09.04.2020

Autonomie für Bangsamoro

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Autonomie für Bangsamoro

Im Süden der Philippinen haben sich islamistische Milizen und die Regierung nach jahrzehntelangen erbitterten Kämpfen geeinigt. Ob der vereinbarte Status als autonome Region zur Befriedung beiträgt, ist mehr als ungewiss.

von Philippe Revelli

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Vor etwas mehr als einem Jahr votierten die philippinischen Provinzen der autonomen Region im muslimischen Mindanao (ARMM) für die Schaffung der „Autonomen Region Bangsamoro“. Hunderte von Lehrkräften aller Konfessionen und jeder politischen Couleur ließen sich von den Anschlagsdrohungen radikaler Islamisten nicht einschüchtern und sorgten dafür, dass am 21. Januar die Wahllokale in den Schulen ihre Pforten öffnen konnten. Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 87,8 Prozent (das entspricht etwa 1,7 Millionen Stimmberechtigten) stimmte eine überwältigende Mehrheit von 88,57 Prozent mit Ja.1 Das Ergebnis wurde ausgelassen gefeiert. „Bangsamoro = Frieden“ hieß es auf diversen Spruchbändern.

Mit der Autonomie nimmt das 2014 unterzeichnete Friedensabkommen zwischen der Regierung von Benigno Aquino III. (2010–2016) und den Rebellen der Islamischen Befreiungsfront der Moros (MILF) konkrete Formen an. Und sie markiert das offizielle Ende des seit über 40 Jahren andauernden Konflikts, durch den 160 000 Menschen ums Leben kamen und mehrere Mil­lio­nen vertrieben wurden.

Die neu geschaffene Verwaltungseinheit umfasst fünf Provinzen: Maguindanao und Lanao del Sur im mittleren Teil der Insel Mindanao (dazu einige Gebiete in der Grenzregion Nord-Cotabato) sowie die Inseln Basilan, Sulu und Tawi-Tawi. Anders als die bisherige autonome Region soll das neue Bangsamoro ab 2022 von einem gewählten Parlament regiert werden, das mit mehr Befugnissen ausgestattet wird und auch eine stärkere Kontrolle über die Bodenschätze hat. Bis dahin regieren eine von Manila ernannte Interimsregierung und ein Übergangsparlament.

Die neue autonome Region hat allerdings weder einen großen Hafen noch Industrie und auch keinen nennenswerten Dienstleistungssektor; der Bergbau beschränkt sich auf die Nickelvorkommen auf Tawi-Tawi. Und der Tourismus ist aufgrund des bewaffneten Konflikts inexistent.

Die Mehrheit der Bewohner von Bangsamoro, die 3,5 Prozent der philippinischen Gesamtbevölkerung ausmachen, wohnt auf dem Land. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) lebt unterhalb der Armutsgrenze.2 Für das Wirtschaftsleben der Philippinen spielt die Region somit keine große Rolle, und die Gewährung der Autonomie ist alles andere als ein politisches Erdbeben. Für Präsident Rodrigo Duterte, dessen internationaler Ruf fast nur mit seinem mörderischen „Krieg gegen die Drogen“ in Verbindung gebracht wird, ist sie jedoch ein großer Erfolg.

Selbst die gestandene Oppositionelle Janel Pesons räumt ein: „Die Autonomie für Bangsamoro war ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zum Frieden.“ Sie steht an der Spitze des Mindanao People’s Peace Movement (MPPM), eines Zusammenschlusses verschiedener lokaler und regionaler Vereine, die sich für ein friedliches Zusammenleben der muslimischen, indigenen und christlichen Bevölkerungsgruppen der großen Südinsel starkmachen. Vor dem Referendum machte sie Werbung für das Ja-Lager. „Der Autonomiestatus ist aber natürlich kein Allheilmittel“, sagt Pesons. „Das haben schon die Erfahrungen mit der bisherigen autonomen Region gezeigt.“

Nur Misuari, der einst die Nationale Befreiungsfront der Moros (MNLF) anführte und später einen Friedensvertrag mit der Regierung unter General Fidel Ramos (1992–1998) schloss, wurde 1997 der erste Gouverneur der autonomen Region. Doch schon nach wenigen Jahren wurde die von Korruption geplagte Region von den regionalen Clans geschröpft, die mit Politikern in Manila aushandelten, wen sie unterstützten und wer die von ihnen kontrollierten Wählerstimmen bekam.

Gegen den landesweiten Trend ging die Armut nicht zurück, sondern nahm immer weiter zu. Die MILF, die beim Friedensabkommen außen vor geblieben war, griff wieder zu den Waffen. Ihr Anführer Murad Ebrahim steht heute an der Spitze der Übergangsregierung. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass sich viele an die Erfahrung vom Ende der 1990er Jahre erinnert fühlen. Und es stellt sich fast zwangsläufig die Frage, ob die neuen gesetzlichen Bestimmungen ausreichen werden, um den am stärksten Benachteiligten Gehör zu verschaffen; ob der wirtschaftspolitische Kurs der Moro-Eliten zu weniger Armut und Ungleichheit führt; und ob die Gewalt, die in der Region weiterhin grassiert, wirklich zurückgeht.

