeichelhaften makroökonomischen Daten, der protzigen Infrastruktur und der überaus mangelhaften Grundversorgung mit staatlichen Dienstleistungen? „Das politische System missachtet die wirtschaftlichen Erfordernisse“, erklärt der Ökonom Najib Akesbi, der bis vor Kurzem an der Hochschule für Agronomie in Rabat gelehrt hat. Zum Beispiel beschließe die Regierung, neue Autobahnen zu bauen, obwohl gleichzeitig die Landstraßen und Pisten zwischen den Dörfern überall kaputt sind. So sei etwa der mautpflichtige Autobahnabschnitt zwischen Fes und Oujda nur zu 10 Prozent ausgelastet. „Solche Investitionen gehen an den Bedürfnissen der Bevölkerung völlig vorbei.“

Der eigentliche Grund für die wirtschaftlichen Ungleichgewichte seien keinesfalls die fehlenden Ressourcen, meint Akesbi: „Wir haben zwar eine gute Investitionsquote9 von rund 32 Prozent. Aber das bringt nicht genug Wachstum und Arbeitsplätze. Noch vor zehn Jahren bedeutete ein Prozentpunkt Wachstum 35 000 Arbeitsplätze, heute sind es 10 000. Und bei den großen Bauprojekten finden die Leute nur befristete Beschäftigung.“ Zudem kämen 70 Prozent aller Investitionen vom Staat. Hier liegt für Akesbi die Hauptschwäche des marokkanischen Entwicklungsmodells.

Eine entscheidende Weichenstellung des marokkanischen Regimes bestand darin, auf die Marktwirtschaft und den Privatsektor zu setzen. Letzterer wurde durch massive Subventionen unterstützt, wobei man dachte, er werde sich irgendwann selbst tragen und dann als Investitionsmotor fungieren.

Diese Erwartung wurde enttäuscht. Im Privatsektor wird nicht nur wenig investiert; er beschäftigt auch nur 10 Prozent der arbeitenden Bevölkerung: 1,2 Millionen von 12 Millionen (bei einer Gesamtbevölkerung von 36,6 Millionen). Unter den 12 Millionen Beschäftigen gibt es zudem 2 Mil­lionen „Geisterarbeiter“, die gar kein Gehalt beziehen, zum Beispiel mitarbeitende Familienangehörige in der Landwirtschaft oder im Handwerk.

„Wir haben es nicht geschafft, das erhoffte Wachstum von 6 bis 7 Prozent zu erreichen“, sagt Cese-Präsident Chami. „Wir brauchen ein nachhaltigeres Wachstum, an dem mehr Leute teilhaben.“ Man habe zu wenig in die verarbeitende Industrie und zu viel in die Infrastruktur investierte, und das vornehmlich im Norden des Landes, auf Kosten des Südens. Statt sich für die TGV-Trasse zwischen Tanger und Casablanca zu verschulden, parallel zu einer bestehenden Bahnstrecke, hätte man in eine Zuganbindung für Agadir investieren sollen. Diese Stadt ist einer der wichtigsten Badeorte Marokkos und liegt auf dem Weg in den Süden des Landes.

Das Argument beschäftigt auch den Ministerpräsidenten, der selbst aus der Region Souss im Südwesten stammt: „Als ich mein Amt angetreten habe, war diese Entscheidung bereits getroffen. Ich habe damit also nichts zu tun. Ich sage: Lasst uns den TGV behalten und versuchen, die Bahnlinie nach Agadir zu bauen.“

Viele sind da anderer Ansicht: „Der TGV ist für das Land eine Katastrophe“, meint Akesbi. Der Ökonom verweist darauf, dass die Tickets für den Hochgeschwindigkeitszug eigentlich 80 bis 120 Euro kosten müssten. Für die marokkanische Mittelschicht war das allerdings viel zu teuer. Also subventioniert der Staat die Fahrkarten, sodass man für weniger als 25 Euro von Tanger nach Casablanca fahren kann.

„Die staatliche Bahngesellschaft ONCF (Office nationale des chemins de fer) macht also ein entsprechendes Defizit, wofür der Steuerzahler aufkommen muss“, erklärt Akesbi. „Was wir beim Ticketpreis sparen, müssen wir bei der Steuer draufzahlen.“

Der Djamaa-el-Fna-Platz10 ist das Zentrum der Touristenhochburg Marrakesch. Ein riesiges Plakat zu Ehren des Königs feiert „zwanzig Jahre Errungenschaften“ und „wirtschaftliche Entwicklung“. Nicht einmal 300 Kilometer entfernt bezeugen die kaputten Gehsteige in der 400 000-Einwohner-Stadt Agadir, dass diese „Entwicklung“ nicht allen zugutekommt.

