09.04.2020

Das Erbe des philippinischen Dschihad

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Das Erbe des philippinischen Dschihad

In Marawi gibt es noch immer keinen Frieden

von Antoine Hasday und Nicolas Quénel

Marawi nach der Vertreibung des IS, Oktober 2017 BULLIT MARQUEZ/ap
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Zwei Jahre nach der blutigen Schlacht um Marawi sind die Lkws immer noch damit beschäftigt, inmitten einer apokalyptischen Landschaft den Schutt abzutransportieren. Die Einheimischen nennen dieses Gebiet, das bei den Kämpfen besonders stark zerstört wurde, „Ground Zero“. Am 23. Mai 2017 brachten hunderte Kämpfer des Islamischen Staats (IS) die Stadt in ihre Gewalt. Erst nach fünfmonatiger Belagerung und massiven Bombardements gelang es der philippinischen Armee, die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Durch die Kämpfe wurden mehr als 300 000 Menschen vertrieben; 70 000 warten immer noch darauf, dass sie wieder nach Hause können. Die meisten von ihnen leben in Zeltstädten oder, wenn sie Glück haben, in Barackenlagern. Zwar macht die Bevölkerung nach wie vor den IS für die Zerstörung der Stadt verantwortlich, aber das Misstrauen und der Groll gegen die Behörden wächst.

Für diejenigen, die alles verloren haben, ist immer noch schwer vorstellbar, wie die Zukunft aussehen soll. Sie leben in größter Armut, leiden unter der tropischen Hitze, Krankheiten und sintflutartigen Regenfällen. Die Bürokratie ist so schwerfällig, dass Nahrungs- und Arzneimittellieferungen nur mit Verzögerung ankommen – wenn sie unterwegs nicht in dunklen Kanälen verschwinden.

„Ich kann nicht zurück, weil mein Haus beschlagnahmt wurde. Wir sind wütend, aber was können wir machen?“, seufzt die 31-jährige Alaissa. Die junge Frau mit dem Pferdeschwanz, die ein T-Shirt der Los Angeles Lakers trägt, lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in einem Zelt im Flüchtlingslager Sarimanok.

Wenige Tage vor dem zweiten Jahrestag der Befreiung von Marawi, am 23. Oktober, haben die Behörden noch mit einer anderen Gefahr zu kämpfen: Mitten im „Ground Zero“, zwischen halbzerstörten Gebäuden und zerschossenen Moscheen, gehen Minenräumer im Regen ihrer Arbeit nach. „Hier wird man in zehn Jahren noch Bomben finden“, sagt einer. Heute haben sie vor einem zerstörten Gebäude einen 118 Kilogramm schweren Blindgänger freigelegt, der sich fünf Meter tief in den Boden gebohrt hat. Etwas später wird er vor der versammelten Presse vernichtet – so geht Kommunikationspflege.

Abdul Hamidullah Atar, dem Sultan von Marawi, ist nicht nach Feierlichkeiten zumute: „Sie reden von Befreiung, aber was soll das für eine Befreiung sein?“, wettert er. „Von einer Befreiung erwarte ich Freiheit, das Recht auf Information und Gerechtigkeit. Aber wo ist die Gerechtigkeit, wenn man 7000 Häuser und 27 Moscheen zerstört und Hunderttausenden alles nimmt, was sie haben?“

Nach offiziellen Angaben wurden in den fünf Monaten der Belagerung 920 Dschihadisten, 168 Armeeangehörige und 47 Zivilisten getötet. Aber Sultan Atar traut den Zahlen nicht. Er ist überzeugt, dass die meisten Opfer Zivilisten waren. Es seien nur 300 Dschihadisten umgekommen, weil den meisten vor Ende der Kampfhandlungen die Flucht gelungen sei.

Nur wenige Kilometer vor den Toren der Stadt wurde auf einer Brache ein provisorischer Friedhof angelegt. Über 200 nicht identifizierte Leichen wurden auf der schon wieder überwucherten Parzelle beigesetzt. Die meisten Grabinschriften hat der Regen bereits weggewaschen. Lediglich eine steinerne Stele trotzt der Witterung und gibt Auskunft: „Hier ruhen die Gefallenen der Schlacht von Marawi. Wir erinnern uns. Wir werden niemals vergessen!“

Aus der Aufschrift spricht die tiefe Verbitterung eines Teils der Einwohnerschaft. „Wir haben Beweise für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht gesammelt, die während der Kämpfe begangen wurden. Aber wir können die Fälle erst vor Gericht bringen, wenn das Kriegsrecht aufgehoben wird“, erklärt Atar. Erst kürzlich wurde das Kriegsrecht zum dritten Mal in Folge um ein Jahr verlängert.

Seit Langem bilden die Korruption, die durch die Kämpfe noch verschärfte Armut und das historisch gewachsene Misstrauen der muslimischen Bevölkerung gegenüber Manila einen fruchtbaren Nährboden für bewaffnete Gruppen. Die jüngste dieser Gruppierungen ist der lokale IS-Ableger, der aus den Zusammenschluss mehrerer Islamistengruppen oder ihrer radikalsten Splittergruppen entstanden ist. Dazu gehören die Maute-Gruppe, Abu Sayyaf, die Bangsamoro Islamic Freedom Fighters (BIFF) und Ansar Khalifa Philip­pines (AKP).