„Wir müssen unser Volk einbeziehen, wenn es darum geht, die Aktivitäten unserer Verwaltung, ihre Erfolge und Schwächen zu beurteilen“, erklärte Ebrahim bei seiner Amtsantritt als Chef der Übergangsregierung.3 „Die Menschen einbeziehen – das ist genau das, was wir fordern“, sagt Alim Bandara. Aber er bleibt skeptisch. Als Präsident des Zentrums für die Entwicklung der indigenen Bevölkerung (Cidev) kämpfte er dafür, dass die Rechte der Indigenen in Bangsamoro grundrechtlich verankert werden und sie in den repräsentativen Instanzen der autonomen Region vertreten sind.

Bereits im Jahr 1997 wurde der Indigenous People Rights Act verabschiedet, der den Anspruch der indigenen Bevölkerung auf ihre angestammten Gebiete und ihr Recht auf kulturelle Integrität, Selbstverwaltung und soziale Gerechtigkeit festschreibt. Mit der Neugründung von Bangsamoro wurden diese Rechte nun in das Gesetzeswerk der Region integriert. Zudem sind im Übergangsparlament zwei Sitze für die Indigenen reserviert. Diese beiden Zugeständnisse waren ausschlaggebend für das Ja der indigenen Wählerinnen und Wähler beim Referendum im Januar 2019.

Die Frage der Repräsentation der indigenen Bevölkerung im neu geschaffenen Verwaltungsgebilde beschäftigte auch die Vertreter der verschiedenen Stämme, die das Cidev im Juli 2019 zu einer Versammlung in die Stadt Upi (Provinz Maguindanao) geladen hatte. Dem Ehrengast Romeo Saliga, einer der beiden indigenen Abgeordneten im Übergangsparlament, wurden dort immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie kann es sein, dass die indigenen Vertreter auf Kommunal- und Dorfebene von oben ernannt und die betroffenen Gemeinden vorher nicht gefragt wurden?“ Darauf wusste auch der sichtlich verlegene Saliga keine Antwort. Immerhin versprach er, die Anliegen seiner Gesprächspartner nach oben weiterzuleiten.

Präsident Dutertes langer Arm

Ob solche Anliegen auf offene Ohren stoßen, ist jedoch fraglich: In dem (von Präsident Duterte ernannten) Übergangsparlament gingen 40 Sitze an die MILF, 20 an Vertreter der Zentralregierung und 9 an die MNLF; 8 Sitze sind für Frauen, junge Menschen und nicht zu den Moros gehörende indigene Minderheiten reserviert; die Opposition ging leer aus. Die Posten der Provinzgouverneure und Magistrate sind meist fest in der Hand der Familienclans und ihrer Getreuen. Diese Lokalpotentaten, die oftmals regelrechte Privatarmeen unterhalten, schmieden über ideologische und religiöse Grenzen hinweg wechselnde Allianzen und bekämpfen sich mitunter bis aufs Blut.

Durch die Zwischenwahlen auf nationaler Ebene zur Hälfte der Amtszeit am 13. Mai 2019, bei denen das Lager des Präsidenten einen Erdrutschsieg einfuhr,4 wurde die Vormachtstellung des Bündnisses aus MILF und regierungsnahen Kräften – zwei ehemals verfeindete und inzwischen verbündete Lager – weiter gestärkt: Fast überall in der autonomen Region wurden die von Duterte nominierten Kandidaten zu Gouverneuren und Bürgermeistern gewählt. Das alles macht wenig Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel der Machtverhältnisse in Bangsamoro.

Auch wirtschaftspolitisch ist keine Wende in Sicht. Im Gegenteil: Die Verlautbarungen der Moro-Wirtschaftsvertreter und -Politiker lassen vermuten, dass Bangsamoro sich keinesfalls von Manilas neoliberalem Kurs distanzieren wird. Vielmehr setzt man offenbar auf ein schnelles Wirtschaftswachstum und will dem ausländischen Kapital den roten Teppich ausrollen.

„Die Gründung der neuen Region Bangsamoro, die die Voraussetzungen dafür schaffen soll, dass in Mindanao wieder Frieden und Ordnung einkehren, stößt bei arabischen Investoren auf großes Interesse“, erklärt John Carlo Tria, Präsident der Industrie- und Handelskammer von Davao.5 Sandra Sema, die für den ersten Distrikt der Provinz Maguindanao im Übergangsparlament sitzt, warb bereits im saudischen Dschidda für die Einrichtung einer „Halal-Sonderwirtschaftszone“ in der Stadt Cotabato.6

Der Politiker Zajid Mangudadatu, ein Vertrauter von Präsident Duterte und Mitglied eines der mächtigsten Clans auf Mindanao, will die Exploration der Gasvorkommen unter dem Ligawasan – einem der größten Feuchtgebiete der Philippinen – chinesischen, israelischen oder nahöstlichen Unternehmen anvertrauen.7 Diesem Wunsch schloss sich auch MILF-Chef Ebrahim an: Nach ein paar Lippenbekenntnissen zum Umweltschutz und zu den Interessen der einheimischen Bevölkerung ermunterte er die Bergbauunternehmen, zu investieren.8