Mit seinen versifften Wänden macht der Busbahnhof, wenn man an den Bahnhof von Marrakesch zurückdenkt, die wirtschaftlichen Prioritäten des Regimes deutlich. Das Stadt­zen­trum verfällt. Reihenweise baufällige Häuser, dazwischen drei Paläste, die an den Glanz früherer Zeiten erinnern. Der Monarch residiert hier allerdings nur sehr selten, er bevorzugt den Norden des Landes – wenn er nicht gerade im Ausland weilt.11

Die einseitigen Entscheidungen des Regimes haben Agadir zur Unterentwicklung verdammt. „Früher war uns Marrakesch gar nicht weit voraus, aber heute ist das eine andere Welt“, sagt ein 37-jähriger Geschäftsmann, der Plakatwerbeflächen vermietet. Obwohl er McDonald’s zu seinen Kunden zählt, ist sein Umsatz von 2012 bis 2019 von umgerechnet 100 000 auf 40 000 Euro geschrumpft. „Agadir hat mittlerweile nur noch 4 Prozent Anteil am Werbemarkt, Marrakesch hat 12 Prozent. Wie soll man da noch Kunden anlocken?“

Der pensionierte Lehrer Mohammed Jaouhair, der zwischen Agadir und Sidi Ifni pendelt, braucht dafür mit dem Auto anderthalb Stunden. Er arbeitet für das Netzwerk Akal („Erde“ in der Berbersprache Tamazigh), das sich für die Anerkennung der Amazigh-Gemeinschaft im Süden Marokkos einsetzt. „Kürzlich hat mich auf dem Land ein Skorpion gestochen“, erzählt er und zeigt uns das schwarz behaarte Insekt als Handyfoto. „Weil ich nicht mit einen Termin beim Arzt rechnen konnte, bin ich in die Ambulanz gefahren. Dort haben sie mir gesagt, dass sie nichts für mich tun könnten! Ich habe 24 Stunden dort gelegen und gewartet, dass es vorbeigeht. Ich hatte große Angst.“

Anfang November 2019 hat König Mohammed VI. dann doch ein „ernsthaftes Nachdenken“ über die Bahnverbindung zwischen Marrakesch und Agadir gefordert.12 Aber die Probleme Marokkos haben nicht nur mit dem Palast und seinen problematischen Entscheidungen zu tun, sie resultieren aus strukturellen Defekten, die für eine Rentier-Ökonomie mit zahlreichen Monopolen typisch sind. Ein System, das schon zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft existierte und in der Monarchie fortbestanden hat.

Die Folgen beschreibt der Ökonom Akesbi: „Die Rente, das heißt eine Entlohnung ohne Arbeit oder Erzeugung von Mehrwert, korrumpiert die wirtschaftlichen Aktivitäten.“ Als Beispiel nennt er den Personentransport: „Wer ein Unternehmen in diesem Sektor aufbauen will, kann das nicht einfach so. Denn dafür braucht man ein agrément, also eine Genehmigung der Behörden. Und die bekommt man nicht für eine gute Geschäftsidee, sondern aufgrund guter Beziehungen.“ Das gilt für alle Bereiche, bis hin zur Nutzung der natürlichen Ressourcen: Trinkwasser, die Wälder, Sand, all das hängt von Genehmigungen ab.

Eine Steuerreform lehnt der Palast ab

Der König hat großen Einfluss auf die Wirtschaft13 und ist in vielen ökonomischen Bereichen selbst aktiv – auch im sehr profitablen Bankensektor. Damit das so bleibt, macht Mohammed VI. scheinbar Konzessionen und unterstützt mittlerweile sogar die Idee eines „neuen Entwicklungsmodells“. Dabei handelt es sich vor allem um ein Projekt „philosophischer Art“, erklärt uns der Ministerpräsident. Was heißt das? Die Umrisse sind bis heute nicht sichtbar, obwohl der Monarch im Dezember 2019 eine 35-köpfige Kommission berufen hat, die bis zum kommenden Juni einen Bericht erstellen soll.

Und daraus werden neue Gesetzesinitiativen entspringen? „Sicher doch“, sagt der Ministerpräsident. Um in welche Bereiche zu investieren? Das bleibt ein Geheimnis. „In die öffentlichen Dienstleistungen“, hofft Cese-Präsident Chami.

Allerdings müssen diese Programme auch bezahlt werden. Im marokkanischen Haushalt für 2020 sind umgerechnet 7,32 Milliarden Euro für die innere Sicherheit vorgesehen. Höher ist nur der Haushaltstitel für die Schuldentilgung, der sich 2020 auf umgerechnet 9,17 Milliarden Euro belaufen soll.14 Was die Einnahmenseite betrifft, so plagt sich Marokko nach wie vor mit einem „ungerechten und ineffizienten“ Steuersystem, wie auf einer Konferenz zur Steuergerechtigkeit im Mai 2019 in Skhirat moniert wurde. Aber eine wirkliche Steuerreform wird bis heute vom Palast abgelehnt.

„Von einem neuen Entwicklungsmodell zu sprechen, ohne das Regierungssystem zu ändern, ist verlorene Zeit“, sagt der Mediziner Boumaalif. „Wir müssen einen neuen Sozialvertrag anstreben, eine parlamentarische Monarchie. Die Art und Weise des Regierens ist Sache des marokkanischen Volks. Solche Forderungen stoßen im Palast immer noch auf taube Ohren. Das dreifache Dilemma – auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene – versucht das Regime offenbar nach dem algerischen Rezept anzugehen: mit einer Mischung aus Repression und oligarchischer Kooptation.