Ihre Kämpfer leisteten 2014 den Treueeid auf den „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi. Um neue Mitglieder zu rekrutieren, können die Kämpfer auch auf ihre bei der Plünderung von Marawi aufgefüllte Kriegskasse zurückgreifen.

Besiegte Terroristen mit gut gefüllter Kriegskasse

Ernesto1 schloss sich 2011 der Terrorgruppe Abu Sayyaf an. Der schmächtige 30-Jährige beteuert, seine Hauptmotivation sei das Geld gewesen: „Wir bekamen eine Waffe und knapp 50 000 Pesos in die Hand gedrückt“, erklärt er und nestelt nervös an seiner Mütze. 50 000 Pesos sind rund 900 Euro – in Mindanao eine stattliche Summe.

Ernesto kommt vom Land, er hatte keinen Job und sieben Kinder. Er war eine leichte Beute für seinen Anwerber, der genau wusste, wie man sich den in der Bevölkerung weit verbreiteten Groll gegenüber der Zentralregierung zunutze macht: „Er sagte mir, dass wir unsere Wut gegen die Regierung richten müssen, weil sie die Muslime unterdrückt.“

Nach seiner Rekrutierung gehörte Ernesto zur Gruppe von Isnilon Hapilon, der bei Abu Sayyaf als Nummer zwei rangierte und 2014 dem IS die Treue schwor. Er kam in Marawi ums Leben. Zwei Wochen nach Beginn der Kämpfe, „als die ersten Bomben fielen“, floh Ernesto. Er entschied sich, das Lager zu wechseln, und schloss sich der Armee an.

Auch Imelda, die ihr Gesicht unter dem schwarzen Nikab verbirgt, floh aus Marawi. Die 35-jährige Mutter von acht Kindern berichtet, wie sie ihrem Mann zum IS folgte. Auf sein Drängen verließ sie die Stadt, um ihre Familie in Sicherheit zu bringen. Zusammen mit sechs Kämpfern und dem damaligen Emir der Terrororganisation, Owaydah Marohombsar alias Abu Dar, gelang ihr die Flucht. Als ihre Angehörigen sie abwiesen, wusste sie nicht, wohin, und stellte sich den Behörden.

Imelda gibt offen zu, dass sie die Errichtung eines Islamischen Staats unterstützt hat: „Wir kämpften für den Koran, für die Lehre des Propheten“, sagt sie ruhig. Imelda und Ernesto beteuern beide, dass sie ihr Tun bereuen und dem bewaffneten Dschihad abgeschworen haben. Doch ob die „Reuigen“ nicht eines Tages doch wieder zu den Waffen greifen, wird erst die Zukunft zeigen.

Oberst Jose Maria Cuerpo, Kommandeur der 103. Infanteriebrigade, gibt sich gelassen: „Seit wir vor einigen Monaten Emir Abu Dar ausschalten konnten, haben die Islamisten Mühe, Kämpfer zu rekrutieren“, versichert er. Er beteuert, in der Provinz Lanao, zu der auch Marawi gehört, gebe es allenfalls noch „etwa 20 militante Dschihadisten“.

Der unabhängige Forscher Paweł Wójcik ist da anderer Meinung. Nach seiner Einschätzung ist die Organisa­tion nach wie vor aktiv: „Langsam, aber sicher gewinnt sie die Stärke zurück, die sie 2017 hatte. Sie zählt inzwischen wieder mehrere hundert Mitglieder.“ Man braucht tatsächlich nur ein paar SMS verschicken, und schon kommt man an Fotos der Mitglieder von Schläferzellen, die sich sogar direkt in Marawi verschanzt haben sollen. Am 7. Oktober 2019 meldete die Organisation sich zurück und bekannte sich zur Ermordung eines Soldaten am Stadtrand Marawis.

Wenn Oberst Cuerpo zwar von der Anzahl der Kämpfer wenig beunruhigt ist, so warnt er dennoch vor den Fähigkeiten der neuen Rekruten: „Durch die Rückkehrer aus dem syrisch-irakischen Grenzgebiet und den Zustrom ausländischer Kämpfer haben die Dschihadisten ihre Kampftechnik massiv weiterentwickelt.“ Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass sie selbstgebaute Sprengkörper einsetzen und neuerdings Selbstmordanschläge verüben.

Trotz des jahrzehntelangen Konflikts im Süden der Philippinen gab es in dem Inselstaat – anders als im Nachbarland Indonesien – bis 2018 keinen einzigen Selbstmordanschlag. Seither wurden mindestens vier verübt. Den Anfang machte am 31. Juli 2018 ein Marokkaner, der sich Abu Khatir al-Maghribi nannte. Er sprengte sich an einem Kontrollpunkt der Armee in Basilan mit einer Autobombe in die Luft und riss zehn Menschen mit in den Tod, darunter eine Mutter mit ihrem Kind.