Fragwürdig sind auch die potenziellen Auswirkungen des gigantischen Infrastrukturprogramms namens „Build, Build, Build“, eines der Lieblingsprojekte von Präsident Duterte, das weitgehend auf chinesisches Kapital setzt und auch die autonome Region betrifft. Im Rahmen dieses Programms soll vor allem das Bangsamoro Road Network Development Project realisiert werden, das den Bau oder den Ausbau eines insgesamt 200 Kilometer langen Straßen- und Brückennetzes vorsieht, um die Region mit den anderen Teilen von Mindanao zu verbinden. Ob es das ist, was die vom Staat im Stich gelassenen ländlichen Gemeinschaften brauchen, darf bezweifelt werden.

Die geplanten Verkehrswege dienen indes als Argument, um Investoren anzulocken; und sie werden dafür sorgen, dass Agrobusiness, Forstindustrie und Bergbauunternehmen der Zugang erleichtert wird. Alim Bandara vom Cidev macht sich keine Illusionen: „Die Vergabe von Bergbaulizenzen oder der Ausbau der Monokulturen für den Export wird unseren angestammten Gebieten und den vielen Kleinbauern schaden – ganz gleich welcher Religion sie angehören. Und es wird die Rivalitäten um das Land wieder anfachen, die damals der Auslöser für die bewaffneten Kämpfe in Mindanao waren.“

Ende Mai 2017 gelang es einem Kommando der Terrorgruppe Maute mit Unterstützung von IS-treuen Abu-Sayyaf-Kämpfern die Stadt Marawi unter seine Kontrolle zu bringen (siehe nebenstehenden Text). Im Oktober 2017 erlangte die Armee die Kontrolle über die Stadt zurück. Die zaghafte Entwaffnung der MILF-Kämpfer, mit der im September 2019 begonnen wurde, und die Aufhebung des bis Ende Dezember herrschenden Kriegsrechts wird sicher nicht ausreichen, um diesen Konflikt ein für alle Mal zu beenden.

Seither befinden sich die islamistischen Gruppen im Wartestand und ziehen alle Register, wenn es darum geht, sich den Frust der ehemaligen MILF-Kämpfer oder der nie vollständig entwaffneten MNLF zunutze zu machen. Und sie profitieren von einer Reihe weiterer Faktoren: dem weit verbreiteten Unverständnis über die Annäherung der MILF an Manila, den unzähligen Pannen und Verzögerungen beim Wiederaufbau von Marawi, den Landkonflikten, der Vernachlässigung der ländlichen Gemeinschaften und der Verunsicherung der jungen Menschen ohne Zukunftsperspektive.

„Wenn die neue Verwaltung ihre Versprechen nicht einlöst und nichts gegen die tieferen Ursachen des bewaffneten Konflikts unternimmt – vor allem gegen die Armut und die Schwierigkeiten beim Zugang zu Grund und Boden –, dann wird die Enttäuschung genauso gewaltig sein wie die Hoffnungen, die der Ausgang des Referendums geweckt hat“, meint Janel Pesons. „Und diese Enttäuschung wird den Dschihadisten in die Hände spielen.“

1 Lediglich in der Provinz Sulu, einer Hochburg der Dschihadistengruppe Abu Sayyaf, stimmten 54,3 Prozent mit Nein.

2 Siehe Jodesz Gavilan, „Fast facts: Poverty in Mindanao“, Rappler, Manila, 28. Mai 2017, www.rappler.com.

3 Carolyn O. Arguillas, „BARMM Chief Minister to constituents: monitor performance of officials“, Minda News, 1. April 2019, www.mindanews.com.

4 Im Senat gingen von 12 Sitzen 8 an erklärte Duterte-Anhänger und 4 an „unabhängige Persönlichkeiten“. Die Opposition wurde nicht berücksichtigt. Im Repräsentantenhaus ging eine überwältigende Mehrheit der 303 Sitze an die Partei des Präsidenten (PDP-Laban); die Liberale Partei des früheren Präsidenten Benigno Aquino III. konnte sich lediglich 18 Sitze sichern, das kommunistisch orientierte Linksbündnis Makabayan 6 Sitze.

5 „Davao Chamber VP: Bangsamoro sparks interest of Arab investors in Mindanao“, Minda News, 10. April 2019.

6 „Maguindanao solon goes to Saudi on 2-day investment mission“, Manila Standard, 5. Februar 2019.

7 „Senate bet wants China, Israel to explore Liguasan Marsh oil deposits“, ABS-CBN News, 13. März 2019, www./news.abs-cbn.com.

8 „Murad encourages ‚pro-people, pro-environment‘ mining in Bangsamoro“, Rappler, 9. August 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Philippe Revelli ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Philippe Revelli