Der Fall der Journalistin Hajar Raissouni, die wegen „illegaler Abtreibung“ und „außerehelicher sexueller Kontakte“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und dann vom Palast begnadigt wurde, sorgte international für große Aufmerksamkeit. Der Fall wirft auch ein Licht auf das Hexenjagdklima, das sich im Königreich ausbreitet und das vor allem Aktivisten der Hirak-Bewegung im Rif zu spüren bekommen.15

Seit die Proteste Ende Mai 2017 begonnen haben, wurden hunderte Demonstranten verurteilt, einige davon zu 20 Jahren Gefängnis. Ende 2019 waren immer noch 55 von ihnen in Haft. Und Anfang Februar dieses Jahres traten mehrere Gefangene in einen Hungerstreik, um gegen die Haftumstände zu protestieren.

„Und weshalb sitzen diese Leute im Knast? Weil sie gewaltlos für sauberes Trinkwasser, Strom und öffentliche Dienstleitungen demonstriert haben!“, sagt Amina Khalid, Koordinatorin der Hilfe für die Familien von inhaftierten Mitgliedern der Hirak-Bewegung, die der Union socialiste des forces populaires (Sozialistische Union der Volkskräfte, USFP) angehört. „Es erinnert mich an die Jahre unter Hassan II. Die Repression ist wieder Teil der staatlichen Politik in Marokko.“

In der marokkanischen Bevölkerung ist die wachsende Ungeduld zu spüren: Am 23. Februar demons­trierten tausende Menschen in den Straßen von Casablanca gegen den Kaufkraftverfall, gegen die Korruption und gegen die Missachtung der Menschenrechte. „In Marokko sind die Leute dermaßen niedergeschlagen, dass sie an nichts mehr glauben“, sagt Amina Khalid. „Sie haben keine Hoffnung mehr. Sie warten einfach ab.“

Die Situation in Marokko erinnert an die letzten Jahre der Herrschaft Zine El-Abidine Ben Alis in Tunesien, als das Land von den Trabelsis beherrscht wurde, von der Familie der Präsidentengattin Leila. Steht auch in Marokko das Ende einer Ära bevor? Die Frage wird auch durch das Verhalten des Königs genährt: Mohammed VI. fuhr weder zur Beerdigung von Jacques Chirac – einem Freund seines Vaters – im September 2019 noch einen Monat später zum Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi, wo er durch seinen Regierungschef vertreten wurde.

Was denkt der Monarch wirklich, jenseits seiner Lippenbekenntnisse? Und was tut sich in seiner Umgebung, also in seinem Hofstaat, zu dem etwa 2000 Personen gehören sollen?

Das Schweigen des Monarchen könnte auf einen baldigen großen Wandel hindeuten. Der Journalist Omar Radi, der die Entwicklungen in seinem Heimatland seit Langem verfolgt, beobachtet eine zunehmende Unsicherheit: „Alle Leute, die behaupten, der König sei das Fundament des Landes, gehören zu denen, die noch etwas zu verlieren haben.“

1 „Fête du Trône: discours intégral du roi Mohammed VI“, AtlasInfo, 29. Juli 2019.

2 Siehe Zakya Daoud und Kader Abderrahim, „Der König drängt, die Regierung bremst“, LMd, März 2000.

3 Siehe Jean-Pierre Séréni, „L’économie du Maroc. ‚Bien, mais doit (beaucoup) mieux faire‘“, Orient XXI, 24. Februar 2020.

4 La Vie éco, Casablanca, 28. Januar 2020.

5 Agenc Ecofin, Genf-Youndé, 22. Februar 2020.

6 Doing Business, 24. Oktober 2019.

7 „Human Development Report 2019“, UNPD, Dezember 2019.

8 Rahma Bourqia, „Repenser et refonder l’école au Maroc: la Vision stratégique 2015–2030“, Revue internationale d’éducation de Sèvres, Nr. 71, April 2016.

9 Die Investitionsquote ist das Verhältnis zwischen Investitionen und dem Bruttoinlandsprodukt.

10 Siehe Juan Goytisolo, „Djamaa el-Fna oder Das mündliche Erbe der Menschheit“, LMd, Juni 1997.

11 Siehe Ignacio Cembrero, „Mohammed VI, l’absentéisme déconcertant du roi du Maroc“, Orient XXI, 23. Okober 2017.

12 „Mohammed VI annonce le projet d’une ligne ferroviaire Marrakech-Agadir“, Bladi.net, 7. November 2019.

13 Siehe Pierre Daum, „Marokko in der Hand des Königs“, LMd, Oktober 2016.

14 Mohammed Benmoussa, „Lecture socio-politique et économique de la loi de finances 2020“, Le Desk, 27. Oktober 2019.

15 Siehe Aboubakr Jamaï, „Aufstand in Al-Hoceïma“, LMd, Juli 2017.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Pierre Puchot ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Pierre Puchot