Kampferprobte Rückkehrer aus dem Irak und Syrien

Am 27. Januar 2019 verübten mehrere Indonesier einen Anschlag auf die Kathedrale von Jolo; 20 Menschen wurden getötet und 111 weitere verletzt. Sechs Monate später, am 28. Juni 2019, sprengten sich zwei Männer – einer davon Philippiner – in die Luft. Sie hatten versucht, in das Militärlager in Indanan zu gelangen. Mindestens sieben Menschen kamen ums Leben. Am 8. September 2019 schließlich zündete eine Frau an einem Kontrollpunkt ihre Sprengstoffweste. Außer ihr kam niemand ums Leben.

Diese Vorfälle lassen die Aussagen der philippinischen Regierung zweifelhaft erscheinen. Professor Zachary Abu­za vom National War College in Washington ist Experte für aufständische Bewegungen und Terrorismus in Südostasien. Er geht sogar davon aus, dass Mindanao „sich zum bevorzugten Ziel für ausländische Kämpfer in der Re­gion entwickeln wird“. Die Insel war immer schon ein wichtiger Sammelplatz für Dschihadisten, aber das Phänomen könnte sich in dem Maße verstärken, in dem der IS im Irak und in Syrien an Terrain verliert.

„Im Osten der Insel Kalimantan oder der Region Poso [in Indonesien] und Sabah [in Malaysia] gibt es ein fertiges Logistiknetz“, erklärt Zachary Abuza. Gemeint sind die alten „Dschihad-Routen“, die die Mitglieder der Terrororganisation weiterhin nutzen, woran auch die verstärkte Zusammenarbeit der Länder in der Region nichts ändert. 2018 bezifferte der philippinische Politologe Rommel Banlaoi die Zahl der ausländischen Dschihadisten in seinem Land auf rund 100. Die Zahlen wurden von den Behörden dementiert, aber von mehreren Fachleuten als glaubwürdig eingestuft.

„Sie kommen vor allem aus den Nachbarländern, aber auch aus dem Nahen Osten, dem Maghreb oder Europa; Ende September wurde in der Nähe der Stadt General Santos [im Süden von Mindanao] ein Schwede verhaftet“, berichtet der unabhängige Forscher Robert Postings. „Das Problem ist, dass es nicht viele ausländische Kämpfer braucht, um die Gesamtlage vor Ort zu verändern“, erklärt Abuza.

Dieser Meinung ist auch Oberst Cuerpo: Die ausländischen Dschihadisten hätten nicht nur Kenntnisse über den Bau von Sprengladungen, sondern „sie helfen auch mit, einheimische Aktivisten im Häuserkampf auszubilden“. In den kommenden Monaten könnte die Gefahr weiter zunehmen: Im Oktober sollen in Syrien während der türkischen Offensive gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) rund 50  inhaftierte indonesische Kämpfer mitsamt ihren Familien entkommen sein.

Um der Bedrohung zu begegnen, setzt die Regierung in Manila unter anderem auf die wichtigste muslimische Separatistenguerilla in Mindanao: die Islamische Befreiungsfront der Moros (MILF), mit der sie nach jahrzehntelangen Konflikten ein Friedensabkommen geschlossen hat. Vollendet werden soll dieses Abkommen durch die Gründung einer autonomen Region und der Schaffung eines Lokalparlaments 2022, das die Region verwalten und aus der Armut führen soll (siehe nebenstehenden Artikel).

Außerdem sieht das Abkommen vor, dass MILF und Armee in Kampf gegen den IS zusammenarbeiten. In einer Region, in der die Stammeskultur stärker ist als die Achtung vor den Institutionen, ist allerdings schwer vorstellbar, dass MILF-Mitglieder Menschen an die Behörden ausliefern, die zur eigenen Familie gehören oder aus demselben Dorf stammen.

„Dass es durch den Friedensprozesses eine neue Lokalregierung gibt, ist sehr wichtig“, sagt Zia Alonto Adiong von der Übergangsbehörde von Bangsamoro, die für den Aufbau der zukünftigen autonomen Verwaltung zuständig ist. „Sie steht für den Kampf des Moro-Volks für gleiche Rechte und wird verhindern, dass die Extremisten die soziale Ungerechtigkeit instrumentalisieren, wenngleich die Herausforderungen gewaltig sind.“

Doch während die alte Garde der MILF sich für den Friedensprozess einsetzt, ist die junge Generation radikaler und will nicht ausschließen, dass sie den bewaffneten Kampf wieder aufnimmt. „Die Behörden haben eine so­zia­le Katastrophe angerichtet. Wenn Präsident Duterte nichts unternimmt, besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung sich gegen ihn wendet“, warnt Noor Lucman, ehemaliger Vizegouverneur der autonomen Region. Während der Belagerung von Marawi rettete er 70 Menschen – hauptsächlich Christen –, indem er ihnen Unterschlupf gewährte. Sollte seine Befürchtung sich bewahrheiten, kann der IS sich die Hände reiben.

1 Die Personen, die nur mit Vornamen genannt werden, wollten anonym bleiben.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Antoine Hasday und Nicolas Quénel sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Antoine Hasday und Nicolas Quénel